Vagabundierendes Denken in einer schraubenförmigen Welt

Ein Essay, der Mut machen soll, sich den vermeintlichen, immer aber vermeidbaren Absurditäten dieser Welt zu stellen


Essay, 2013

39 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Il faut imaginer Sisyphe heureux (Mitspieler: Albert Camus)

2. Abfahrt Wolfsburg oder Die Suche nach dem Ornament (3. August 2012)

3. "...inEwigkeitimmerverruckt..." PauvreLenz I (5.August2012)

4. Sartres "Ekel" und sein reales Pendant oder Auf dem Kreuzberg (6. August 2012)

5. Der asthetische Zugriff auf den Grund oder Balzac in der Knesebeck (7. August 2012) (Mitspieler Immanuel Kant und Friedrich Schiller)

6. Asthetik und Gewalt oder Der ausgestreckte Zeigefinger (8. August 2012) (Mitspieler : Kirsten Heisig, Johan Galtung und Hermann Hesse)

7. Pauvre Lenz heureux II ... eine Lust, die wehe tut... (9. August 2012)

8. Das wirkliche Geheimnis der Existenz (10. August 2012) (Mitspieler: Jean-Paul-Sartre)

9. Uber Selbstsorge und Lebenskunst (11. August 2012) (Mitspieler : Friedrich Schiller und Michel Foucault)

10. Die Tage des Glucks sind in der Weltgeschichte leere Blatter (frei nach Hegel)

11. Uber Eigensinn, subtile Subversion und die Arbeit am unendlichen Text (14. August 2012) (Mitspieler : Hermann Hesse und Roland Barthes)

12. Pauvre Lenz heureux III: Der gerade Blick in einer schraubenformigen Welt (16. August 2012) (Mitspieler : die ublichen Verdachtigen, Ernst Bloch)

13. Epilog : Prazise Torheit gegen Die Be-Deutung des Ornaments (17. August 2012) (Mitspieler : Georg Kolbe, Francis Goya, Karl Friedrich Schinkel und Johann Gottlieb Fichte)

Anmerkungen

Literatur

1. II faut imaginer Sisyphe heureux

O, mon time, n'aspire a la vie immortelle, mais epuise fe champ du possi6Ce.

!Nicft, [ie6e Seek, Le6en unster6ficfes sucfe; die tunficfe erscfopfe, die %unst.

(Pindar, 3. Pythische Ode / Holderlin)

Neben dem Verdikt, es sei alles 'relativ', hat sich die Floskel 'absurd' im Nest unserer Alltags- phrasen breit gemacht. Nehmen wir ihren Gebrauch nicht nur als Gerede, sondern gehen ihm auf den Grund, so ist die Vermutung nicht abwegig, dass ihre Funktion eine ent-lastende ist. Wird et- was zur Last, sucht man sich dieser zu entziehen, und sei es durch die Anwendung von Allerwelts- Floskeln. Wenn eh alles 'relativ' ist, bin ich der Verantwortung entzogen, verbindlichen Sinn zu suchen. 'Absurd' scheint nichts anderes ausdrucken zu wollen und kommt oft nur als eine inhalt- liche Steigerung daher.

Gehen wir an den lateinischen Ursprung, so bedeutet absurdus 'misstonend, ungereimt', aber auch 'ungeschickt, unbrauchbar'. Und wenn wir diese Bedeutungen verstehen wollen, tun wir gut daran, Autoritaten zu befragen, die sich mit diesen Bedeutungen auseinandergesetzt haben. Eine solche Autoritat ist der franzosische Philosoph Albert Camus, der die landlaufige Zuordnung zur Gilde der Existentialisten fur seine Person immer abgelehnt hat. Seinem Mythos des Sisyphos hat er den Untertitel Ein Versuch uber das Absurde gegeben.

Ausgehend von erkenntnistheoretischen Uberlegungen skeptischer Ausrichtung, untersucht er die Frage nach der Sicherheit dessen, was wir wahr-nehmen. Ironie ist im Spiel, wenn er nach- weist, wie wenig alle vorgenommenen Klassifikationen hinreichen, und wenn er schliefilich bei der Wissenschaft von den kleinsten Teilchen angelangt ist, merkt er an, dass man auf deren Ge- biet dabei sei, ihm die nicht mehr sichtbare Welt mit einem Bilde zu erklaren : Jetzt merke ich, dass wir bei der Poesie gelandet sind: nie werde ich wirklich etwas wissen. Habe ich etwa Zeit, daruber entrustet zu sein ? Man ist schon wieder bei einer anderen Theorie. So lauft diese Wis­senschaft, die mich alles lehren sollte, schliefilich aufeine Hypothese hinaus, die Klarheit taucht in einer Metapher unter, die Ungewissheit stellt sich als ein Kunstwerk heraus. Hatte ich so viele Anstrengungen notig ? Die sanften Linien dieser Hugel und die Hand des Abends auf meinem erregten Herzen lehren mich viel mehr. (Les lignes douces de ces collines et la main du soir sur ce coeur agite m'en apprennent bienplus.) Ich bin wieder beim Ausgangspunkt angelangt}1

Wer, wie der gemeine Menschenverstand, diese Ent-Tauschung nur als Destruktion vorheri- ger Hoffnungen und nicht in ihren konstruktiven Aspekten auffassen kann, wird vorschnell von 'unbrauchbar' und 'misstonend' reden und damit zu der Fest-Stellung 'absurd' kommen. Solange er dabei nicht zu der Behauptung greift, die Welt an sich sei absurd, so lange liegt er noch gar nicht einmal falsch; aber er blickt nicht tief genug in das Geheimnis der Absurditat. Diese Welt, so Camus, ist nicht absurd, sondern sie entspricht nur nicht dem, was unsere Vernunft zu er- grunden versucht. Sie ist schlicht und ergreifend nicht 'vernunftig' - das ist alles, was wir sagen konnen. 'Absurd' aber ist das Missverhaltnis zwischen der uns gegebenen Vernunft und ihrem Anspruch, diese Welt in ihrem Sinn erfassen zu konnen : Absurd aber ist die Gegenuberstellung des Irrationalen und des gluhenden Verlangens nach Klarheit, das im tiefsten Innern des Men- schen laut wird.

