Grundzüge des literarischen Expressionismus in Deutschland


Wissenschaftliche Studie, 2013

24 Seiten, Note: "-"


Leseprobe


Gliederung und Überblick

Diese Arbeit gliedert sich in sechs Abschnitte.

- Die Einführung vermittelt Einblicke in die Verschiedenartigkeit und Vielfältigkeit des literarischen Expressionismus im Vergleich zu verwandten Kunstgattungen wie Malerei und Musik und in Abgrenzung zu vorhergehenden Strömungen wie Naturalismus, Impressionismus und Jugendstil. Dabei werden wichtige Wesenszüge des literarischen Expressionismus unter Berücksichtigung gattungsspezifischer Merkmale in Epik, Dramatik und Lyrik und des zeitgeschichtlichen Kontexts herausgearbeitet, aber auch gewisse Widersprüchlichkeiten bei den Vertretern der expressionistischen Avantgarde berücksichtigt
- Der Abschnitt über den zeitgeschichtlichen Hintergrund zeigt Lebensbedingungen und Konfliktbereiche der Gesellschaft zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts auf und beschreibt, wie sich die Probleme des Menschen der Moderne in der Literatur widerspiegeln. Darüberhinaus geht es darum aufzuzeigen, wie die Forschungsergebnisse der Bewusstseinspsychologie, vor allem aber der Tiefenpsychologie und Psychoanalyse, zu einer tiefgreifenden Verunsicherung des Menschen und zur sogenannten Krise des Ich beitragen, die große Auswirkungen auf die Literatur dieser Zeit hat
- In einem weiteren Teil geht es um wichtige Zeugnisse und Dokumente des frühen Expressionismus und die programmatische Verkündung neuer Lebens- und künstlerischer Darstellungsformen im Gegensatz zu den als obsolet und überholt angesehenen Lebensformen der wilhelminischen Gesellschaft
- Der folgende Abschnitt beschäftigt sich mit den Beziehungen zwischen expressionistischer Malerei, Musik und Literatur. Hier wird sich zeigen, dass es erstaunliche Ähnlichkeiten, Parallelen und Überschneidungen hinsichtlich theoretischer Grundgedanken und künstlerischer Ausdrucksweisen gibt
- Am Beispiel von drei miteinander assoziierten Schlüsselbegriffen - Anti-Bürgerlichkeit, Gesellschaftskritik und Erneuerungspathos - werden anschließend wesentliche Positionen expressionistischer Schriftsteller beschrieben, in denen sich ihre kritische - und zuweilen radikal-kompromisslose - Einstellung gegenüber der zeitgenössischen Gesellschaft widerspiegelt. Besonders prägnant kommt diese Tendenz in dem die gesellschaftlichen Normen sprengenden Gegenbild des sozialen Außenseiters zum Tragen, das bis ins Pathologische hineinreicht
- Abschließend wird diese Tendenz zum Pathologischen an einem Beispieltext expressionistischer Kurzprosa - Alfred Döblins Erzählung "Die Ermordung einer Butterblume" - veranschaulicht, wobei von besonderem Interesse ist, welche Rolle Döblin dem Autor expressionistischer Prosa zuweist.

