Die bösen Rapper sind schuld. Das Image von HipHop in den deutschen Printmedien


Diplomarbeit, 2012

142 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Hinweise

Kleines HipHop-Lexikon

Danksagung

1. Einleitung

2. Die Entstehung von HipHop in den USA
2.1 Leg‘ die Scheibe auf, bis sie kratzt: DJing
2.2 Dreh‘ dich und tanz‘ um dein Leben: Breaking
2.3 Zeig‘, dass du da warst: Writing
2.4 Dichter der neuen Generation: MCing
2.5 HipHop als lebendige Kultur: Die neuen Elemente
2.6 From Old School to New School to Next School

3. HipHop in Deutschland
3.1 HipHop in der BRD (vor der Wende)
3.2 HipHop in der DDR
3.3 HipHop im wiedervereinigten Deutschland
3.4 Alte Schule versus Neue Schule
3.5 Migranten im HipHop: Die vergessene Generation

4. Herkunft und Entwicklung von Sprechgesang
4.1 Die Bedeutung von Battles für die HipHop-Kultur
4.2 Gangsta-Rap: Ein besonderes Subgenre
4.3 Tupac versus Biggie: Der Sündenfall
4.4 Die Jahrhundertwende: Rap in Deutschland wird hart

5. HipHop goes Science

6. HipHop in der Öffentlichkeit und in den Medien
6.1 Sexistisch und vulgär: Öffentliche Kritik an Rap
6.2 Vom Index in die Charts: Rap in Deutschland wird populär
6.3 HipHop in den journalistischen Medien in Deutschland
6.4 Das medial vermittelte Image von Rap in Deutschland

7. Musikjournalismus und Kunstkritik
7.1 Das Berufsbild des modernen Musikjournalisten
7.2 Besonderheiten und zentrale Merkmale der Musikkritik
7.3 Konsequenzen: Musikjournalisten versus Rapper

8. Empirische Studie zur Darstellung der HipHop-Kultur in den Printmedien
8.1 Hypothesen
8.2 Methodik: Inhaltsanalyse
8.3 Die Stichprobe
8.4 Einschlusskriterium 1: “Leitmedien”, die Crème de la Crème
8.4.1 Focus
8.4.2 Frankfurter Allgemeine Zeitung
8.4.3 SPIEGEL
8.4.4 Süddeutsche Zeitung
8.4.5 ZEIT
8.5 Einschlusskriterium 2: Auswahl des Untersuchungszeitraumes
8.6 Einschlusskriterium 3: Der Suchbegriff
8.7 Stichproben-Ziehung
8.8 Operationalisierung und Kategoriensystem

9. Datenauswertung und Interpretation
9.1 Hypothese 1: Rap beherrscht die Berichterstattung über HipHop
9.2 Hypothese 2: Bei der Berichterstattung überwiegt die Gattung Rezension
9.3 Hypothese 3: Wenn über HipHop berichtet wird, dann meist im Feuilleton
9.4 Hypothese 4: Pro Medium berichten nur wenige Journalisten über HipHop
9.5 Hypothese 5: Im Fokus stehen Künstler aus den USA und Deutschland
9.6 Hypothese 6: Journalisten berichten häufig über Gangsta-Rap
9.7 Hypothese 7: HipHop wird in den Medien negativ dargestellt
9.8 Gütekriterien
9.8.1 Objektivität
9.8.2 Reliabilität
9.8.3 Validität
9.8.4 Repräsentativität
9.9 Quellenkritik

10. Zusammenfassung

11. Ausblick

12. Literaturverzeichnis

13. Anhang (digital auf CD)

Abbildungsverzeichnis und Tabellenverzeichnis

Abbildung 1: Anzahl der Artikel der Stichprobe N im Zeitverlauf

Abbildung 2: Trend über Umfang der HipHop-Berichterstattung

Abbildung 3: Anteile der Herkunftsländer der thematisierten Künstler in der Stichprobe N

Abbildung 4: Anzahl der untersuchten Artikel in der ZEIT im Zeitverlauf

Abbildung 5: Anteil und Anzahl der Artikel, die Rap thematisieren

Abbildung 6: Anteile der Artikel über Rap pro Medium

Abbildung 7: Anteil der Artikel über Rap in der Stichprobe N im Zeitverlauf

Abbildung 8: Artikelanteile sortiert nach Gattung für jedes Medium

Abbildung 9: Anteil und Anzahl der Artikel im Kulturteil der untersuchten Medien

Abbildung 10: Anzahl der Artikel im Feuilleton pro Medium

Abbildung 11: Verteilung der Artikel in den Ressorts pro Medium

Abbildung 12: Anteile der Herkunftsländer der thematisierten Künstler pro Medium

Abbildung 13: Häufigkeit der Herkunftsländer der thematisierten Künstler im Zeitverlauf

Abbildung 14: Prozentualer Anteil von Gangsta-Rap an allen 1009 Artikeln

Abbildung 15: Prozentualer Anteil von Gangsta-Rap an den 807 Artikeln über Rap

Abbildung 16: Prozentuale Verteilung des Image-Indexes pro Medium

Abbildung 17: Mittelwert vom Image-Index pro Medium im Zeitverlauf

Tabelle 1: Grundgesamtheit, Zwischenstichprobe und zu analysierende Stichprobe N

Tabelle 2: Kategoriensystem

Tabelle 3: Anteil von Gangsta-Rap an gesamter HipHop- bzw. Rap-Berichterstattung

Tabelle 4: Image-Verteilung der Rezensionen in der ZEIT und der F.A.Z

Tabelle 5: Image-Index-Verteilung der Artikel über Gangsta-Rap pro Medium

Tabelle 6: Image-Verteilung der Artikel über Gangsta-Rap pro Medium

Tabelle 7: Image-Verteilung der Artikel ohne Gangsta-Rap pro Medium

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Hinweise

Für eine bessere Lesbarkeit und aus Platzgründen werden Berufsbezeichnungen u.ä. geschlechterneutral formuliert. Sofern dies nicht möglich ist, wird nur die männliche Form verwendet, schließt aber die weibliche Form immer mit ein. Alle Abbildungen und Tabellen sind eigene Darstellungen.

Medien werden in der vorliegenden Arbeit in der von ihnen selbst angegebenen Schreibweise abgekürzt (siehe F.A.Z.) bzw. ausgeschrieben (z.B. SPIEGEL und ZEIT) und ansonsten kursiv geschrieben. Ebenfalls kursiv geschrieben werden Filmtitel und Künstlernamen. Eigennamen von Vereinen, Institutionen u.ä. werden in Anführungszeichen gesetzt.

Da diese Diplomarbeit die HipHop-Kultur zum Thema hat, tauchen sehr viele Slang-Begriffe und Jargonwörter auf. Dieser szeneninterne Sprachstil wird in der Arbeit erklärt, daher werden die einzelnen HipHop-Bezeichnungen nicht kursiv gesetzt. Dadurch soll die gute Lesbarkeit der Arbeit erhalten bleiben. Damit der Leser den Überblick nicht verliert, wurde auf der folgenden Seite ein kleines HipHop-Lexikon mit den hier verwendeten Fachbegriffen angelegt.

Kleines HipHop-Lexikon

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Danksagung

Meine erste große Liebe, für Deine Existenz möchte‘ ich Gott danken /

folg‘ Dir blind, mein Kind, bist meine Essenz, lass‘ mich nur flott tanken.

Nicht jeder mag den Reim-Sinn, doch lass‘ die anderen um Dich Spott ranken /

Du bist und bleibst mein Sinn, darfst wie bisher in meinem Herz und Kopf landen.

Du warst immer für mich da, mein Schatz, in guten wie in schlechten Zeiten /

such‘ für Dich den perfekten Satz, um Deine Gunst wollen die Besten streiten.

Bist nicht die Taube, doch der Spatz, ich will sprachliche Schätze schreiben /

bin schon ganz taub, der Kopf platzt, doch ich werd‘ als der Allerletzte bleiben.

Lass‘ uns den Weg bis zum Schluss gemeinsam gehen wie ein Tag Team /

ich will den offen und ehrlichen Kuss, nicht den künstlichen einer Drag Queen.

Bist für mich ein Muss mit ‘nem Schuss, für Dich würd‘ ich von überall wegzieh’n /

Wie ein Reicher Geld brauch ‘ ich Dich im Überfluss und werd‘ auch Deinen Speck lieb‘n!

Meine Schönheit, ich sag’s Dir hier und jetzt: Du bist mein Leben /

Du bist das Beste, das mir je passiert ist, da lass‘ ich niemanden reinreden.

Standest und stehst an meiner Seite bis zuletzt, lass‘ für Dich den Reim regnen /

weil Du mehr als ein wichtiger Teil von mir bist, Du definierst mein ganzes Sein eben.

Diese Diplomarbeit wäre ohne Hilfe nicht möglich gewesen. Deswegen möchte ich an dieser Stelle meiner Mutter und meiner Schwester danken. Für ihre bedingungslose Liebe und ihren unerschütterlichen bis naiven Glauben an mich und meine Fähigkeiten. Ich liebe euch, ihr zwei seid meine Familie!