Und hier, genau an dieser Stelle der Einsicht, erwachst des Philosophen Aufgabe, seinem Na- men gerecht zu werden; man hat ihn schliefilich einen 'Freund der Weisheit' genannt, und diese Weisheit ist nun gefordert. Sie hat vorschnelle Antworten abzuweisen und ihre Begrenztheit zu erkennen, sie hat sich aber auch - wohl wissend, ihn nie zu erreichen - auf die Suche nach dem Sinn zu begeben.

Was auch immer unter dem 'Sinn' zu verstehen ist - es gibt Begriffe (’Absolutes') und Bilder ('Einheit'), die uns auf dieser Suche begleiten konnen. Dieses Heimweh nach der Einheit, dieses Verlangen nach dem Absoluten, enthullt das wesentliche Agens des menschlichen Dramas. Prototypischer Held dieses Dramas ist Sisyphos, den die Gotter zu nie endender Fronarbeit ver- urteilt haben. Er hat einen Felsblock einen steilen Berg hinaufzurollen, welcher Block kurz vor dem Ziel immer wieder ins Tal zuruckdonnert. Geht nun Sisyphos, um das vorgeblich sinnlose Unterfangen zu wiederholen, seinerseits ins Tal hinunter, schlagt die Stunde der Arbeit seines Bewusstseins : ihm hat er zu verdanken, dass er seinem Schicksal uberlegen ist. Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht uberwunden werden kann.

Wohl verstanden : Konsequenz aus dieser ArtVerstandnis von 'Absurditat' ist nicht ein Sich- ergeben, ein Sich-gehen-lassen, sondern Konsequenz ist die Aufforderung, sich gegen sie aufzu- lehnen, permanent und unnachgiebig an die Arbeit zu gehen. In dieser Arbeit findet das seinen Grund, was wir 'Menschen-Wurde' nennen. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufullen. Wir mussen uns Sisyphos als einen glucklichen Menschen vorstellen.

Mit Hilfe der Autoritat des Albert Camus, des liebe-vollen Humanisten, ist der erste Schritt auf dem uns gemafien Weg getan. Der Terminus 'gemafi' verweist auf das Mafi, unser Mafi. Und wie sieht er aus, dieser Weg ? Steil und anstrengend, wie der Mythos des Sisyphos ausmalt, da- zu nicht geebnet und auch nicht vorgezeichnet, schon gar nicht von linearer Geradlinigkeit, wie die starren Monomanen es gerne sehen wurden. Es gibt Fehltritte, Umwege, die einfach falsche Fahrte sind, und Umwege, die Sinn machen (wie Exkurse, aus denen man bereichert zuruck- kehrt), viel Schlamm und viel harten Boden (beides brauchbar und unbrauchbar zugleich) - kein Umherirren, aber permanente Bewegung, ins Offene hin und doch nicht ohne Ziel. 'Vagabun- dierendes Denken' eben. Ihm wissen sich diese Uberlegungen verpflichtet.

Wichtig ist, dass das Subjekt ganz 'bei der Sache' ist, mit seinem erregten Herzen, das in eigen- standiger Bewegung ist ("rege"), also aktiv und doch passiv zugleich, denn es wird erregt. Wo- von ? Von den sanften Linien dieser Hugel - "sanft" zeigt an,wie das Objekt 'bei dem Subjekt' ist, helfend unterstutzt von der Hand des Abends, die sich beruhigend auf das Herz legt, um es, das in seiner Erregung 'aufier sich' ist, zu heilen. 'Heilen' meint dabei nicht 'zudecken', sondern 'offen-legen' und 'nachhaltig versorgen'. Bin ich, als das Subjekt, bei den Gegen-Standen, den Objekten, wirklich angekommen, dann hat mein Heimweh eine Heimat gefunden. Mit diesem Bild durfen wir vorerst vorlieb nehmen.

Ach, ‘Harry, wirmussen durch so viel Dreck und Unsinn tappen, um nach Hause zu hymmen. Und wir haben niemand, derunsjtihrt, unsereinziger Fuhrerist das Heimweh.

(Hermine zu Harry, in : Hermann Hesse, Der Steppenwolf)

Der Mensch lebt uberall noch in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heifit sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegeben- heiten umbildende und uberholende Mensch. Hat er sich erfafit und das Seine ohne Entaufierung und Entfremdung in realer Demokratie begrundet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war : Heimat.

(Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung)

2. Abfahrt Wolfsburg oder Die Suche nach dem Ornament (3. August 2012)

Wolfsburg lockt mit einer Ausstellung "Ornament. Ausblick auf die Modeme". Von daher gibt die Ausfahrt 'Wolfsburg' nach autobahn-langer Konzentration auf Blech Hoffnung auf Sinn, zumindest, wenn man den Aussagen des Direktors seines Museums, Herrn Prof. Dr. Markus Bruderlin, folgt, der viel-versprechend formuliert: "Wenn manjetzt aus der historischen Distanz heraus das Ornament als eine weit uber das Hinzugefugte, blob Schmuckende hinausreichende Gestaltungskategorie wahrnimmt, so werden auch ihre inhaltlichen Fahigkeiten, die das Mime- tische eben nicht haben kann, deutlich. Denken wir an die Darstellung uberindividueller Zusam- menhange, denken wir an die Sichtbarmachung des Unsichtbaren."2

"Die Sichtbarmachung des Unsichtbaren" - einVorhaben, hier leichtfertig, allzu leichtfertig ausgesprochen, das der Quadratur des Kreises gleichkommt. Die Ausstellung mochte, so der Anspruch, die Linien aufzeigen, die die Ornamentgrafik z.B. Durers mit der Moderne verbindet - und die damit den Bannfluch des Pioniers der modernen Architektur, Adolf Loos, das Ornament sei ein Verbrechen, als fur die Moderne nicht grund-legend erweisen soll.