Einführung

Expressionismus (von lateinisch "expressio": Ausdruck) ist eine Sammelbezeichnung für eine Tendenz, Strömung oder Bewegung innerhalb verschiedener Kunstgattungen, z. B. der Malerei , der Musik, der Literatur und auch des Theaters und des Films. Es handelt sich nicht im eigentlichen Sinne um eine klar umrissene, eindeutig abzugrenzende Epoche, sondern um eine "literarische Rand- oder Gegenkultur" (Anz/Stark: Vorwort, S. XVI) mit ganz unterschiedlichen Ausprägungen, wobei die Übergänge zu vorherigen (z. B. Impressionismus, Jugendstil, Neuromantik, Neuklassizismus und Symbolismus) und nachfolgenden Strömungen (z. B. Dadaismus und Surrealismus) fließend sind. Dies gilt insbesondere für den literarischen Expressionismus, der im Zeitraum zwischen etwa 1910 und 1925 anzusiedeln ist [1] und sich einerseits durch eine beeindruckende Vielfältigkeit und Verschiedenartigkeit auszeichnet, andererseits aber auch mit anderen Künsten eine Symbiose, d. h. ein Verhältnis der wechselseitigen Beeinflussung und Befruchtung eingeht. [2] Unter den expressionistischen Künstlern gibt es eine ganze Reihe, die mehrere künstlerische Begabungen in ihrer Person vereinigen und - wie beispielsweise Ernst Barlach, Oskar Kokoschka und Alfred Kubin - sowohl bildende Künstler als auch Schriftsteller sind. Manche Kritiker der expressionistischen Literatur betonen den experimentellen Charakter vieler expressionistischer Texte. Wenn man diesen Standpunkt übernimmt, erscheint es in der Tat schwierig zu unterscheiden, "was am Expressionismus nur Experiment" ist (Best 1986, S. 19) und was als eine "wirkliche produktive Gewinnung künstlerischen Neulands gelten kann." (ebd.) Philip Ajouri erkennt im Expressionismus primär eine "Subkultur" (Ajouri, S. 51), die im Urteil vieler Zeitgenossen im Vergleich zum literarischen Mainstream ein Schattendasein führt und als krankhaft und

abstrus empfunden wird. [3]

Die Vertreter des literarischen Expressionismus betrachten die detailgenaue Nachahmung der Wirklichkeit als überholt und nicht erstrebenswert. [4] Sie verstehen sich als Gegenbewegung zu den Vertretern des Naturalismus, die ein ungeschminktes Abbild der Wirklichkeit mit ihren hässlichen Seiten, ihren sozialen Problemen, der Verelendung breiter Bevölkerungsschichten und der enormen Kluft zwischen Arm und Reich darstellen wollen.

Aber sie distanzieren sich auch von der Vorstellung ständig wechselnder Eindrücke des Augenblicks bei den Impressionisten oder der Stilisierung des Dargestellten und der Tendenz zum Ornamentalen bei den Anhängern des Jugendstils. Für die Expressionisten liefert die sinnlich wahrnehmbare äußere Wirklichkeit nur die Bausteine für die Gestaltung ihrer inneren Wirklichkeit, der von innen nach außen drängenden Gefühls- und Gedankenwelt des Künstlers, die von ihm durch die Sprache vermittelt wird. Sie verstehen sich als Künder eines neuen Zeitalters und betonen die aktive, schöpferische Funktion des menschlichen Geistes, wie z. B. Kurt Pinthus, der diesen Gedanken im Jahre 1918 folgendermaßen formuliert: "Nicht die sogenannte Wirklichkeit formt den Geist und dessen Ideen, sondern der Geist formt die Wirklichkeit nach der Idee." (Pinthus, S. 413) Der Naturalismus - so Kasimir Edschmidt in seinem Vortrag "Über den dichterischen Expressionismus" (1917) - habe die oberflächliche Wirklichkeit, d. h. die "bloßen Tatsachen" mit Hilfe von Logik und Kausalität abgebildet, während der Impressionismus sein Interesse nur dem flüchtigen Augenblick gewidmet habe. Demgegenüber sei der Expressionismus intuitiv und alogisch. Er sei nicht an einem jeweiligen bürgerlichen Individuum, sondern am "Menschen" an sich interessiert, d. h. an dem, was übrig bleibe, wenn man die bürgerlich geprägten Begriffe Pflicht, Moral, Gesellschaft und Familie von ihm abstrahiere und sich in einem visionären Akt des Unter-die-Oberfläche-Schauens auf

das Wesen der Dinge und der Menschen konzentriere. (Vgl. Anz/Stark, S. 42 ff.) Folgerichtig fordert er daher: "Die Realität muß von uns geschaffen werden." (Best 1986, Einleitung, S. 14) Laut Friedrich Markus Huebner wollen die Expressionisten "den Menschen wieder in die Mitte der Schöpfung" setzen. Die Natur ist für sie der "unendlich biegsame und knetbare Urstoff", dem der Mensch in einem schöpferischen Prozess "Form und Gestalt gibt und ihn mit Sinn beseelt". ("Der Expressionismus in Deutschland", in: Anz/Stark, S. 5)