Außerdem möchte ich mich für die fachliche Unterstützung in allen empirischen Fragen bei der hervorragenden Wissenschaftsjournalistin Franziska Badenschier bedanken, die ich für eine echte Koryphäe auf diesem Gebiet halte. Danke, Du bist für mich eine Wissenschaftsgöttin! Bisou. J

Für aufmunternde Frühstücke und Kaffeepausen möchte ich mich zudem bei meinem besten Freund, Gregor „Cräck“ Hofmeyer, bedanken. Auf Dich und Deine Loyalität kann man immer zählen, Dicker! Das Studium wäre ohne Dich verdammt langweilig und nicht halb so lustig gewesen! J

Last but not least möchte ich dem Schnonsta danken: Muchas gracias für Deine Freundschaft und Deine unbändige Liebe, señorita. Ohne Dich hätte ich die Schönheit von Dortmund nimals erkannt. P.S. Ich liebe Dich, HipHop! Pass‘ auf Dich auf und bleib‘ weiterhin bei mir. Für immer ein Team!

1. Einleitung

„Mitte Juli gab der Heinrich Bauer Verlag bekannt, dass er seine Zeitschrift ‘Bravo HipHop Sepcial‘ einstellt. Es wäre heuchlerisch zu behaupten, dass wir traurig darüber wären. Für uns stellte dieses Magazin seit seiner Gründung 2005 ein verzerrtes, reißerisches und geradezu schädliches Abbild der HipHop-Szene dar. Vieles an diesem Blatt widerte uns an: Die in den Knast- und Gangster-Geschichten proklamierten Wertvorstellungen, die absurden Verbrüderungsfotos der ‘Bravo‘-Redakteure mit den ‘Stars‘, die völlige Negation der Vielfalt der Rap-Welt“ (Juice Crew 2012).

Die HipHop-Kultur ist längst Teil der Gesellschaft geworden: Bushido erhielt 2011 den Integrations-Bambi, Künstler wie 50 Cent oder Sido sitzen bei Thomas Gottschalk auf der Couch oder spielen bei Jörg Pilawa um Geld für wohltätige Zwecke.[1] Rapper sind also Stammgäste im Fernsehprogramm und seit einigen Jahren gibt es auch musikalische Kollaborationen mit den erfolgreichsten deutschen Künstlern abseits vom HipHop.[2] Das hängt damit zusammen, dass Rap „die derzeit populärste und kommerziell erfolgreichste Jugendkultur [ist]“ (Wittmann 2009). Aktuelle Zahlen belegen das: In den vergangenen eineinhalb Jahren landeten rund 35 deutschsprachige Rap-Alben in den Charts, im Juli 2012 stieg der Newcomer Cro mit seinem Debütalbum „Raop“ mit über 60.000 verkauften Tonträgern auf Platz 1 der deutschen Albumcharts ein (vgl. Juice Crew 2012).

Doch dieser kommerzielle Erfolg von Rap und die daraus resultierende Medienpräsenz können nicht darüber hinwegtäuschen, dass HipHop häufig als „proletarische Kunstform“ wahrgenommen wird.[3] Das liegt nach Meinung von HipHop-Experten (vgl. Schieferdecker 2012) sowie Journalisten und Wissenschaftlern daran, dass der „in skandalversessenen Medien völlig überrepräsentierte [...] Pornorap beziehungsweise Gangsterrap“ (Wittmann 2009) das Image der HipHop-Kultur negativ beeinflusst. Eine empirische Studie, die diese Hypothese bestätigen würde, fehlte bisher. Das ändert sich mit dieser Diplomarbeit: Zunächst werden die Entstehung und Entwicklung von HipHop in den USA und Deutschland nachgezeichnet (Kap. 2 und 3) und die Besonderheit der Sprache im Rap herausgearbeitet (Kap. 4). Danach wird der Umgang mit der HipHop-Kultur in der Wissenschaft, der Öffentlichkeit und den Medien dargestellt (Kap. 5 und 6), insbesondere der Umgang von Musikjournalisten mit Rap (Kap. 7). Im empirischen Teil (ab Kap. 8) werden die Ergebnisse einer quantitativen und qualitativen Inhaltsanalyse der führenden deutschen Printmedien präsentiert: 1009 Artikel über HipHop aus den Jahren 2000 bis 2011 über HipHop geben Aufschluss darüber, ob die bösen Rapper schuld am Image ihrer Kultur sind – oder die Medien einseitig (negativ) berichten.

2. Die Entstehung von HipHop in den USA

„Es war einmal in Amerika... schwarze Jugendliche bemalen nachts die U-Bahnen, grell, bunt, frech. Unerkannt – die Sprühdose ist ihr Werkzeug. Mit riesigen, scheinbar sinnlosen Schriftzügen empören sie auf ihre farbgierige Weise die Bürger auf dem Weg zur Arbeit. Breakdance, rap-Musik [sic!], schrille Farbkompositionen auf Jacken und Schuhen, das ist ihre Welt – das ist hiphop [sic!]“ (Brentzel/Moormann 1987:4).

Um die HipHop-Bewegung in Deutschland nachvollziehen zu können, ist der Blick über den großen Teich unausweichlich, denn dort ist diese Kultur entstanden: „Die Geschichte von HipHop in den USA füllt inzwischen mehrere Bücher“ (Verlan/Loh 2006:112). Auf der anderen Seite darf man HipHop aber nicht nur aus der amerikanischen Perspektive betrachten, weil die Kultur sich rund um den Globus sehr unterschiedlich entwickelt hat. „Hip-hop and rap cannot be viewed simply as an expression of African American culture; it has become a vehicle for global youth affiliations and a tool for reworking local identity all over the world. Even as a universally recognized popular musical idiom, rap continues to provoke attention to local specificities” (Mitchell 2001:1f.). So ist „HipHop […] eines der besten Beispiele dafür, wie sich eine an der Musik orientierende Jugendkultur von den Straßen amerikanischer Vorstädte durch innovative Stile und mediale Vermittlung weltweit verbreitet“ (Müller-Bachmann 2002:93).

Gemeinsam ist dem Ursprung von HipHop in den USA und seiner Fortentwicklung weltweit, dass es „eine Kulturform [ist], die als Quelle alternativer Identitätsbildung fungiert“ (Rose 1997:149). Um HipHop verstehen zu können, ist ein Blick auf sein Entstehungsumfeld vonnöten: die lokalen sozioökonomischen Bedingungen in der South Bronx, die Ende der 1960er Jahre zur Geburtsstätte der HipHop-Kultur avancierte (vgl. Klausegger 2009:161ff.). Die offizielle Rate der Jugendarbeitslosigkeit lag bei 60 Prozent und das Pro-Kopf-Einkommen betrug gerade mal 40 Prozent des nationalen Durchschnitts (vgl. Chang 2005:13). Die Zukunft sah für den Nachwuchs in dieser Gegend nicht gerade rosig aus. „HipHop gilt als Kompensationsmittel Heranwach[s]ender im Zuge einer fortschreitenden De-Industrialisierung in amerikanischen Ballungszentren und der damit verbundenen Arbeitslosigkeit, Ghettoisierung sowie Chancenlosigkeit, Verelendung und Kriminalisierung“ (Bock et al. 2007:315). Vorausgegangen waren große Migrationsbewegungen der Afroamerikaner aus den Süd- in die Nordstaaten, um dem damals vorherrschenden offenen Rassismus und vor allem der gewalttätigen Übergriffe zu entgehen (vgl. Zips/Kämpfer 2001:134). So wuchsen ganze Stadtteile mit überwiegend afroamerikanischer Bevölkerung heran. Weil Ende der 1960er Jahre das ökonomische Wachstum der US-amerikanischen Industrie nachließ (vgl. Claussen 1994:11), kam es zu Massenentlassungen vor allem von Afroamerikanern – dadurch entstanden „ethnische Ghettos“ (Karrer 1996:24). Die Arbeitslosigkeit stieg an und kriminelle Banden, sogenannte Gangs (vgl. Fab 5 Freddy 1995:32), fanden sich zusammen. Bandenkriege, Gewaltzunahme, Verwahrlosung und Drogenprobleme waren die Folge, die South Bronx wurde zum „Inbegriff des Ghettos“ (Klausegger 2009:163). In dieser trostlosen Umgebung wohnten nicht nur Afroamerikaner, sondern auch Juden, Latinos sowie italienische, deutsche und irische Gemeinschaften (vgl. Rose 1997:146f.). Die allgegenwärtige Langeweile, Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit setzte aber auch viele künstlerische Kräfte frei:

„Trotz Verfall und Vernachlässigung war hier das Zentrum einer lebendigen, von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommenen zukunftsweisenden Kreativität, die nur durch diese extreme Mischung der Ethnien und ihre relative Isolation gegenüber dem Rest von New York entstehen konnte. Innerhalb der engen Grenzen der Bronx entstanden die Ausdrucksformen, die wir mit HipHop-Kultur assoziieren: Graffiti-Kunst, Breakdance, Rappen und Mixen“ (George 2002:28).

George erwähnt in diesem Zitat die vier Elemente, die im allgemeinen Sprachgebrauch dem Überbegriff HipHop zugeordnet werden; so definiert auch das HipHop-Lexikon den Begriff als „eine weltweit verbreitete Jugendkultur, die die Elemente B-Boying, Writing, DJing und Rap in sich vereint“ (Krekow et. al. 2003:5). Diese vier Ausdrucksformen entstanden im Zuge der Jugendarbeitslosigkeit. „Hip hop´s central forms – graffiti, breakdancing and rap music – developed in relation to one another and in relation to the larger society” (Rose 1997:146f.). Weil den Kids meist ein Arbeitsumfeld fehlte, verbrachten sie ihre Zeit auf den Straßen, wo sie sich in Crews organisierten, um zumindest irgendwo dazuzugehören. „Really it wasn't like your gang; it was your crew – people who came out of your neighborhood, who knew you, who would get in free every time you did a show. You'd shout their name out, you made them celebrities along with you. So those was the people that you dealt with. That was your crew” (Fricke/Ahearn 2002:90).