Wolfsburg, soviel steht fur den die Autobahn Fliehenden fest, ist, stadtebaulich gesehen, ohne jeden Zweifel ein Verbrechen, eine Beleidigung fur die Wahr-Nehmung. Was hatte wohl Loos zu dieser unwirtlichen Retorten-Stadt gesagt ? Mittendrin das Museum, menschenverlassen, riesige Raume, durch die wir unseren Weg suchen zu -ja, zu was ? Zu einem Kabinett von Stichen und Radierungen, die alle -jedes Beispiel fur sich - isoliert und kommentarlos Werke der Ornament- kunst zeigen. Aber wo, so fragen wir uns irritiert, bleibt die zugrunde liegende Idee, die "Zusam- menhange" darstellen, die den Sinn stiften sollte ? Unsere Irritation wird gesteigert durch die Tat- sache, dass der zeitlich angemessene Einstieg in die Ausstellung (Durers "Knoten") erst am Ende zu finden ist - die Einbahn-Strafie (ein anderer Weg ist nicht zugelassen) erweist sich als eine Sack-Gasse.

Der Weg fuhrt also vom Ende her zum Anfang. Das kann Sinn machen; wenn angedacht, so erschliebt er sich uns nicht. Ein Labyrinth beispielsweise, die Linearitat aufhebend und die Orien- tierungslosigkeit des Betrachters offenbarend, kann bestehende Wahrnehmungsmuster, als Muster festgefahren, transzendieren helfen. Werz.B. aus blob rezeptiver Beschaulichkeit gerissen und auf sich selbst verwiesen wird, der wird wesentliche Erfahrungen machen. Hier, da der Weg, offen- sichtlich gewollt, eindimensional bleibt, wird das eingeubte Erfahrungsmuster nicht verlassen.

Was unterscheidet eine 'Ausstellung' von einer bloben Ansammlung von Kunstwerken in einem Museum ? Die sinnstiftende Idee naturlich, die 'dahinter' steht und die ’sichtbar’ gemacht werden soll. Wie aber mache ich eine 'Idee', die unsichtbar ist, sichtbar ? Und zwar fur den inter- essierten Laien, nicht fur den ohnehin schon durch-blickenden Experten (der keiner Aus-Stellung mehr bedarf) ? Wer eine Idee vermitteln will, muss als Ver-mitt-ler auftreten. Das kann (nicht gerade einfallsreich und etwas oberlehrerhaft) inhaltlich durch Erklarungen geschehen, die der, der etwas zu sagen zu haben meint, in der Weise komplementarer Kommunikation an den Emp- fanger weitergibt; das kann, methodisch-didaktisch anspruchsvoller und damit in der Regel wirk- samer, durch eine solche Anordnung der Exponate geschehen, die dem Betrachter Anreize setzt zu einer eigenstandigen Auseinandersetzung, indem seine Frage-Haltung geweckt wird. Hier : nichts davon.

Unsere Flucht ins Cafe in der Fubgangerzone - weniger Beton, mehr Plastik, aber kunstlich alles. Der Kaffee wenigstens ist echt und tut gut. "Und wo war das Beispiel der Moderne ?" fragst du mit Recht - ja, wo war es, das Sinn gebracht hatte in diese Ausstellung, die fruhneuzeitliche Ornamente in eine verwandtschaftliche Verbindung mit der Moderne bringen sollte ? Hat man es vergessen ? Alles sinn-entleert, leer schlieblich auch die Kaffeetasse, die uns wieder ausliefert an diese entsetzliche Betonwuste Stadt, so dass man, wieder auf der Autobahn angekommen, fast heimatliche Gefuhle entwickelt. Immerhin geht es nach Berlin. Und wir haben das Lachen und den Humor nicht verloren. Dein trockener Kommentar : "Nicht 'Ausfahrt Wolfsburg', sondern 'Abfahrt Wolfsburg'." Wolfsburg - never more.

3. "...inEwiskeitimmerverruckt..." Pauvre LenzI (5.August2012)

Das Zitat fuhrt in die Irre. Gewiss, am Ende seines Lebens galt Jakob Michael Reinhold Lenz als verruckt 1752 in der Nahe von Riga geboren, Sohn eines strengglaubigen und daher sehr au- toritaren Vaters, der als Pastor tatig ist, Flucht aus dem Elternhaus zum Studium nach Konigs- berg, Kant-Verehrer, mittellos ein Leben lang, ein Underdog, der, um seinen schmalen Lebens- unterhalt zu sichern, sich in Strafiburg als geknechteter Diener zweier Adliger verdingen muss, daselbst Freund von Herder und Goethe, von letzterem, als er ihm Jahre spater nach Weimar folgt, mit Polizeigewalt aus der Stadt gewiesen, er, der einzige Sturmer und Dranger ohne Anfuh- rungszeichen, rastlose Versuche, eine Existenz aufzubauen, gescheitert wie die Versuche, trag- fahige Beziehungen einzugehen, schliefilich verruckt mit der Folge eines gut gemeinten, aber hilf- losen Versuchs einer Heilung bei Pfarrer Oberlin im Elsass, sinnlose Ruckholung ins Elternhaus, letzte Lebensfluchtstationen in St. Petersburg und Moskau, wo er im Mai 1792 auf offener Strafie tot zusammenbricht. "verlebte den besten Teil seines Lebens in nutzloser Geschaftigkeit, ohne eigentliche Bestimmung" - so wird es im Nachruf des Moskauer Pfarrers Jerezembsky lauten.3

"ohne eigentliche Bestimmung" - so urteilen sie, die Bestimmer der burgerlichen Gesellschaft, selbstbezogen und selbstgerecht, und wer sich von ihnen nicht "bestimmen" lasst, ist "nutzlos", ein Taugenichts. Mehr noch, er muss als 'verruckt' abqualifiziert werden. Ist es (diese Frage ist angesichts dieser Ungeheuerlichkeiten berechtigt) nun aber wirklich eine Abqualifizierung, wenn man sich selbst aus dieser burgerlichen Horrorvision von einer Gesellschaft verruckt ? Diese Ge­sellschaft ist so defizitar, dass uber diese Frage nachzudenken reine Zeitverschwendung ist. Er ist immer schon da, der diese Gesellschaft pragende, sog. 'gesunde Menschenverstand', der uberhaupt nicht 'gesund' ist, sondern "trage, leblos, verfettet", wie Bloch in seinem Hegel-Buch betont: "Er kann nichts Lebendiges begreifen, und auf dem Terrain der Verwandlung - es gibt kein anderes - wird er, mit seiner fixierten Plumpheit, bestandig stolpern."4