Während sich viele junge Vertreter des literarischen Expressionismus als Künder eines neuen Menschen und einer neuen Zeit wähnen, wenden sich die Anhänger des Fin de Siècle und der Dekadenzliteratur, nach deren Wahrnehmung man in einem Zeitalter des kulturellen Verfalls und des Untergangs lebt, der Kehrseite dieser idealistischen Aufbruchsstimmung zu. Betont man auf der einen Seite das Morbide, das Kränkliche und Schwächliche einer im Absterben begriffenen Kultur und erzeugt auf diese Weise eine pessimistische Endzeitstimmung, begrüßt man auf der anderen Seite enthusiastisch das vitalistisch geprägte Bild eines aktiven Erneuerers, der sich mutig und entschlossen den Herausforderungen eines neuen Zeitalters stellt. Beide Tendenzen - Resignation und Aktion - liegen somit dicht beieinander, wobei - wenn man den Worten Hermann Bahrs (1890) folgt - durchaus nicht klar ist, in welche Richtung die Entwicklung gehen würde: "Es kann sein, daß wir am Ende sind, am Tode der erschöpften Menschheit, und das sind nur die letzten Krämpfe. Es kann sein, daß wir am Anfang sind, an der Geburt einer neuen Menschheit, und das sind nur die Lawinen des Frühlings. Wir steigen ins Göttliche oder wir stürzen, stürzen in Nacht und Vernichtung - aber Bleiben ist keines." (Bahr, S. 13)

Viele Expressionisten zeigen sich gleichermaßen fasziniert und überwältigt von den hin- und herflutenden Menschenmassen unüberschaubar gewordener Großstädte, dem beängstigenden Tempo moderner Verkehrsmittel, der ungewohnten Hektik des Arbeitsalltags und den monströsen, herkömmliche Maßstäbe sprengenden Gebäudekomplexen neuer Wohnviertel. Hinzu kommen die veränderten Wahrnehmungsmöglichkeiten über die Massenmedien Zeitung und Film, durch die die bekannte Welt in eine unübersehbare Zahl vielfältig aufgespaltener und atomisierter Einzeleindrücke zerlegt zu werden scheint, deren pausenlos auf ihn einstürmende Fülle der moderne Mensch sich nicht gewachsen fühlt und mit neurasthenischen Symptomen darauf reagiert.

Die jungen expressionistischen Autoren vor dem ersten Weltkrieg verstehen sich tatsächlich als Anhänger einer Subkultur. Sie verkörpern das Lebensgefühl und den Lebensstil einer Generation, der konventionelle bürgerliche Werte und Normen zutiefst suspekt geworden sind. Sie erleben sich als antibürgerliche Bohémiens und führen ein Leben am Rande der Gesellschaft. Sie bilden eigene Gruppierungen, treffen sich in Clubs und Cafés, gründen eigene Zeitschriften, verfassen programmatische Manifeste, rufen sich gegenseitig zu Gemeinschaftlichkeit, Brüderlichkeit und Solidarität auf, betrachten sich als Avantgarde oder gebärden sich als revolutionäre Umstürzler. Sie glauben an die Macht des Geistes und machen vehement Opposition gegen den Materialismus und die Wissenschaftsgläubigkeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts. In geradezu rauschhaften Visionen sehen sie sich wie Georg Heym als "Danton, oder als einen Mann auf der Barrikade" (Anjouri, S. 81) und erblicken im herannahenden Krieg eine willkommene Möglichkeit, verkrustete Strukturen aufzubrechen und die Gesellschaft von ihrer Autoritätshörigkeit und ihrem Untertanengeist zu befreien.