Außerhalb der USA wurde HipHop als Jugendkultur zunächst durch Breakdance bekannt (vgl. Verlan/Loh 2006:134). Das Tanzen war auch die erste Form, mit der HipHop in Deutschland Aufmerksamkeit erregte (vgl. ebd.:301). Graffiti tauchten zum ersten Mal Anfang der 1970er Jahre in der New Yorker U-Bahn auf, als ein arbeitsloser 17-Jähriger sein Pseudonym Taki auf Züge sprühte, um sich selbst zu verewigen (vgl. Castleman 2004:21). Er wurde ein Volksheld für die Jugendlichen, weil er in den Medien präsent war und Berühmtheit erlangte – als Rebell. Denn im „Gegensatz zu Breakdance, Rap oder Djing ist Writen illegal und somit die einzige HipHop-Disziplin, die ein echtes Risiko mit sich bringt“ (Verlan/Loh 2006:301). Das DJing geht auf Kool Herc zurück, der in der Bronx mit einem mobilen DJ-Set bei Partys auflegte (vgl. Ford 2004:41). Er verlängerte die Breakpassagen (nur Bass und Schlagzeug) von Musikstücken, indem er sie abwechselnd von zwei Plattenspielern abspielte, und kreierte so eine neue Art von Musik. Man spricht dabei von sogenannten B-beats (ebd.), im vollen Wortlaut Breakbeats. Rap schließlich ist als das letzte der vier Elemente entstanden.

Heute wird HipHop oft mit HipHop-Musik gleichgesetzt und es sind überwiegend die Rapper, die das Bild dieser Kultur in der Öffentlichkeit – besonders in den Medien – repräsentieren (vgl. Verlan 2003:140). Anfangs standen die Elemente jedoch völlig ohne Wertung nebeneinander, HipHop drückte sich in gleichwertigen Kunstformen aus (vgl. Klausegger 2009:15). Die Hauptmotivation zu rappen, zu sprühen oder zu tanzen bestand in dem Streben nach Anerkennung, Bekanntheit und Spaß. Finanzielle Gesichtspunkte spielten dabei keine Rolle (vgl. Krekow et al. 2003:13). Im Folgenden sollen die genannten Elemente skizziert werden, da sie gleichermaßen die vier „Grundsäulen“ der HipHop-Kultur darstellen.

2.1 Leg‘ die Scheibe auf, bis sie kratzt: DJing

„Kool DJ Herc. Afrika Bambaataa. Grandmaster Flash. Old School, you say? Hell, these three are the founding fathers of hip-hop music – the progenitors of the world´s dominant youth culture. For them, hip-hop is not a record, a concert, a style of dress or a slang phrase. It is the constancy of their lives. It defines their past and affects their view of the future. As Djs in the `70s, these three brothers were the nucleus of hip-hop – finding the records, defining the trends, and rocking massive crowds at outdoor and indoor jams in parts of the Bronx and Harlem” (George 2004:45).

HipHop entstand in den 1970er Jahren in New York auf sogenannten Block Partys, also Straßen- und Parkfesten. Ausgangspunkt war ein bis dato unbekannter Sound, der von einer Hand voll Leuten produziert wurde, die als „DJ“ (Discjockey oder Disc-Jockey) auftraten. Der Begriff DJ wurde zuerst von Radiomachern benutzt, die Schallplatten auflegten, doch die Radio-DJs sollten durch das neue Straßenphänomen bald in Vergessenheit geraten (vgl. George 2006:12). Denn die neue Art des Musikmachens war überaus erfolgreich: „HipHop schlug ein wie eine Bombe“ (Klausegger 2009:16). Und das, obwohl die Block Partys eher aus einer Not heraus entstanden sind: Den Jugendlichen aus den New Yorker Armenvierteln fehlte das Geld, um sich „in bombastischen Tanzpalästen […] zwischen glitzernden Lichteffekten und aufsteigendem Nebel selbst [zu inszenieren]“ (Hundgen 1989:174). Sie mussten sich also etwas anderes einfallen lassen, um sich zu amüsieren – und das taten sie auch. „They gave house parties and sometimes rented community centers in the projects to throw larger parties where they charged admission to cover expenses and make a little extra money. The story of hip-hop begins here, with a young DJ of Jamaican descent trying his hand at throwing parties” (Fricke/Ahearn 2002:23).

Also begannen lokale DJs wie Clive Campbell, besser bekannt als Kool Herc, in öffentlichen Parks, verlassenen Fabrikhallen, auf Schulhöfen und der Straße aufzulegen. Dafür brauchte ein DJ lediglich ein kleines „sound system“, also eine „mobile Kombination von zwei Plattenspielern, Mischpult, Verstärker und Lautsprecher“ (Müller-Bachmann 2002:93). Kool Herc legte bei diesen Partys nicht einfach Schallplatten auf, sondern „spielte nur die Instrumentalstellen und baute diese aus, bis sie wie neue Platten klangen“ (George 2006:36). Weil das Publikum an diesen Stellen am ausgiebigsten feierte, besorgte sich Kool Herc einen zweiten Plattenspieler und kaufte seine Lieblingsplatten doppelt, um die B-beats nach Belieben zu verlängern.

„The action in the Bronx was dominated by the b-boys, and the DJ´s job was to keep the party going and periodically create the musical space for the b-boys to take over and do their thing. The percussion breaks – where most of the band drops out, leaving the drummer and percussionists to carry the music – were the parts that the b-boys liked, and the hip-hop forefathers developed a way to extend those breaks, alternating between the same section of the song on two records on different turntables” (Fricke/Ahearn 2002:23).

Kool Herc erkannte als Erster das Potenzial dieser öffentlichen Partys für Jugendliche, die entweder noch zu jung für die Disco waren oder es sich schlicht nicht leisten konnten. „And all these youths needed somewhere to party” (Chang 2005:77). Er erkannte auch, welche Art von Musik sie bevorzugten: „They didn´t want to hear the smooth songs […]. They liked funk, music that sounded raw and angry like James Brown. They preferred songs with long breakdown sections, or „breaks“, […] which had a drum break that lasted two full minutes” (Charnas 2010:16). Deswegen gilt der aus Jamaika stammende Clive Campbell bis heute als einer der „Urväter“ des HipHop (vgl. Fricke/Ahearn 2002:23). Seine innovative Art Musik zu machen war an sich keine große Energieleistung, aber die Wirkung war gigantisch: Der DJ wurde von einem „Handlanger der Musiker“ selbst zu einem Musiker (vgl. Charnas 2010:17). Zu den weiteren Gründungsvätern des HipHop zählen Afrika Bambaataa (bürgerlich Lance Kahyan Aasim) und Grandmaster Flash (bürgerlich Joseph Saddler, vgl. George 2004:45ff.). Sie setzten die Experimente von Kool Herc fort.

Erst durch den sogenannten Scratch nämlich „wurden Plattenspieler und Mischpult endgültig zum Instrument, mit dem eine ganz eigene Klangwelt erzeugt werden kann“ (Verlan/Loh 2006:129). Der Scratch ist ein Kratzen, das entsteht, wenn ein DJ eine Platte vorsichtig unter der Nadel des Plattenspielers hin und her bewegt. So können auch Rap-Passagen oder einzelne Wörter beliebig oft wiederholt werden. Einer Legende zufolge ist die Technik des Scratchens auf Grandwizard Theodore (auch Grand Theodore, vgl. George 2006:36), einen DJ-Kollegen von Grandmaster Flash, zurückzuführen. So habe dieser seine Platte abrupt mit der Hand stoppen müssen, weil seine Mutter an die gehämmert und verlangt habe, die Musik leiser zu stellen (vgl. Verlan/Loh 2006:129). Grandmaster Flash schließlich verfeinerte diese Technik und begeisterte sein Publikum, indem er „mit den Ellenbogen und der großen Zehe scratchen konnte“ (ebd.:130). Er hatte von den Gründungsvätern den größten wirtschaftlichen Erfolg (vgl. George 2006:36), was vor allem daran lag, dass er sich selbst inszenieren konnte und aus seinen Auftritten eine große Show machte. „Im Unterschied zu Herc, der über seinem Plattenteller kauerte und sich kaum dem Publikum zuwandte, tat Flash alles für die Unterhaltung.

Afrika Bambaataa war häufig Gast bei den Auftritten von Kool Herc und legte später selbst auf. Er erweiterte das musikalische Spektrum um afrikanische und karibische sowie besonders elektronische Komponenten (vgl. George 2005:18). Bambaataa gründete 1974 die sogenannte Zulu Nation, einen losen Zusammenschluss aus DJs, Breakdancern und Graffiti-Künstlern. Die Zulu Nation propagierte den Verzicht auf Gewalt und versuchte, auf harmonische Weise ein ähnliches Identifikationsgefühl wie eine Crew oder eine Gang zu erzeugen (vgl. George 2006:38). „Im Laufe der Jahre konnten durch die Vermittlung von Bambaataa und der Zulu Nation viele HipHop-Streitigkeiten beigelegt werden“ (ebd.). Aber auch die Zulu Nation behielt den Bezugsrahmen „Straße“ bei:

„Wer Mitglied in der Zulu-Nation werden wollte, mußte [sic!] besonders gut tanzen, sprühen oder Platten auflegen können. Der Wettbewerbsgedanke war von Anfang an Teil der HipHop-Kultur. […] So ist es kein Wunder, daß [sic!] Afrika Bambaataa, der Anführer der Zulu-Nation, sich als außergewöhnlicher DJ hervortat. Er war neben Kool Herc und Grandmaster Flash der erste, der mit ‘Breakbeats‘ arbeitete, wobei ihm der Ruf vorauseilte, die abstrusesten Platten aufzulegen“ (Blümner 1999:256).