Nein, wir wollen unseren tauglichen Mitburgern nicht die Ehre zukommen lassen, sie in unse- ren Diskurs aufzunehmen. Es geht, um den Faden aufzugreifen, auch um ein anderes Verrucken. Dazu das ausfuhrliche Lenz-Zitat: Es ist Enunziation (Aussage, Erklarung, Statement), uber wel- che der Verfasser streitet. Bei den Menschen weifi der viel, der sich viel Vorstellungen erwirbt, die in Empfindung oder auch wohl nur in blofies Gefuhl ubergehen, Begierden, Leidenschaften, oder wenn der Geist edler und starker, Entschlusse und Handlungen veranlassen, welche Handlungen oder Wirkungen seines Selbst, er mit den Wirkungen, die sie auf die Rezeptivitat und Wirkungs- kraft anderer haben, also in ihren Folgen ubersieht und daraus Entschlusse zieht, diefreilich nur fur den Kreis von Wirkungen gelten, den ihm seine Erfahrung gezogen hat. Einejedesmalige Er- fahrung kann aber wieder ins Unendliche mit andern eigenen undfremden Erfahrungen vergli- chen, und neue allgemeine Endschlusse daraus gezogen werden, das gibt uns denn all unser Wis- sen in der Welt, unsere Vernunft. Das aber mit alledem wie Sie leicht einsehen werden, nicht un- fehlbar sein kann, da die Grenzsteine unserer Erfahrung und also auch der daraus entstandenen Vernunft nie dieselben bleiben, sondern in Ewigkeit fort immer verruckt werden (Unterstreichung von mir), nur dafi die Erweiterung derselben die vorigen engern Kreise immer mit in sich schliefit, oder unter sich begreift, diese also deswegen durchaus nicht verloren sind. Jede kleine Erfahrung in der Welt sollte uns teurer sein als Gold, sie mag nun in dem Augenblickfur unser Gefuhl ange- nehm oder unangenehm gewest sein. ( aus : Entwurf eines Briefes an einen Freund, der auf Aka- demieen Theologie studiert, in den Strafiburger Jahren 1771 oder 1772 entstanden5 )

"Vielwisserei bringt nicht Weisheit'' hat mein groBes Vorbild, Heraklit 'der Dunkle' von Ephe- sos, schon um 500 v. Chr. formuliert. Weisheit, so scheint es, transzendiert die Vielwisserei, in- dem sie sich darum bemuht, mit ihr in angemessener Weise umzugehen und die richtigen End- schlusse daraus zu ziehen. Lassen wir das "d" in Endschlusse stehen, so geht es um Schlusse, die auf etwas, letztlich auf ein Ende, zielen. Philosophisches Bemuhen zielt vonjeher auf zweierlei: zum einen auf die kritische Dekonstruktion des nur Bestehenden und zum anderen auf den Ver- such einer Konstruktion, die (vorubergehend) der Kritik standhalt und schlieBlich wieder aufge- hoben wird. Kritik findet statt im Diskurs, im wechselseitigen Gesprach, und das Gesprach be- steht eben aus Enunziationen, d.h. notgedrungen aus hypothetischen Aussagen und Erklarungen. Der Terminus 'Statement' geht schon daruber hinaus. Ein Statement ist eine Fest-Stellung, und wenn Bloch (s.o.) Recht hat und angemessen nur ein "Terrain derVerwandlung" ist, dann dis- qualifiziert sich der Begriff Fest-Stellung, der als Festes Unbewegtes meint, von selbst.

Nun weist uns das Lenz-Zitat daraufhin, dass wir gar nicht umhin konnen, Grenzsteine unse- rer Wahr-Nehmung, unserer Welt-Anschauung, zu setzen. Aber diese mussen in Ewigkeitfort immer verruckt werden. Damit ist die Aufgabe des einzelnen Menschen formuliert, und da der einzelne Mensch begrenzt und sterblich ist, ist diese der Ewigkeit zugesprochene Aufgabe eine des Menschen schlechthin. Der End-Schluss weist also uber den einzelnen Menschen hinaus. Damit auch uber die burgerliche Gesellschaft, die wie ihr Handlanger, die Naturwissenschaft, sich einer Methoden-Reduktion unterwirft, um sich mit Nutzlichkeiten zu begnugen.

Verruckendes Denken, wenn es denn offen ist und um den End-Schluss weiB, ihn aber nicht kennt, ist vagabundierendes Denken, das - man kann es nicht oft genug betonen - offen, aber nicht ziel-los ist. Dieses Denken weiB um den Wert von Erfahrungen, auch wenn sie nur vor- ubergehende Grenzsteine sind (sie sollten uns teurer sein als Gold), denn auch wenn sie als sol- che keinen Bestand haben, sind sie doch die Bau-Steine unserer Entwicklung, die in nichts ande- rem besteht als in der stets kritischen Auseinander-Setzung mit dem, was wir bisher gebaut ha­ben. Halten die Grenz- oder Bau-Steine der Kritik nicht mehr stand, werden sie widerlegt oder nur eingeschrankt, so machen wir aus diesen Ent-Tauschungen neue Erfahrungen, die in der von Lenz angesprochenen Erweiterung bestehen, die die vorigen engern Kreise immer mit in sich schliefit oder unter sich begreift. Wenn ich etwas be-greife, so greife ich es so, dass ich es in sei­ner Genese einsehe und (auf der Basis meines momentanen Verstandnisses) verstehe, wohl wis- send, dass ich selbst Teil dieser Genese bin, die in Ewigkeit uber mich hinwegschreiten wird wie uberjedes andere zukunftige Bewusstsein auch. Das Bewusstsein ist qua Bewusstsein immer schon eingeschrankt; weiB es um diese Einschrankung, so will es die Grenzsteine verrucken und doch zugleich ihren Wert begreifen. Sisyphos ist auf dem Weg, stolz und glucklich. Fur ihn ist der Weg nicht das Ziel; das bleibt in Offenheit bestehen, gibt dem Weg aber seinen eigenen Wert. Es ist der Wert, bewusster Weg zum Ziel zu sein.