Der Krieg wird unter dem Aspekt eines vermeintlich reinigenden Effekts und als Voraussetzung zur Schaffung eines neuen Menschenbilds gesehen. Mit ihren Forderungen nach Erneuerung verhalten sie sich radikal und kompromisslos. Sie scheuen nicht vor provozierenden verbalen Drohgebärden zurück und bekunden ihre Entschlossenheit, die Grundfesten der bürgerlichen Gesellschaft ins Wanken zu bringen: "Wir wollen sie [die Bürger] nicht unterhalten. Wir wollen ihnen ihr bequemes ernst-erhabenes Weltbild tückisch demolieren." (Rudolf Kurtz in "Programmatisches" aus der ersten Ausgabe der expressionistischen Zeitschrift "Der Sturm" von 1910; in: Anz/Stark, S. 515) Der junge Alfred Döblin schreibt in einem Offenen Brief an den Futuristen Filippo Tommaso Marinetti in kaum gemäßigteren Tönen: "Es ist uns klar, wir wollen keine Verschönerung, keinen Schmuck, keinen Stil, nichts Äußerliches, sondern Härte, Kälte und Feuer, Weichheit, Transzendentales und Erschütterndes ohne Packpapier ..." (Leiß/Stadler, S. 315) Dabei passt es durchaus ins Bild, dass viele dieser jungen Expressionisten aus gebildeten, wohlhabenden Bürgerfamilien stammen und - wie Gottfried Benn, Georg Heym, Alfred Döblin und Alfred Lichtenstein - sogar promovierte Akademiker sind.

Bei der geschilderten Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit dieser expressionistischen Avantgardeliteratur nimmt es nicht wunder, dass eine breite Palette von Themen und Motiven in ihren Texten auftaucht. Sie gruppieren sich u. a. um das Leben in der Großstadt, das Krankhafte und Morbide und um Weltuntergangsszenarien als Vorstufe für einen erneuerten Menschen. In diesem Zusammenhang erfährt auch der barocke Vanitas-Gedanke, d. h. die Nichtigkeit und Vergänglichkeit des irdischen Daseins angesichts des allgegenwärtigen Todes, eine Wiederbelebung.

Obwohl der Expressionismus das Lebensgefühl vieler junger Intellektueller widerspiegelt und als ihre Weltanschauung aufgefasst werden kann und obwohl ihre Texte auf größere Aufmerksamkeit der Literaturkritik stoßen, wird der zeitgenössische Literaturbetrieb von Autoren auflagenstarker Romane wie Thomas Mann, Hermann Hesse und Robert Musil beherrscht. Die größten Auflageziffern erzielen jedoch die sogenannten Trivial- und Unterhaltungsromane von Karl May (Reiseromane), Hedwig Courths-Mahler (Frauenromane) und Ludwig Ganghofer (Heimatromane), die die Bedürfnisse und den Geschmack einer rasch sich ausbreitenden Leserschaft am besten zu erfüllen scheinen. Alfred Döblin, der mit seiner Erzählung "Die Ermordung einer Butterblume" (1910) ein Dokument frühexpressionistischer Literatur verfasst, entwickelt 1913 den sogenannten "Kinostil" als erzählerische Darstellungsform und grenzt sich damit kompromisslos von den herkömmlichen Schreibgewohnheiten bekannter Romanautoren seiner Zeit ab. Der Romanautor soll sich als Erzähler zurücknehmen. Er ist nicht mehr die Instanz, die für den Leser ein zusammenhängendes Handlungsgefüge arrangiert und für logisch aufgebaute und kausal miteinander verknüpfte Sequenzen im Fluss des Geschehens sorgt. Er ist überhaupt nicht maßgeblich. Vielmehr gilt es, "die Hegemonie des Autors ... zu brechen." ("An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm"; in: Anz/Stark, S. 660) Der "Fanatismus der Selbstverleugnung" könne nicht weit genug getrieben werden. (ebd.) Handlungssequenzen sollen unverbunden wie im Filmschnitt aufeinander folgen. Figuren und Schauplätze gleichen einem vom Leser während der Lektüre selbst zusammenzusetzenden Puzzle. Jeder sprachliche Schmuck, jede Maniriertheit des Ausdrucks sei um jeden Preis zu vermeiden.