Diese drei DJs veränderten die Musik nachhaltig und kreierten einen neuen Sound, der als HipHop in die Geschichte eingehen sollte. Außerdem waren die DJs durch die von Herc erfundenen „breakbeats“ maßgeblich an einem neuen Tanzstil beteiligt, der sich zeitgleich peu à peu entwickelte, denn „DJing […] und Breakdance passten wie die Faust aufs Auge“ (Klausegger 2009:171).

2.2 Dreh‘ dich und tanz‘ um dein Leben: Breaking

„Breaking war spektakulär, gefährlich und seinem Wesen nach ein Wettkampf. Während Rapper mit Plattenverträgen ihre Hingabe zum HipHop in Worte fassen, gibt es Tänzer, die sich seit zwanzig Jahren auf dem Kopf drehen […] und sich mit dem einen oder anderen Werbevertrag mit einer Klamottenmarke, hartem körperlichem Einsatz und winzigen Gehältern über Wasser halten“ (George 2006:33).

B-Boys (auch Break-Boys) waren HipHop-Fans oder -Aktivisten, die die Musik auf ihre Weise interpretierten und anfangs eher ungebetene Gäste waren, da sie sich häufig Wettkämpfe lieferten und die „Normalos“ vom Tanzen abhielten (vgl. Fab 5 Freddy 1995:13f.). „The b-boys […] who carried the hip hop attitude forth were reacting to disco, to funk, and to the chaotic world of New York City in the '70s. These b-boys (and girls) were mostly black and Hispanic. They were hip hop's first generation“ (George 2005:VI).

Vor allem die Kids machten das Tanzen in den Straßen populär: Weil sie noch zu jung für die Clubs waren, trafen sie sich an öffentlichen Plätzen, um sich außerhalb der Discos auszuleben. In den Parks waren viele Jugendliche mit sogenannten Ghettoblastern (tragbare, batteriebetriebene Radios) unterwegs (vgl. Chang 2005:114ff.). Doch erst die lateinamerikanischen Einwanderer machten Breakdance zu einem Wettkampf, einer gewaltlosen Auseinandersetzung: „Bewaffnet mit Kartons oder Linoleumfetzen, nicht mit Pistolen oder Messern, formten sie einen Kreis, in dessen Mitte je zwei Tänzer miteinander kämpften“ (George 2006:34). Der Begriff leitet sich von den breaks der DJs (vgl. Kapitel 2.1) ab; die Tänzer nutzten diese „Pausen“, um spektakuläre Bewegungen zum Besten zu geben, die viel Körperbeherrschung erforderten (vgl. Schwann 2002:54). Das „Kämpfen“ war also harmlos, vergleichbar mit einem sportlichen Messen körperlicher Fähigkeiten. „Gruppen von Breakdancern forderten rivalisierende Gruppen heraus und verabredeten sich mit ihnen auf einem Spielplatz, an einer Straßenecke oder bei einer U-Bahn-Station“ (George 2006:34). Jedes Gangmitglied musste sein Können unter Beweis stellen und jeweils die Bewegungen seines Gegenübers geschickt kontern. Die Bewegungen ähnelten dabei häufig Kung-Fu-Bewegungen, weil asiatische Kampffilme à la Bruce Lee zu dieser Zeit sehr modern waren. „In fact, the line between dance and martial arts was thin” (Chang 2005:115).

Der Erfolg hing von den Fähigkeiten aller Mitglieder ab, Breakdance kann daher als Mannschaftssport angesehen werden. Die einzelnen Teams – besser: Crews – versuchten sich bei einem Tanz zu übertreffen, der völlig neu war und sich aus unterschiedlichen Tanzstilen wie beispielsweise Capoeira, Steptanz und Salsa neu zusammensetzte (vgl. Klausegger 2009:170f.). „Indem er Achsen und Zentren überall im Körper verstellbar macht, bricht er radikal mit der Tradition des europäischen Tanzes und eröffnet ganz neue Spielräume für bis dahin unvorstellbare Körper-Figuren“ (Klein/Friedrich 2003:32). Die Crews versuchten sich einander hinsichtlich Kreativität, Akrobatik und Athletik zu übertreffen, „was die Entwicklung von Breakdance auch sehr vorantrieb, weil neue Techniken und Stile entwickelt wurden [...], um als Sieger aus dem Wettbewerb hervorzugehen“ (Klausegger 2009:171). Ein interessanter Nebenaspekt: Durch Breakdance ist die Mode entstanden, Baseball-Mützen (sogenannte Basecaps) verkehrt herum oder seitlich aufzusetzen. Da sich die Tänzer häufig auch auf Kopf und Nacken gedreht haben, wäre der Schirm der Mützen bei den Tanzbewegungen im Weg gewesen (vgl. George 2006:34). Auch heute noch ist diese Mode im HipHop weit verbreitet, man sieht es in den Straßen ebenso wie in Musikvideos und modernen Tanzfilmen wie der Step Up -Reihe.

Es waren vor allem die B-Boys, die die musikalische Entwicklung in der Anfangszeit beeinflussten: „Ihr Geschmack zählte, und ihre Verwendung bestimmter Tracks zum Breakdancen sowie ihre Forderung, sie auf Partys zu spielen, prägten den ersten Sound des HipHop“ (George 2006:35). Der extrovertierte Tanzstil legte zudem den Grundstein für HipHop als amerikanisches Exportgut: „HipHop fand mit Breakdance überall Beachtung und es war allen klar, dass dieses Phänomen aus den USA kam“ (Verlan/Loh 2006:136). In Deutschland wurde Breakdance medial vor allem durch die Berliner Gruppe Flying Steps bekannt, die auch schon bei der Weltausstellung Expo 2000 in Hannover aufgetreten ist und Jahr für Jahr Preise bei Tanzmeisterschaften abräumt (vgl. Schwann 2002:54f.). Vorreiter für deren Erfolg waren US-amerikanische Kinoproduktionen wie Wild Style (1982), Style Wars (1983) und Beat Street (1984), die HipHop thematisierten und vor allem Breakdance „bis in die hintersten Winkel der Provinz [verbreiteten]“ (Verlan/Loh 2006:301).

Graffiti hingegen – aus dem Englischen auch bekannt als Taggen und Writen – erlebte nie einen solchen medialen Hype. Wahrscheinlich deshalb, weil es als einzige HipHop-Disziplin nach wie vor illegal ist (vgl. ebd.): Die Grenze zwischen Kunst und Vandalismus ist dünn.

2.3 Zeig‘, dass du da warst: Writing

„Das Besondere am Writing ist, dass es nach wie vor in der hauptsächlich praktizierten Form illegal ist. Deswegen ist es zwar relativ verbreitet, kann aber auf bestimmte Formen der Medienpräsenz nicht zurückgreifen. Bezüge zwischen Maler und Bild sind in der Regel nicht herstellbar. Während ein HipHopper […] durchaus Interesse daran hat, bei der Allgemeinbevölkerung bekannt zu werden, […] ist das für einen Writer nicht erstrebenswert. Darin besteht der eigentliche Unterschied dieser verwandten Szenen“ (Van Treeck 2003:102).

Die Entstehung von Graffiti ist nicht unmittelbar auf die 1970er Jahre in New York zurückzuführen. „Graffiti has been around since man encountered his first stone wall” (George 2005:11). Denn sobald der Mensch dazu fähig war, primitive Zeichnungen an eine Höhlenwand zu kritzeln, kann man vom Ursprung von Graffiti sprechen (vgl. Siegl 2000:5). „Graffiti ist so alt wie die ältesten Steinmauern. Vieles von dem, was wir über die Frühgeschichte wissen, stammt von Bildern und Symbolen, die vor Jahrtausenden irgendwohin geschmiert wurden“ (George 2006:28). Als sich das Papier dann durchsetzte, galt Graffiti-Kunst „als Rückfall in unzivilisierte Zeiten, was sicherlich der Grund ist, warum das, was wir Graffiti nennen, sich so lange gehalten hat“ (ebd.). Denn besonders für die Jugend stellt Graffiti-Kunst Rebellion dar, eine Art Mutprobe unter Gleichgesinnten, die sich der Gesellschaft nicht zugehörig fühlen. Dieses Kapitel beschränkt sich wegen der thematischen Ausrichtung dieser Arbeit auf die Graffiti-Kunst im HipHop-Umfeld.

Unter einem sogenannten Tag (engl. für Etikett, Schild) versteht man in der HipHop-Sprache eine Signatur an einer öffentlichen Wand oder Fläche mit dem eigenen Pseudonym, dem eigenen Künstlernamen (vgl. Klausegger 2009:171). Daraus leitet sich das Wort Tagging ab. Gleichbedeutend, nur weniger häufig, spricht man von einem Piece (vgl. Domentat 1994:8), obwohl dieser Begriff im Hip Hop-Slang auch mit Handfeuerwaffe und Haschisch (vgl. Fab 5 Freddy 1995:53) besetzt ist. Weil der Künstler für gewöhnlich den eigenen Namen, den der Lieblingsband oder des Lieblingsvereins schreibt, spricht man auch vom Writing (to write, engl. für schreiben; vgl. Chang 2005:118). Denn die ersten Schreibversuche des Menschen beziehen sich häufig auf den eigenen Namen. Und weil die Künstler meist mit Sprühdosen hantieren, spricht man im öffentlichen Sprachgebrauch auch von den Sprayern (vgl. Brentzel/Moormann 1984:4). Ist ein Tag besonders groß und auffällig, und verziert beispielsweise ganze Zugabteile, ist vom Bomben die Rede, also dem kunstvollen und positiv besetzten Zerstören einer neutralen Fläche (vgl. Domentat 1994:8).