Auf diesem Weg treffen wir den Anderen, das andere Bewusstsein. Spiegeln wir ihm seinen Wert durch unsere Anerkennung, versichern wir uns wechselseitig unserer Achtung fureinander, so hat das ansonsten isolierte Bewusstsein eine 'Heimat' gefunden. 'Heimat' ist kein Ort, sondern die Form einer Begegnung; sie ist dort, wo wir - gemeinsam mit dem Anderen - zu Hause sind. Dort, in dieser Begegnung, konnen wir, mit Lenz zu sprechen, eine jedesmalige Erfahrung (...) ins Unendliche mit andern eigenen undfremden Erfahrungen vergleichen. Dem Durchschnitts- burger sei gesagt, dass "vergleichen" nichts mit 'gleich machen' zu tun hat. Dieses "vergleichen" offnetjene Wege, die die burgerliche Selbst-Kastration nicht wahr-haben will. Die eigentliche Gleich-macherei findet am Stammtisch und ihrer modernen Variante, den Talk-Shows, statt.

Ich gebe diese Hypothese, die noch dazu roh und undeutlich ausgedruckt worden, als sie in meinem Verstande ausgeheckt ward, Ihnen hin, sie zu bearbeiten, alles zuprufen und das Beste zu behalten.

(Lenz im Brief an Salzmann vom Oktober 1772 6 )

4. Sartres "Ekel" und sein reales Pendant oder Auf dem Kreuzberg (6. August 2012)

Eine Stadt wie Berlin, zeigt mir meine Erfahrung, will zu Fufi erlaufen sein. Die Sehnsucht nach den Antiquariaten in der Bergmannstrafie und auf dem Mehringdamm treibt mich in eins mit der Sonne aus der Wohnung. In der Tasche Sartres "Ekel" - der Protagonist Roquentin sucht sich seines Verhaltnisses zu der Welt, in der er lebt, zu versichern. Da ihm das nicht einmal im Hinblick auf die Materie gelingt, uberwaltigt ihn der Ekel: Die Gegenstande, das durfte einen nicht beruhren, denn das lebtja nicht. Man bedient sich ihrer, stellt sie wieder an ihren Platz, man lebt mitten unter ihnen : sie sind nutzlich, mehr nicht. Aber mich, mich beruhren sie, das ist unertraglich. Ich habe Angst, mit ihnen in Kontakt zu kommen, als waren sie lebendige Tiere.

(...) Da hat mich der Ekel gepackt, ich habe mich aufdie Bank fallen lassen, ich wusste nicht einmal mehr, wo ich war; ich sah die Farben langsam um mich kreisen, ich hatte einen Brech- reiz. Und das ist es : seitdem hat derEkel mich nicht verlassen, er halt mich fest.7

Das Schlusselerlebnis des Buches uberfallt Roquentin in einem Park; welch besserer Ort, das an sich heranzulassen, als der Park am Kreuzberg, mir bisher unbekannt,jetzt aber am Weg. Eine freie Bank im Halbschatten - Spazierganger, Jugendliche, die aus der Schule kommen, stadti- sche Bedienstete, die Pause machen. Kein ungewohntes Bild also, aber eine ungewohnte Unruhe, die mich nicht in den Text kommen lasst. Ich versuche es mit einer am Morgen aus dem Internet heruntergeladenen "Erlauterung" des ersten philosophischen Hauptwerks von Sartre, "Das Sein und das Nichts" (laut Verfasser so einfach aufbereitet, dass auch seine Oma in der Kuche es ver- stehen konnte) nichts - wie der Buchtitel schon verheifit (was hat der Verfasser wohl fur eine Oma ?). Ich fuhle mich nicht wohl; wenn Roquentins Ekel aufUnsicherheit beruht, dann kann ich wohl behaupten, dass ich michjetzt und hier ekle. Anders als er aber bin ich stark genug, den Versuch abzubrechen. Ein andermal, vielleicht.

5. Der asthetische Zugriff auf den Grund oder Balzac in der Knesebeck (7. August 2012)

Vagabundierendes Denken ist nicht grund-los, im Gegenteil: es bewegt sich, weil es um die Existenz des Grundes weifi und zugleich um die Un-Moglichkeit, ihn fest-zu-stellen und hand- habbar zu machen. Es ist unterwegs - nicht gequalt, sondern lustvoll (wo sonst, wenn nicht hier, zeigt sich unsere Werde-Lust ? 8 ). Der Diskurs, einschrankend und ermoglichend zugleich, ist unser Feld; der "Grund" ist, wenn man so will, die "Heimat", der Nirgendwo-Ort, der dennoch existiert: im Woraufhin unserer Bewegung. Wir bleiben also bodenstandig und verzichten auf metaphysische Fundierung, sehen den Boden, auf dem wir stehen (stehen mussen), aber immer in Relation zur problematischen metaphysischen Orientierung.

Insofern ist es einerlei, ob ich - den Grund vermutend - mit Hegel sage : "Das Wahre ist das Ganze" oder ob ich ihn, den Grund, mit negativer Dialektik in Frage stelle : In der Setzung undin der Frage ist er enthalten. Das vorausgesetzt, kann ich Hegel und Adorno und Foucault mit Gewinn lesen. Ob sie mir 'helfen', hangt von meiner Ein-Schatzung ab.