Dieses Prinzip der Reduktion des Erzählstoffes führt u. a. auch zu einer Reduzierung der Erzählformen. Statt in epischer Breite zu schwelgen geht es darum, die Wirkung des Erzählten auf den Leser zu intensivieren. Ein zusammenhängendes Romangefüge würde die Illusion eines zusammenhängenden Weltgefüges unterstützen. Die wirkliche Welt wird von den ungestümen Stürmern und Drängern des frühen Expressionismus als unzusammenhängend, disharmonisch, brüchig und verwirrend erlebt, als eine Welt, in der Logik und Kausalität sich in Auflösung befinden, die als ungeordnet, alogisch und akausal empfunden wird und die nur noch in assoziativen, eruptiven, abrupt und explosionsartig auftretenden Vorgängen und als Splitter und Fragmente darstellbar ist. Daher wird die kurze Erzählung zu einer bevorzugten Erzählform. Mit ihr ist es möglich, Gedanken und spontan auftretende Gefühlszustände in komprimierter und geraffter Form auszudrücken und sich gegen die minutiösen und detailüberfrachteten Milieuschilderungen der Naturalisten abzugrenzen. Carlo Mierendorff bezeichnet diese Tendenz zur Verknappung und Intensivierung des Ausdrucks in seinem Aufsatz "Wortkunst / Von der Novelle zum Roman" (in: Anz/Stark, S. 667 - 671) daher als "Akt der Askese" (ebd. S. 668) und formuliert entsprechend: "Ganz unten war anzufangen; man wurde karg. Wog die Worte, überschärfte die Empfindlichkeit, operierte die Wucherungen weg, jätete, ätzte, beschnitt. Suchte nach dem Gesetz, wie denn ein Satz gefügt sein müsse, daß er gut sei. Raffte zusammen, baute sehr klug mit dem Hirn und sehr hell von Gehör, sich aufs heftigste bescheidend und genügsam." (ebd. )

[...]


[1] Manche Kritiker sprechen auch von einem "expressionistischen Jahrzehnt" zwischen 1910 und 1920 (vgl. Anz/Stark, Vorwort S. XV), eine Bezeichnung, die auch im Titel der 1955 erschienen Anthologie "Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts" verwendet wird. (ebd.)

[2] Vgl. hierzu Wassily Kandinskys Aufsatz "Über das Geistige in der Kunst" (1912), wo er formuliert, indem er die Verbindungslinie zu der der Malerei als wesensmäßig verwandt empfundenen Musik zieht: "Ein Künstler, welcher in der wenn auch künstlerischen Nachahmung der Naturerscheinungen kein Ziel für sich sieht und ein Schöpfer ist, welcher seine Innere Welt zum Ausdruck bringen will und muß, sieht mit Neid, wie solche Ziele in der heute unmateriellsten Kunst - der Musik - natürlich und leicht zu erreichen sind. Es ist verständlich, daß er sich ihr zuwendet und versucht, dieselben Mittel in seiner Kunst zu finden. Daher kommt das heutige Suchen in der Malerei nach Rhythmus, nach mathematischer, abstrakter Konstruktion, das heutige Schätzen der Wiederholung des farbigen Tones, der Art, in welcher die Farbe in Bewegung gebracht wird usw." (Vogt, S. 139)