Der erste Sprayer, der medial Berühmtheit erlangte, war der bereits erwähnte Taki 1831 ), der die New Yorker U-Bahn mit seinem Pseudonym vollkritzelte. Im Juli 1971 tauchte er in einer Ausgabe der New York Times auf (vgl. ebd.) und fand so unzählige Nachahmer. „Es ging diesen Einwanderer-Kindern, die sich selbst als ‘Writers‘, als Schriftsteller sahen […], darum, Phantasienamen, ihre Tags, so oft wie möglich und so bunt und groß und ornamental wie möglich mit Farbsprühdosen in der Stadt zu platzieren – um selbst sichtbar zu werden“ (Karcher 2008). Heute haben einige der Jugendlichen von damals Karrieren gemacht, weil ihr Talent von Galeristen und anderen Künstler wie Andy Warhol entdeckt wurde (vgl. ebd.). In den 1970er Jahren ging es allerdings hauptsächlich darum, die Stadt mit dem eigenen Namen zu tätowieren, um auf sich selbst aufmerksam zu machen. „Und das muss aus der Perspektive dieser an den Rand gedrängten Menschen verstanden werden, dieser marginalisierten Menschen, die ansonsten nicht wahrgenommen, nicht beachtet werden, denen die Partizipation an der Gesellschaft verwehrt, denen kaum Raum zum Leben gewährt wird und die keinen Platz in der Gesellschaft haben“ (Klausegger 2009:172).

So drückt jedes Tag auch ein „Ich war hier“ aus, es sind „Zeichen von Individualität und Anarchie, die in unserer Gesellschaft kaum mehr möglich erscheinen“ (Verlan/Loh 2006:302). Graffiti-Kunst besteht zumindest in der HipHop-Szene zum großen Teil aber aus purer Rebellion. „Street art, Post Graf, Urban Art – call it what you like, in it´s raw essence it´s all about leaving your mark. A trace of existence, to taunt or humour the public as well as a liberating F*** You to the powers that deem our work vandalism” (D-Face, zit. nach Hundertmark 2003:6).

Die Writer verfolgten mit dem Besprühen und Bemalen von öffentlichen Plätzen, Gebäuden und Fahrzeugen durchaus ein Ziel: „Der Grundgedanke, die Hauptmotivation, warum Graffiti überhaupt gemacht werden, ist Werbung für sich selbst zu machen“ (Van Treeck 2003:103). Die Sprayer selbst bezeichnen ihre Tags meist als Kunst, genauer gesagt Straßenkunst (vgl. Justin Kees, zit. nach Hundertmark 2006: 9). Die verarmten und teilweise verwahrlosten Jugendlichen in New York fanden mittels Graffiti einen Weg, um auf sich aufmerksam zu machen. Das Verbot machte die Angelegenheit umso reizvoller. „Since this activity was as illegal as it was fun, these teens gave themselves flamboyant new names, called „tags“, that protected them from discovery and gave their work an air of mystery” (George 2005:11).

Die junge Generation konnte also nach Lust und Laune rebellieren, ohne große Konsequenzen fürchten zu müssen. „Thus writers under the age of sixteen could only be given a lecture, not a summons, even if they were caught in the act of writing on the walls” (Castleman 2004:21). Die jungen Graffiti-Künstler versuchten daher, sich zu verewigen, sich selbst zu übertreffen. Sie waren per Gesetz weitgehend vor hohen Strafen geschützt, es drohten „lediglich“ Freizeitarrest oder einige Arbeitsstunden (vgl. Brentzel/Moormann 1987:4). Die Jugendlichen wollten ihr Vorbild Taki nachahmen und zur neuen Stadtberühmtheit in New York werden.

„By the mid-1970s, graffiti took on new focus and complexity. No longer a matter of simple tagging, graffiti began to develop elaborate individual styles, themes, formats, and techniques, most of which were designed to increase visibility, individual identity, and status. Themes in the larger works included hip hop slang, characterizations of b-boys, rap lyrics, and hip hop fashion. Using logos and images borrowed from television, comic books, and cartoons, stylistic signatures, and increasingly difficult executions, writers expanded graffiti´s palette” (Rose 1994:42).

Das Risiko, inhaftiert zu werden, stieg mit jedem Lebensjahr deutlich an. „Adult writers could be charged with malicious mischief and sentenced to up to a year´s imprisonment” (Castleman 2004:21). Und so verwundert es nicht, dass Taki in einem Interview mit der New York Times am 21. Juli 1971 zugab, mit seiner Volljährigkeit wesentlich vorsichtiger in Bezug auf seine Sprühaktivitäten geworden zu sein (vgl. ebd.). Doch auch wenn Graffiti häufig ein „öffentliches Ärgernis“ darstellen, sind sie doch ein Teil der modernen Stadtkultur geworden. „Als Möglichkeit, ungewöhnliche Ansichten zu verbreiten und Gebiete zu markieren, oder einfach um eine kunterbunte Sauerei anzurichten, wird Graffiti niemals verschwinden. Dafür ist Graffiti zu wichtig und macht zu viel Spaß“ (George 2006:28).

Im Gegensatz zu Graffiti war der Sprechgesang anfangs nur eine Begleiterscheinung von HipHop. Wie die Rapper selbst zu Stars wurden, erläutert das folgende Kapitel.

2.4 Dichter der neuen Generation: MCing

„Es war Grandmaster Flash, der auf die naheliegende und dennoch weit reichende Idee kam: Er holte sich ein paar geschwätzige Jungs auf die Bühne, die mit lockeren Sprüchen, Anfeuerungsrufen und lustigen Reimen das Publikum von den Tricks des DJs ablenkten und wieder zum Tanzen brachten. Die Rapper machten diesen Job so gut, dass bald niemand mehr etwas vom DJ wissen wollte, stattdessen wurden sie selbst zu den neuen Stars der Szene“ (Verlan 2003:140).

Der Begriff HipHop ist in der modernen Literatur häufig gleichbedeutend mit HipHop-Musik, also mit Rap. „Rapping, the last element to emerge in hip hop, has become its most prominent facet” (Rose 1994:51). „To rap“ (Engl. für klopfen, stoßen) bedeutete ursprünglich etwas zu erzählen, zu schwätzen oder einen längeren Monolog zu halten (vgl. Verlan/Loh 2006:114). „‘Rapping‘ is understood as a form of entertainment by which a ’man of the words‘ performs speaking verse to rhythmic accompaniment and in which virtuosity, spontaneity and the manner of performance are important. Movement plays an important role in this, for it underlines the meaning of the words (‘dancing his words’)” (Neumann 2000:58). Obwohl sich das Rappen chronologisch gesehen als letzte „Disziplin“ des HipHop herauskristallisierte, entwickelte sich der Sprechgesang rasant zum medial am meisten beachteten, wirtschaftlich erfolgreichsten, kurz: wichtigsten Element; die anderen Kunstformen müssen stärker um ihre Daseinsberechtigung kämpfen (vgl. Androutsopoulos 2003:16).

Im afroamerikanischen Sprachgebrauch wird der Begriff Rap schon seit 1870 verwendet; er bezeichnet eine besondere Form des Sprechens. Seit Mitte der 1940er Jahre bezeichnet das Wort einen rhythmischen Sprechgesang mit oder ohne Hintergrundmusik (vgl. Poschardt 2001:153f.). Über die Entstehung des Begriffs HipHop ranken sich hingegen unterschiedliche Legenden. Eine besonders schöne davon besagt, dass DJ Hollywood, ein DJ aus Harlem, sein Publikum während des Drehens der Plattenteller mit den Worten „‘To the hip-hop the hippy hippy hippy hop and you don’t stop‘“ (Fab 5 Freddy 1992:36) angefeuert habe. Andere, beispielsweise DJ Kool Herc, führen den Begriff auf „Hype Music“ zurück. Die Hype Music war das, was damals im „Hop“ (so wurden die Discos zu jener Zeit bezeichnet) aufgelegt wurde. Und so sei dann aus „Hype at the Hop“ eben HipHop geworden (vgl. ebd.). Einer anderen Theorie zufolge sei der Begriff schon vom amerikanischen Führer der Black Power-Bürgerrechtsbewegung, Malcolm X, als Bezeichnung für jugendliche Tanzpartys verwendet worden. Später habe Afrika Baambaata diese Bezeichnung dann erweitert, indem er sie auf die gesamte Hip-Hop-Kultur bezog. HipHop stehe seit diesem Zeitpunkt also nicht mehr nur für die Musik (DJing und MCing), sondern für das gesamte kulturelle Umfeld, was auch Ideologien, Auftreten und Geisteshaltungen einschließe (vgl. Poschardt 2001:154f.).