Der Weg zur Knesebeckstrafie, wo wir im Balzac verabredet sind, fuhrt durch mir unbekann- tes Gebiet. Strafien mit gediegen-grunderzeitlichen Fassaden und Platze wie der Viktoria-Luise- Platz wechseln mit prosaisch anmutender Architektur; typisch Berlin eben. Es macht Spafi, hier zu laufen - zugleich prazisieren sich die Koordinaten im imaginaren Stadt-Bild meines Kopfes, Verbindungen werden hergestellt und verknupft, Landkarten des Gedachtnisses entstehen. "Das Sehen bildet eine rhetorische Figur; als Anapher strukturiert es den Gang durch den Text der Stadt. (...) Horen und Sehen werden so zu Fahigkeiten im Konzept der Lesbarkeit einer aus den Stadtbildern entzifferten Geschichte; und die Bilder der Stadt werden zu Denkbildern ihrer Kul- turgeschichte."9

Ich verknupfe, was ich wahr-nehme, mit dem, was ich immer schon wahr-genommen habe, konkret mit meinen Aufsatzen, die ich gestern Abend in Vorbereitung unseres Gesprachs noch einmal durchgelesen habe. Gesprache sind offen, aber sie haben, wollen sie nicht nur Gerede sein, eine Zielsetzung - die Erweiterung des Bewusstseins. Von daher schadet es nicht, sich sei­nes Stand-Ortes vor dem Gesprach noch einmal versichert zu haben. Lenz bietet, wie gesehen, seinem Gesprachspartner ein Dialogfeld an, das von Grenzsteinen markiert wird.

Knesebeckstrafie - Ort der Versuchungen. Das Balzac ist ein Kaffeehaus, das man - von den Preisen her - auch mit einer Apotheke verwechseln konnte. Ich habe den meinen - ungeduldig - schnell getrunken, Du bist weitsichtiger und lasst uber die Dauer des Gesprachs einen Rest, der uns vor den fragenden Blicken der ungeduldigen Abraumer schutzt. Es ist spater, belebter Nach- mittag, der Burgersteig vor uns staubig und verschmutzt.

Du sprichst von Kant in seiner fruhen Phase, und ich weifi, dass Du lesenderweise gerade dort zu Hause bist. Ich aber bin aufKant nicht eingestellt - ihn habe ich hier und heute nicht er- wartet. Du zeichnest einen Bogen von seinen als vorkritisch bezeichneten Schriften, die gar nicht so vor-kritisch seien, sondern eher einen Kant in Reduktion aufkritische Denkungsart unter Ver- zicht auf einengende Kategorien zeigten, hin zu unserem Thema, das wir uns seit Jahren schon gestellt: zum vagabundierenden Denken. Dieser Aspekt eroffnet eine eigene Hinsicht auf Kant, eine Basis fur weitergehende Gedanken. Ich kann und will dem (noch) nichts entgegensetzen; Kant hat das Spiel-Feld betreten, beruhrt aber noch nicht meine Grenzsteine.

Du hast eine zweite Uberraschung parat: Du verweist auf Schillers Auffassung von der "Schonheit als Freiheit in der Erscheinung"10 ; das habe ich nun uberhaupt nicht erwartet, hattest Du doch vor Jahresfrist in einem Brief an mich mit Schiller abgerechnet. Bleiben wir einen Mo­ment beim Schillerschen Impuls, ehe wir zu Kant zuruckkehren. "Freiheit" erscheint nicht - das wissen alle : so der Naturwissenschaftler, der Physiker, fur den "Freiheit" ein Unwort ist, da es in seiner Vorstellung einer durchgangig kausal bestimmten Welt nicht vorkommen kann; so der Meta-Physiker, der die Freiheit, die er fur sein Gebiet reklamiert, nicht an die Welt der Erschei- nungen wird abgeben wollen. Wir aber sind weder Physiker noch Metaphysiker, die wir nur all- zu gerne in ihren selbstgebauten Schubladen mit dem ihnen eigenen Schubladen-Denken belas- sen wollen - wir sind gedankliche Vagabunden, deren Fufie vom langen Marsch wehtun und die nun ein wenig im Kaffeesatz lesen wollen.

Lassen wir uns also darauf ein, was Schiller hat sagen wollen. Eines seiner Beispiele zeigt, dass wir bei der Wahr-Nehmung eines Vogels im Flug uns in verschiedenen Hin-Sichten uben konnen. Wir konnen ihn (wie der Physiker) z.B. als Materie im Kampf mit der Schwerkraft se- hen; die uns beeindruckende Leichtigkeit des Fluges wurde in einer mathematischen Formel untergehen. Wir konnen die Eleganz des Vogels aber auch unter asthetischen Gesichtspunkten betrachten, indem wir dem Bild seines unbeschwert erscheinenden Fluges das 'als-ob'-Pradikat der Freiheit leihen; wir betrachten ihn - von der Wirkung her, die er auf uns hat - so, als ob er frei sei. Ob er es ist oder nicht, ist als Frage in diesem Moment irrelevant. Wir nehmen ihn so wahr, und der griechische Begriff fur "Wahrnehmung" ist "aisthesis", und von diesem Begriffleitet sich unser Asthetik-Begriff her. Schillers Intention ist es, dass wir, als Wahrnehmende, insofern wir dem Vogel im Flug Freiheit zusprechen oder leihen, selber frei werden durch das Wechsel- spiel zwischen dem, was wir wahrgenommen haben, und uns als Wahrnehmenden. Daraus leitet Schiller den Gedanken einer "asthetischen Erziehung" ab, indem er eine Welt- und Gesellschafts- vorstellung entwickelt, zu der man durch eine eigene Art der Wahr-Nehmung erziehen kann, zu einer Vor-Stellung also, in der der Eine dem Anderen Freiheit leiht, indem er diesen(s) so behan- delt, als ob er/es frei sei. "Freiheit zu geben aus Freiheit" ist dann, soll sie vertragsahnlichen Status erhalten, die Grundregel.