Im Vorwort ("Zuvor") seiner Gedichtsammlung "Menschheitsdämmerung" (1920) verwendet Karl Pinthus eine Vielzahl musikalisch geprägter Begriffe wie "Zusammenklang dichtender Stimmen" und "dröhnendes Unisono der Herzen und Gehirne". (Best 1976, S. 80 f.) Dichtung ist für ihn hier "die Musik unserer Zeit". Gedichte vergleicht er mit einem "lyrischen Orchester", das sich unterschiedlicher "Instrumente und Stimmen" bedient, z. B. "Violinen", "Posaunen", "Klarinetten", "Trompeten", "Oboen", "Bässen" und "Triangelgeklingel", die mit ihren unterschiedlichen Klangfarben, ihren "lärmenden Dissonanzen" und ihren "melodischen Harmonien" eine "Symphonie" aufführen, die "sich zum triumphalen Maestoso der menschenliebenden Menschheit" steigert. (ebd., S. 81)

[3] Auch Anz/Stark verwenden in ihrem Vorwort in diesem Zusammenhang den Begriff "Subkultur". (ebd. S. XVI) Sie befassen sich eingehend mit der Schwierigkeit, den literarischen Expressionismus eindeutig zu bestimmen und zitieren zum Beleg Gottfried Benn, der in seiner Einleitung zur Anthologie "Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts" (1955) die Frage stellt, ob der Expressionismus nicht als ein "Konglomerat, eine Seeschlange, das Ungeheuer von Loch Ness, eine Art Ku-Klux-Klan" zu bezeichnen sei. Um die Unsicherheit einer klaren Begriffsbestimmung zu unterstreichen, sprechen Anz/Stark auch vom Expressionismus als einem "provisorischen Schlagwort" (ebd. S. XV) oder von der Literatur einer "betont jugendlichen Avantgarde" von "begabten Außenseitern, ... hauptsächlich Studenten, frisch Promovierte, Bohémiens und ... Doppelexistenzen", geschrieben von "Intellektuellen für Intellektuelle, um die "etablierte literarische Kultur" zu unterwandern. "Die literarische Subkultur", um die es hier geht, ist in sich "so heterogen und widersprüchlich, daß ernstere Bedenken angebracht sind, sie mit dem eine gewisse Homogenität suggerierenden Einheitsetikett 'Expressionismus' zu bezeichnen und zu erfassen. Sie hat in diesem Jahrzehnt eine Fülle miteinander konkurrierender und sich gegenseitig überbietender 'Ismen' und kunstrevolutionärer Programme hervorgebracht: Futurismus, Kubismus, Dadaismus. Konstruktivismus, Äternismus, Aktivismus, und wie sie alle heißen.". (ebd. S. XVI) Trotz dieser Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit sei es gerechtfertigt - so meinen die Autoren - ,den "vielleicht etwas altmodisch erscheinenden" eingrenzenden Begriff "expressionistisches Jahrzehnt" zu verwenden. (ebd. S. XVII)

[4] In dem zitierten Vorwort schreibt Karl Pinthus hierzu: "Deshalb meidet [die expressionistische Lyrik] die naturalistische Schilderung der Realität als Darstellungsmittel, so handgreiflich auch diese verkommene Realität war; sondern sie erzeugt sich mit gewaltiger und gewaltsamer Energie ihre Ausdrucksmittel aus der Bewegungskraft des Geistes ..." (Best 1976, S. 90)

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Grundzüge des literarischen Expressionismus in Deutschland
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover  (Philosophische Fakultät)
Note
"-"
Autor
Jahr
2013
Seiten
24
Katalognummer
V214217
ISBN (eBook)
9783656427322
ISBN (Buch)
9783656432845
Dateigröße
482 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
grundzüge, expressionismus, deutschland
Arbeit zitieren
Hans-Georg Wendland (Autor:in), 2013, Grundzüge des literarischen Expressionismus in Deutschland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/214217

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