Bevor die Rapper ihren Siegeszug antraten und HipHop „übernahmen“, hatten noch andere Akteure das Sagen. „In the earliest stages, DJs were the central figures in hip hop; they supplied the break beats for breakdancers and the soundtrack for graffiti crew socializing” (Rose 1994:51). Der Begriff HipHop stand also zunächst für die Mischung beziehungsweise Aufteilung der Musik in DJ und MC; MC kommt aus dem Englischen und steht für Master of Ceremonies, Microphone Checker oder Microphone Controller . So nannte man früher den Moderator der DJ-Shows, der etwas später dann zum Rapper wurde. Anfangs war daher der DJ die wichtigere Person (vgl. Hebdige 2004:223). „The MCs 'rap' – speak and in some cases half sing – their lines in time to rhythms taken from records” (ebd.). Der MC entstand so als eine Art Nebenprodukt des DJs, weil der – wie beispielsweise Grandmaster Flash (vgl. Kapitel 2.3) – zu sehr mit seiner neuen und komplizierten Technik des Auflegens und des Scratchens beschäftigt war: „Schon immer hatten die DJs mit lockeren Sprüchen die Stimmung im Saal angeheizt. Aber das allein schien plötzlich nicht mehr auszureichen beziehungsweise die DJs waren zu sehr mit ihren Breakbeats beschäftigt und konnten sich nicht mehr wirklich um ihr Publikum kümmern“ (Verlan/Loh 2006:130).

Fortan war es die Aufgabe des MCs, das Publikum bei Laune zu halten und wieder auf die Tanzfläche zu locken, anstatt es staunend vor dem DJ-Pult stehen zu lassen (vgl. ebd.). Der MC war zunächst nur der Handlanger des DJs und quasi dessen Angestellter. In der Literatur gibt es viele Hinweise darauf, dass Grandmaster Flash der erste DJ gewesen ist, der auf die Idee kam, „ein paar geschwätzige Jungs“ (Verlan 2003:140) auf die Bühne zu holen. Diese Jungs nannten sich The Furious Five und bildeten mit Grandmaster Flash eine Crew, der noch viele weitere folgen sollten (vgl. Klausegger 2009:167). Das neue Feld des MCing, also das vierte Element von HipHop, war geboren.

So bestand das musikalische Element von HipHop in den Ursprungsjahren lange nur aus den DJs und ihrer Plattensammlung sowie den MCs: „In dieser reduzierten Live-Besetzung, klanglich durch die mitunter komplex instrumentalisierten Beats des DJ angereichert, erhält die Stimme des Rappers oder der Rapperin großes Gewicht. Von der Stimme hängt in dieser minimalistischen Besetzung viel ab“ (Hörner/Kautny 2009:7). Ein MC lebte daher (und lebt noch heute) zum großen Teil vom Klang seiner Stimme:

„Ohne die geringste Ankündigung trat ein junger Mann ans Mikrofon und erdete die spannungsgeladene Stimmung, er beruhigte die Atmosphäre im Raum mit einem einzigen Ausruf. ‘YO!‘ Dieser tiefe, unfassbar tiefe Laut (der ganz sicher tiefer war als der gesamte Rest) erschütterte buchstäblich den Club mit seiner Sonorität, sein machtvolles Grollen ließ das Geschnatter des Publikums verstummen und verlangte sofortige Aufmerksamkeit – alle Augen richteten sich auf die Bühne“ (Forman 2009:23).

Weil die MCs ähnlich wie beim DJing (vgl. Kapitel 2.3) immer neue Techniken erfanden, um sich selbst zu übertrumpfen, rückten die DJs nach und nach in den Hintergrund und die Rapper wurden zu den neuen Nutznießern der Szene (vgl. Verlan 2003:140). Die ersten Stars, die damit auch Geld verdienen konnten, waren die Mitglieder der S ugarhill Gang mit ihrem Song „Rapper‘s Delight“ aus dem Jahre 1979 (vgl. Charnas 2010:29). Interessanterweise war die Sugarhill Gang eine Retortenband, deren Mitglieder der Szene völlig unbekannt waren (vgl. Klausegger 2009:185). Die Rapper kannte kaum jemand – umso besser kannte man dafür ihre Texte. Die waren nämlich schlicht zusammengeklaut von den damaligen Stars der Szene (vgl. Verlan/Loh 2006:114).

Anhand dieses Vorfalls lässt sich das Phänomen erklären, warum HipHop und Rap-Musik heute ein und dasselbe zu sein scheinen: Mit der Musik ließ sich im Vergleich zu den anderen HipHop-Elementen leichter und mehr Geld verdienen. „Unlike breakdancing and graffiti, rap music had and continues to have a much more expansive institutional context within which to operate. Music is more easily commodified than graffiti, and music can be consumed away from the performance context” (Rose 1994:58). Die Konsequenz: Auch wenn die vier Elemente der HipHop-Kultur im Idealfall gleichberechtigt nebeneinander stehen, so liegt der Fokus sowohl in der Wissenschaft als auch in den Medien (vgl. Kapitel 5) auf dem Rap (vgl. Androutsopoulos 2003:16). Denn auch wenn die Rapper der Sugarhill Gang in der Szene milde belächelt wurden, war „Rapper‘s Delight“ (mehr als zwei Millionen Verkäufe) der Auftakt zu einer breiteren Wahrnehmung von HipHop in der medialen Öffentlichkeit. „Mainstream music journalists had begun to take note of the new trend” (Fricke/Ahearn 2002:177). Und auch in den Chefetagen der Plattenlabels entdeckten findige Geschäftsmänner das Potenzial dieser neuartigen Musik (vgl. Klausegger 2009:86). So bekamen dann auch die „echten“ Rapper der Szene ihre Chance, Platten zu veröffentlichen, und HipHop wurde zum Trend auserkoren (vgl. Verlan/Loh 2006:114f.). „More great records that were actually quite representative of the Bronx scene followed […]. Hip-hop had become a business; now it was on its way to becoming national” (Fricke/Ahearn 2002:177). Ende 1980 gab es mit der Single „The Breaks“ von Kurtis Blow die erste Goldene Schallplatte für einen Rapper (vgl. ebd.). Ein vor allem inhaltlicher Meilenstein gelang Grandmaster Flash & The Furious Five 1982 mit ihrer Single „The Message“:

„Plötzlich redeten die Rapper nicht mehr nur davon, wer am besten reimen kann, wer die meisten Mädchen bekommt oder die besten Partys veranstaltet, plötzlich handelten die Texte vom Leben in den Gett[h]obezirken[.] Rap redete nicht mehr bloß, Rap hatte etwas zu sagen und fand damit seine eigentliche Bestimmung“ (Verlan/Loh 2006:115).

Obwohl die HipHop-Kultur mit rund vierzig Jahren eine sehr junge Bewegung ist, haben sich neben den klassichen Elementen weitere HipHop-spezifische Disziplinen herausgebildet.

2.5 HipHop als lebendige Kultur: Die neuen Elemente

„Um HipHop völlig verstehen zu können, braucht man vermutlich einen Abschluss in Soziologie, mehrere Knastaufenthalte und ein Gefühl für afrikanische Rhythmen. Immer wenn ich denke, jetzt hab ich‘s kapiert, gibt es eine neue Entwicklung, eine neue Sichtweise auf die HipHop-Kultur und das Land, das sie hervorbrachte“ (George 2006:10).

Die vier genannten Elemente waren und sind (zumindest innerhalb der Szene) zu gleichen Teilen wichtig: „Hiphop ist halt ein Dachbegriff für das Ganze, das ist ein Haus und hat vier bis fünf Säulen. Graffiti, Rappen, Breakdance und Djing. Und die Säulen muss man wirklich verstehen“ (Amigo von den Flying Steps, zit. nach Schwann 2002:52). In manchen Arbeiten kommt noch der sehr allgemeine Style als fünftes Element hinzu (vgl. Charnas 2010:X), wobei unklar ist, worauf sich dieser bezieht. Auf die Kleidung, auf die Gestik und Mimik, auf den Flow? Irgendwie wohl auf alles, je nachdem, in welcher Disziplin sich ein Künstler zu Hause fühlt, ob er also als Tänzer, Sänger, Sprayer oder DJ unterwegs ist. Stil oder Style fungiert innerhalb der HipHop-Szene als Mittel zur Identitätsbildung. In der Soziologie bezeichnet der Begriff Stil die „typische Art des kognitiven Verhaltens“ (Fuchs-Heinritz et. al. 2011:659) und auch die „absichtliche Kommunikation“ (Hebdige 1998:392). Die unterschiedlichen Fähigkeiten der HipHop-Protagonisten werden innerhalb der Szene als Skills (oder Skillz) bezeichnet; sie drücken das „Wissen um eine bestimmte Handlungspraxis“ aus, ein Protagonist eignet sie sich durch eine „fortlaufende künstlerische Beschäftigung“ (Menrath 2001:73) an. Der eigene Style eines Künstlers konstituiert sich also durch die individuelle Herangehensweise an seine eigenen Skills. Anders ausgedrückt: Der individuelle Style beschreibt die Identität eines Künstlers. Diese Identität muss aber keinesfalls die (natürliche) Persönlichkeit des Künstlers widerspiegeln, sondern kann innerhalb der HipHop-Szene neu entstehen und ausgelebt werden; ob sie dann auch Einfluss auf die Persönlichkeit außerhalb der Szene hat, ist nicht relevant (vgl. ebd.:75).