Was aber hat das nun mit "vagabundierendem Denken" zu tun ? Nun, dieses vagabundierende ist offenes, ist er-offnendes Denken, und ein Beispiel dafur liefert Schiller, indem er uns verdeut- licht, dass der Mensch einen Spiel-Raum an Wahmehmungs-Moglichkeiten hat. Ja, er geht so weit zu behaupten, dass der Mensch nur da ganz Mensch sei, wo er diesen Raum phantasievoll ausfulle, indem er spiele. Alles andere sei den menschlichen Moglichkeiten nicht gerecht wer- dende Verkrampfung. Losen wir also den Krampf und beginnen das Spiel: Der End-Schluss bei Lenz weist auf das Ziel hin, das wir aber nicht kennen und auch in Ewigkeit nicht kennenlernen werden. Das Ziel, zugleich der Grund, der die Be-Grundung fur unser Fragen gibt, wie immer wir es oder ihn auch be-nennen wollen, erscheint unserer Erfahrung nie, und trotzdem habe ich die spielerische Moglichkeit, ihn, auch ohne ihn konkret zu kennen, immer schon mitzudenken, und seiner moglichen Existenz eingedenk kann ich die Gegenstande, die ich als Subjekt mir zu Objek- ten mache, frei lassen, d.h. ich kann sie, auch wenn ich sie zu be-greifen versuche, in der Schwebe lassen, sie von einer letztgultigen Festlegung befreien oder ihre End-Gultigkeit einklammern, wie die Phanomenologen es ausdrucken wurden, und ich kann sie doch als existent annehmen auf der Folie des Bildes eines moglichen freien Zusammen-Spiels mit anderen Gegen-Standen; egal, ob es sich bei diesem Gegen-Stand meiner Betrachtung um bloBe Materie oder um einen anderen Menschen handelt (Fichte wurde bei der Materie vom Nicht-Ich und beim anderen Menschen vom Nicht-Ich-Ich sprechen) - wie ich ihn behandle, hangt davon ob, wie ich ihn wahr-nehme.

Was hindert uns daran, die Welt so wahr-zu-nehmen, dass wir uns bestandig er-innern, dass all unsere diskursive Arbeit bloBe Setzung ist, die es ins Offene hinein zu transzendieren gilt, spielerisch, nicht grund-los ? Ich leihe, im Moment des Betrachtens, dem Vorhandensein der Din- ge einen Sinn, den ich niemals werde beweisen konnen, schon allein deshalb, weil der Beweis an die Sphare des Sinns uberhaupt nicht heranreicht. Es ware gut, wenn die sog. Tat-Sachen- Menschen dies zu reflektieren in der Lage waren.

Es wird kuhler, der Kaffee ist ausgetrunken, die Tasse leer, wir lesen auf dem Grund die noch offene Frage einer Verbindung zwischen den Gedanken Kants und denen Schillers: Warum nicht einen kategorischen Imperativ als sinn-stiftend anerkennen, der nicht rigoros (wie bei Kant) auf die frag-wurdige Instanz einer Vernunft verweist, der aber ein Imperativ ist, ein Befehl, den wir uns zwar selbst auferlegen, der dennoch um nichts weniger verpflichtend ist und der uns folgen- de Maxime unseres Denkens und Handelns anempfiehlt: Denke so, dass du dir standig der Be- grenztheit Deiner Setzungen bewusst bist und dass du, aus dieser Einsicht resultierend, um eine permanente Transzendierung aller selbstgewahlten Grenzen bemuht bist ? Folgten wir Schillers Uberlegungen aus seiner Schrift "UberAnmut und Wurde", so ginge es bei diesem so verstande- nen Imperativ nicht um den immer wieder neu zu setzenden,jeweils singularen Befehl, den wir uns, unserem Denken und Handeln auferlegten, sondern es ginge um die Einubung in eine Grund- Einstellung, aus der heraus wir einen grund-legenden Blick auf das, was wir uns zum Objekt er- wahlten, spielerisch entwickelten. Der "kategorische Imperativ" verlore somit die Harte, die er bei Kant hat, und wurde so zu einer freundschaftlichen Empfehlung (fur uns und fur den Anderen).11

Unser Gesprach ist noch lange nicht beendet - wir uberschreitenjetzt in frevelhafter Weise die Grenzen, die wir uns vorher selbst gesteckt: Es sollte heute, so war verabredet, nicht von 'der Schule' die Rede sein. Nun aber liegt die Versuchung in der Luft, und wir beiBen in den sauren Apfel hinein. Warum, so fragen wir uns, folgt 'die Schule' immer den falschen Pfaden, warum versucht sie, aus den ihr Anvertrauten immer 'taugliche' = nutzliche Mitglieder dieser bestehen- den, verkrampften und damit menschen-feindlichen Gesellschaft zu machen, anstatt das Ziel in der Entwicklung einer freien, selbst- und verantwortungsbewussten Personlichkeit zu sehen ?

Nun, da wir die Grenze einmal schamlos uberschritten haben, gibt es kein Halten mehr. Wir schimpfen wie die Rohrspatzen. Konnte Bine uns horen oder sehen, sonderte sie ihr bekanntes Statement ab : "Immer dasselbe, immer dieselben Themen, immer dieselben Klagen."

Ignorantin. Uns aber treibt der Hunger zum Griechen. SchlieBlich sind wir alle, sofern wir den­ken, Griechen. Gyros mit Pommes in Metaxa-Sauce. Ekel ?

6. Asthetik und Gewalt oder Der ausgestreckte Zeigefinger (8. August 2012) (Mitspieler : Kirsten Heisig, Johan Galtung und Hermann Hesse)

Kolner Stadt-Anzeiger vom 17. Oktober 2012: "Berlin ist derzeit im Fokus : Der Kampf gegen Gewalt muss gefuhrt werden, wohl wissend, dass er niemals enden wird. In Wahrheit wissen wir, dass es letztlich keine Patentrezepte gibt."

Das ist es, was ich Gerede nenne - Phrasen, die nur einen Zweck erfullen : sich selbst und an- dere zu beruhigen, nur nicht weiter nachzudenken. Erst einmal auszusitzen. Politiker-Gefasel oder Journalisten-Geschreibsel: das Modalverb 'mussen' zeigt Not-Wendigkeit an, doch an eine Wende der Not wird aus pragmatischen Grunden gar nicht erst gedacht. Es wird uberhaupt nicht gedacht und an "Wahrheit'" am allerwenigsten. Welche Rolle spielt das Adverbial "letztlich" - ist es lediglich ein Luckenfuller, in der Absicht gesetzt, den Satzrhythmus angenehm zu machen ? Hat es, wenn ihm dann doch Bedeutung zugedacht ist, temporalen oder modalen Charakter ?