DJ Mesia aus Berlin hat für sich ein ganz persönliches fünftes Element entdeckt: das sogenannte Beatboxing (vgl. Verlan/Loh 2006:64ff.). Beatboxing bezeichnet mit dem Mund erzeugte beatartige Töne, die besonders in der Anfangszeit der Rap-Kultur als Unterstützung der MCs dienten: „Für manche das vergessene fünfte Element der Kultur“ (ebd.:439). Im allgemeinen Sprachgebrauch gilt Beatboxing eher als unterhaltendes Nebenprodukt von DJing und MCing. Nichtsdestotrotz gab es bereits 2003 die erste Deutsche Beatbox-Meisterschaft; 2004 gab es dann Ausscheidungen in Europa, Kanada, Afrika, Japan und den USA. Die sechzehn besten Beatboxer trafen schließlich 2005 in Leipzig bei der ersten (inoffiziellen) Beatbox-Weltmeisterschaft aufeinander (vgl. Verlan/Loh 2006:66).

Es lässt sich daher zusammenfassen: Neben den unstrittigen Grundsäulen der HipHop-Kultur haben sich im Laufe der Zeit weitere Elemente herausgebildet. So zählt beispielsweise die HipHop Academy in Hamburg, ein Non-Profit-Projekt für Jugendliche zwischen 13 und 20 Jahren, neben Beatboxing auch Producing und Newstyle-Dance zu den „relevanten Sparten der HipHop-Kultur“ (vgl. HipHop Academy 2012). Producing bezeichnet dabei das (elektronische) Basteln an und Erfinden von Soundcollagen, sogenannten Beats. Das Besondere daran: Ein HipHop-Producer benötigt kaum musikalisches Vorwissen, sondern lediglich Kenntnisse im Umgang mit Soundprogrammen und ein Gespür für gute Rhythmen. Mit dem klassischen DJing hat Producing daher nichts zu tun. Ein sehr lebendiges Element ist besonders auch das Breaken, das sich stetig weiterentwickelt und mit anderen Tanzarten wie Ballett vermischt.

Das bekannteste und am meisten beachtete Element der HipHop-Kultur bleibt aber Rap; in der Öffentlichkeit wird „HipHop oft nur als eine […] Musikrichtung“ (Keller 2008) wahrgenommen. Da sich Rap stetig weiterentwickelt und verändert, stößt man in der Literatur auf verschiedene musikalische „Epochen“, sogenannte Schulen.

2.6 From Old School to New School to Next School

„[I]nnerhalb des HipHop selbst scheint es eine Kluft zwischen den Generationen zu geben. Diese deutet sich an, wenn ältere HipHop-Anhänger erkennen, dass die einstmals bevorzugte legere, weite Sportkleidung in vielen sozialen Kontexten unpassend wirkt, wenn Rap-Musik sie nicht mehr direkt anspricht und wenn für sie HipHop-Klubs und Parties zu fremdartigen Plätzen avancieren, an denen sie kaum noch toleriert werden“ (Forman 2007:30).

Wir erleben mittlerweile die dritte Generation von HipHop-Fans weltweit, viele der einstigen Pioniere befinden sich jetzt im mittleren Lebensabschnitt und sind selbst Eltern oder sogar schon Großeltern (vgl. ebd.:31). Das ist insofern spannend, als offensichtlich Brüche hinsichtlich des Musik- und Kleidungsgeschmacks zwischen den Generationen existieren und „der Großteil der HipHop-Forschung immer noch einen jugendlichen Charakter des HipHop als selbstverständlich annimmt“ (ebd.). Die Brüche zwischen den Generationen manifestieren sich unter anderem in den Begriffen Old, New und Next School .

Der französische (Musik)Journalist David Durfresne bezieht die Old School hauptsächlich auf die sogenannten Pioniere der HipHop-Kultur, also die DJs der ersten Stunde wie Kool DJ Herc, Grandmaster Flash und Afrika Bambaataa (vgl. Kapitel 2.1). Als Rapper der ersten Stunde gelten dann die Sugarhill Gang, Kurtis Blow und The Furious Five (vgl. Dufresne 1997:39ff.). Diese Einteilung ist unstrittig, die genannten Künstler werden in jeder HipHop-Publikation als Pioniere bezeichnet. Als Old School wird demnach jener HipHop bezeichnet, der bis Mitte der 1980er Jahre zum größten Teil an der Ostküste der USA produziert wurde. Inhaltlich betrachtet handelte es sich dabei primär um Partymusik, die die Menschen zum Tanzen animieren sollte: „Bis auf wenige Ausnahmen war dieser HipHop Fun -HipHop und hatte keinerlei politischen Anspruch [H.i.O.]“ (Klausegger 2009:192).

Ab Mitte der 1980er Jahre schien dann eine neue Stoßrichtung im Rap nötig geworden zu sein, weil eine gewisse Orientierungslosigkeit herrschte, die einem musikalischen und kreativen Stillstand gleichkam (vgl. Toop 1992:210). Das US-amerikanische Graffiti-Urgestein Fab 5 Freddy bezieht die New School daher auf Artisten und Gruppen, die Rap ab etwa 1988 veränderten, weil sich ihre Ideen, Beats und Sounds von allem unterscheiden, was es vorher gab (vgl. 1995:49). Der chronologische Wechsel von der Old zur New School wird in der Literatur allerdings uneinheitlich erfasst.

Die einen führen technische Innovationen und dadurch bedingt eine höhere Qualität der Musik an (vgl. Buhmann/Haeseler 2001:12). Ab Mitte der 1980er Jahre gab es beispielsweise den sogenannten „Drum Computer“, der es ermöglichte, beliebige Klänge aufzunehmen und digital abzuspeichern, also rein elektronische Musik zu produzieren (vgl. Spatscheck et al. 2007:104). Viele Autoren nahmen diese neuen Möglichkeiten zum Anlass, den ersten radikalen Schnitt in der Rap-Kultur zu markieren. (vgl. z.B. ebd.:105, Chang 2005:203, Blümner 1999:257). Die anderen halten die Gründung des ersten HipHop-Plattenlabels Def Jam Records für bahnbrechend (vgl. George 2006:103ff.):

„HipHop, ursprünglich in einer Nische der Gesellschaft entstanden, entwickelte sich mit dem Erfolg des Labels Def Jam zu einer international begehrten Ware. Die Musik, die in den schwarzen Neighbourhoods erfunden worden war, wurde nun von Menschen aller Hautfarben gehört, analysiert und kopiert“ (Blümner 1999:261).

Def Jam Records vermarktete seine ersten bekannten Künstler wie LL Cool J, Run DMC und die Beastie Boys hervorragend und avancierte so zur besten Adresse in Sachen HipHop-Musik (vgl. Toop 1992:184). Die ersten Vertreter der New School produzierten primär Partymusik – und erzielten damit hohe Verkaufszahlen. Nebenprodukt dieses kommerziellen Erfolges waren die schweren Goldketten, die beispielsweise die Rapper von Run DMC trugen; und die ein Symbol des sozialen Aufstiegs darstellten (vgl. Klausegger 2009:194). Nach und nach veränderten sich aber die Inhalte und wurden wesentlich politischer. Diese neue Art von Rap wird häufig als Conscious-Rap (ebd.:192) bezeichnet, doch die Begriffe sind vielfältig. David Toop, einer der wichtigsten Biografen der HipHop-Kultur, sprach beispielsweise von Educated Science Rap (Toop 1992:225). Mit Gruppen und Künstlern wie Public Enemy und KRS-One wird HipHop plötzlich zum afroamerikanischen und Schwarz-nationalistischen Widerstandsmedium (vgl. Klausegger 2009:195). Das Genre Conscious-Rap prägte die HipHop-Szene von New York bis Mitte der 1990er Jahre; viele Künstler verfolgten mit der Musik einen „politischen, aufklärerischen Anspruch“ (Grimm 1998:71). Dem Conscious-Rap gegenüber stand der stärker mit Elementen aus dem Funk angereicherte Gangsta-Rap der amerikanischen Westküste mit dem Zentrum Los Angeles. Inhaltlich wurde auch hier das Ghetto mit seiner Kriminalität und den Drogenproblemen thematisiert – allerdings auf eine Art und Weise, die dem Gangsta-Rap den Vorwurf der Glorifizierung und Verharmlosung von Gewalt und Gang-Strukturen einhandelte (vgl. Klausegger 2009:200).

Ab Mitte der 1990er Jahre wird es schwierig, eine neue „Schule“ zu benennen, da Rap von derart vielen musikalischen Stilen beeinflusst wurde, dass sich der Sprechgesang in unzählige Subgenres aufgliederte und abgrenzte. Deren Übergänge ineinander sind kaum auszumachen. In der Literatur bezieht sich der Begriff New School daher häufig auf die jeweils jüngste Generation von Rappern (vgl. Fab 5 Freddy 1995:49); an mancher Stelle wird auch von der Next School gesprochen (vgl. z.B. Buhmann/Haeseler 2001:213, Dufresne 1997:150ff.). Dieser Begriff hat sich im allgemeinen Sprachgebrauch aber (noch) nicht durchgesetzt. Es stellt sich dann auch die Frage, was nach der Next School kommen soll – die Next School After Next etwa?

Durch die großen kommerziellen Erfolge in den 1980er Jahren geriet die ganze HipHop-Szene in die „Mühlen der Popindustrie“ (Verlan/Loh 2006:116). Die Folge: Das lokale Phänomen HipHop wurde bekannter, zunächst national, dann international. Jugendliche auf der ganzen Welt begannen peu à peu, diese Jugend- und Kulturbewegung zu adaptieren und auf ihre Weise zu interpretieren und auszuleben (vgl. ebd.). So auch in Deutschland.