Und schliefilich die "Patentrezepte" - nehmen wir diese Seifenblase ernst oder als das, als was sie eingesetzt ist: als Ablenkungsmanover und / oder als Ausrede ? Dabei kann (und soll) es, wenn das Problem ernsthaft angegangen wird, gar nicht um Patente und Rezepte gehen, sondern um einKonzept. "Ein Konzept (von lateinisch concipere ,erfassen‘) beschreibt eine Grundvorstel- lung, die erste Fassung eines Textes oder einer Idee. In der Regel wird ein Konzept als eine Sammlung von Leitgedanken verstanden. Es verfasst also die Eckpunkte eines Projekts."12 Lenz und seine "Grenzsteine" lassen grufien. Ein Konzept in diesem Verstandnis hat Kirsten Heisig mit ihrer Arbeit vorgestellt und mit ihrem Buch "Das Ende der Geduld"13. Ein Kopf wie der ihre und ein Herz wie das ihre, das wird uns immer schmerzlicher bewusst, fehlen. Und ihr Mut.

Die Gewalt, die ich an diesem Vormittag wahrnehme, ist ganz anderer Art. Habe die M6 ab Hackesche Hofe genommen, um aufUmwegen (die direkte Verbindung ist derzeit unterbro- chen) nach Weifiensee zu fahren undjenen unglaublichen Grabstein nach Jahren wiederzufinden und damit zu bestatigen, was vernunftige Reflexion uber Jahre der Erinnerung nicht hat zulassen wollen : "Herbert Einfeldt, zu seinen Fufien Emma". In der Tat, ich finde ihn - kein Irrtum mog- lich.Von Mensch zu Mensch. Hier zeigt sie sich, die zweite Form der Gewalt (neben der physi- schen), die strukturelle14, die sich in Herrschaft und Dominanz auspragt.

Die dritte Form der Gewalt (die ich eine 'asthetische' nennen mochte) drangt sich mir auf der Fahrt durch den Ostteil der Stadt auf: Ein Wohnsilo neben dem gleich konturlos anderen, kilo- meterweit, eine Wohn-Wuste, fur die der Begriff 'Waben-Geflecht' noch ein Euphemismus ware. Ein 'Geflecht' bote dem Auge ansatzweise so etwas wie Abwechslung und damit Wider- stand - hier irrt das Auge nur umher und gleitet haltlos ab. Mir tun die Menschen, die hier woh- nen mussen, leid. Wie, so frage ich mich, sehen deren Traume wohl aus, die produktiven des Tags und die verarbeitenden der Nacht ? 'Abfahrt Wolfsburg' reloaded.

Neben der physischen und der strukturellen Gewalt gibt es also eine asthetische, eine der Wahr-Nehmung. Sie ist dort zu finden, wo unserem Blick keine Herausforderung, keine Aufga- be, kein Sich-Abarbeiten mehr begegnet. Dort, wo alles gleich ist, liegt der Ruckschluss nahe, dass alles gleich-gultig sei. 'Asthetische Gewalt' in diesem Verstandnis finde ich nirgendwo kommentiert; dabei ist sie, furchte ich, potentieller Ausloser fur die beiden anderen, fur die struk­turelle, die sich in Dominanz-Gehabe aufiert, und fur die physische als ultima ratio fur den, der sich anders nicht darzustellen weifi. "Wenn das Bewusstsein oder die Seele oder der Geist - egal, wie wir unsere innere Unruhe nennen -, wenn diese imaginare Wesensmilch langere Zeit nicht selber brodeln darf, wird sie sauer", so formuliert Martin Walser15. Sie will, sie muss sich Aus- druck verschaffen - das ist ihre Eigen-Art, und wo das kreativ und konstruktiv nicht moglich ist, dort wird der nekrophile Destruktionstrieb aufgepeppelt.

[...]


1 Alle Camus-Zitate beziehen sich auf den Mythos des Sisyphos.

2 KUNSTMagazin 1207 / 1208, Berlin 2011

3 nach Stephan / Winter, 1994, IX/X

4 Ernst Bloch, Subjekt-Objekt. Erlauterungen zu Hegel; Frankfurt 1985, 121

5 Die Werke des J.R.M. Lenz werden zitiert nach Damm, 1987; hier : II,483

6 Lenz, Werke, Damm III, 283

7 Sartre, Der Ekel; 23 / 35

8 vgl. Mollowitz 2011,5

9 Sigrid Weigel, Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Brief- geheimnisses; Darmstadt 1999, 107

10 vgl. zu Schillers asthetischer Theorie : Mollowitz 2008/2

11 vgl. hierzu Schillers Gedanken uber den 'Brotgelehrten' und den 'philosophischen Kopf

12 zitiert nach Wikipedia

13 KirstenHeisig, DasEndederGeduld.Freiburg im Breisgau,2010

14 Johan Galtung, Strukturelle Gewalt. Beitrage zur Friedens- und Konfliktforschung. Hamburg 1975

15 Martin Walser in : Wer ist ein Schriftsteller ? Frankfurt am Main 1979, 94

Ende der Leseprobe aus 39 Seiten

Details

Titel
Vagabundierendes Denken in einer schraubenförmigen Welt
Untertitel
Ein Essay, der Mut machen soll, sich den vermeintlichen, immer aber vermeidbaren Absurditäten dieser Welt zu stellen
Autor
Jahr
2013
Seiten
39
Katalognummer
V214437
ISBN (eBook)
9783656427797
ISBN (Buch)
9783656436461
Dateigröße
683 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
vagabundierendes, denken, welt, essay, absurditäten
Arbeit zitieren
Bernd Mollowitz (Autor:in), 2013, Vagabundierendes Denken in einer schraubenförmigen Welt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/214437

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