3. HipHop in Deutschland

„HipHop wurde in Deutschland anfänglich als amerikanischer Musikimport betrachtet. Durch Filme wie Beat Street oder Wild Style waren junge Leute fähig, die Straßenkultur zu sehen, die den Kontext für HipHop-Musik lieferte. Diese Kombination von Bildern und Musik war voraussichtlich wirkmächtiger als die Rezeption von Musik allein. Die Filme zeigten, wie HipHop im städtischen Amerika gelebt und erlebt wurde. Obwohl die Musik frisch und neu war, waren die jungen Leute auch empfänglich für das, was den sozialen Kontext des HipHops als urbane Kultur in Amerika bildete. Allerdings war die Entwicklung von HipHop-Identitäten in Deutschland nicht nur an die Erfahrungen und die Produktion der amerikanischen HipHop-Kultur gebunden, sondern auch an die kulturellen und gesellschaftlichen Besonderheiten in Deutschland. […] Denn junge Leute außerhalb der USA kreieren mit HipHop etwas Neues. HipHop entfernt sich so von seinen Wurzeln in Amerika“ (Templeton 2007:194).

Die Entwicklung von HipHop in Deutschland ist ohne den Einfluss der amerikanischen Musik- und Kulturindustrie nicht zu erklären (vgl. Klausegger 2009:217). Vor allem die Musikvideos und Filme spielen dabei eine entscheidende Rolle: „Erst mit den Fernsehbildern eroberten die Einstellungen und Moden des urbanen Amerika die Welt, entfachten Faszination und Furcht und sorgten für Entrüstung und Nachahmung bei der Jugend auf der anderen Seite der Erdkugel (oder des Kontinents)“ (George 2002:122).

HipHop in Deutschland wurde also maßgeblich „durch US-amerikanische Rapgruppen beeinflusst, die im lokalen oder nationalen Rundfunk und auf MTV Europe ausgestrahlt wurden“ (Bennett 2003:30). Er sorgte hierzulande zunächst für eine große Begeisterung ohne Vorbehalte: „Und die Menschen begannen, diesen Style zu imitieren. Diese erste Hochblüte des HipHop löste in erster Linie einen Breakdance-Boom aus. Die Menschen fingen an, sich wie Roboter und Maschinen zu bewegen, auf den Händen zu tanzen und sich am Kopf zu drehen“ (Klausegger 2009:217). In Frankfurt beispielsweise war der Sitz des American Forces Network (AFN). AFN war ein Rundfunk- und Fernsehsender, der für die amerikanischen Soldaten in Deutschland konzipiert worden war. Er wurde so erfolgreich, dass die Bürger in und um Frankfurt ständigen Kontakt zur US-amerikanischen Populärkultur – und damit auch zu HipHop – hatten (vgl. Bennett 2003.:30f.). Die anfängliche Begeisterung für HipHop verpuffte allerdings schnell als Modeerscheinung und es blieben nur wenige übrig, die an der Kultur festhielten (vgl. Klausegger 2009:219). Ganz verschwand HipHop aber auch in dieser Zeit nicht von der Bildfläche. „Jeder, der damals malte, breakte oder rappte, hielt die Augen offen und suchte nach seinesgleichen“ (Verlan/Loh 2000:103).

Vor der Wiedervereinigung (vgl. Kapitel 3.3) verlief die Entwicklung der HipHop-Kultur in der Bundesrepublik Deutschland (BRD; vgl. Kapitel 3.1) und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR; vgl. Kapitel 3.2) unterschiedlich: „Auch wenn immer wieder von einer einzigen, weltweiten HipHop-Kultur gesprochen wird, die in vielen Ländern zeitgleich und mit der Breakdance-Mode begonnen hat, so sind es die jeweiligen kulturellen und ökonomischen Verhältnisse eines Landes, die letztlich dafür bestimmend waren, wie, wann und ob überhaupt sich Jugendliche HipHop aneignen konnten“ (Verlan/Loh 2006:135).

3.1 HipHop in der BRD (vor der Wende)

„Das Publikum wurde zunehmend größer, es entstanden in vielen großen westdeutschen Städten lose Vereinigungen von Rappern, DJs, Breakern und Fans. […] Die Szene war friedlich und unpolitisch und eigentlich in alle Richtungen offen, sieht man von Altersbarrieren mal ab. […] Hip Hop hieß vor allem eines: Spaß haben“ (Klausegger 2009:225).

Die Entwicklung von HipHop in Deutschland ist eng mit den amerikanischen Kasernen und den hierzulande stationierten US-Soldaten verbunden. Ein Paradebeispiel dafür ist der New Yorker B-Boy Rico Sparks, der einen Teil seines Militärdienstes bei der US-Armee im Rhein-Main-Gebiet absolvierte. „Sein Wissen, seine Ausdauer und seine Liebe zu HipHop gab er weiter und war damit bis in die späten Achtziger Jahre einer der wichtigsten Förderer der Kultur“ (Güngör/Loh 2003:43). Ähnlich dürfte sich HipHop in anderen Teilen von Deutschland verbreitet haben – über US-amerikanische Zeitschriften und Tonträger sowie über Filme wie Wild Style, Stylewars und Beatstreet, die in Deutschland sogar in den Kinos liefen (vgl. Klausegger 2009:217f.). „Diese Filme machten deutlich, dass es sich bei HipHop um eine Kultur handelte, die weit mehr war als nur der Tanz“ (ebd.:218). Die Deutschen wurden durch die Filme mit dieser neuen Art, Musik zu machen, konfrontiert. Aber nicht nur: Auch „diese ganz eigene Art von Malerei (Graffiti) und diese ganz eigene Art, sich zu kleiden“ (ebd.) wurden zum ersten Mal als Elemente der HipHop-Kultur dargestellt. Das ZDF-Auslandsjournal beispielsweise sendete im Dezember 1983 einen Beitrag aus New York über die HipHop-Kultur.

So herrschte Anfang der 1980er eine regelrechte Euphorie in Sachen HipHop: Die Rapper der Old School (vgl. Kapitel 2.6) hatten eine große Fangemeinde und auch Breakdancing und Writing fanden Anklang (vgl. Spatscheck et al. 2007:124). Zunächst allerdings wurden die neuen Künstler nicht so recht ernst genommen, weder von den deutschen Musikern noch von den Fachzeitschriften; die Folge davon waren die ersten Rap-Parodien wie beispielsweise der „Alpen Rap“ der Ersten Allgemeinen Verunsicherung (vgl. ebd.). „HipHop in Deutschland und Österreich war zu dieser Zeit, bis Anfang der 1990er Jahre, purer Underground. Es gab keine großen Stars, kein professionelles Management und keine Berichte in den Medien“ (Klausegger 2009:225). Aber es gab zu dieser Zeit viel Leidenschaft und Energie – und vor allem aktive Fans, die die Kultur nicht nur konsumieren, sondern sich das Know-how selbst aneignen wollten (vgl. ebd.).

Ab 1985 formierten sich die ersten, meist noch regional verhafteten Kontakte. Ein Jahr später schon vernetzten sich die ersten Gruppen bereits überregional. Durch diese regionalen und überregionalen Kontakte der HipHopper untereinander formierte sich im Untergrund ein loses Netz, die Szene begann sich zu entwickeln. Es wurden Strukturen aufgebaut und Voraussetzungen geschaffen, von der spätere Generationen profitierten. Man spricht hierbei von der sogenannten Alten Schule (vgl. Jacob 1993:206ff.), zu der beispielsweise die Band Advanced Chemistry um den Rapper Torch und Cora E zählen. „Ein anziehendes Moment von HipHop war, dass er neu und fresh war und dass es darin um Party, Tanz, Feiern, Spass [sic!], Vergnügen ging [H.i.O.]“ (Klausegger 2009:226). Ganz ähnlich wie zu Beginn der HipHop-Kultur in den USA.

Die Szene war zu diesem Zeitpunkt ein noch recht loser Verbund von Gleichgesinnten. In einem unübersichtlichen Prozess mit vielen Underground-Jams wie der ersten großen Veranstaltung mit den damals bekannten Künstlern in Dortmund-Marten 1987 (vgl. ebd.:176), entwickelte sich in wenigen Jahren das, „was sich etwa ab 1988 als überschaubare HipHop-Community präsentierte“ (ebd.). Diese erste HipHop-Generation wurde auch als „Tramperticket-Generation“ (ebd.:177) bezeichnet, weil sie als HipHop-Pilger durch das ganze Land reisten, um keine Jam zu verpassen, um Kontakte zu pflegen und selbst Teil des (kleinen) Ganzen zu sein. Es herrschte also eine sprichwörtliche Aufbruchsstimmung, die Alte Schule war von einer lebendigen Dynamik und einem aktivistischen Spirit umgeben (vgl. ebd.:178). Diese Jams sind aber nicht mit heutigen Konzerten zu vergleichen; es handelte sich keinesfalls um Shows mit fest vorgegebenem Ablaufprogramm, sondern um ein kreatives Zusammenkommen von Gleichgesinnten. Die Rapper standen zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Mittelpunkt, zahlreicher waren die Beatboxer, Writer und vor allem Breakdancer (vgl. ebd.). Fahrgeld und Gagen für die angereisten bekannteren Künstler gab es nicht: „Das war nicht Sinn der Sache und es gab auch niemanden, der das eingefordert hätte. Fast alle Anwesenden waren selbst Aktive, die rappen, breaken, scratchen oder beatboxen wollten. […] Ein Publikum im klassischen Sinn gab es nicht“ (ebd.:180). Die Szene blieb daher lange eine verschworene Gemeinde, weil es für einen „Zugereisten“ wenig Sinn machte, auf einer Jam aufzutauchen, ohne selbst etwas beizutragen. „Für jemanden, der zufällig von außen dazustieß [sic!] und ein Konzert erwartete, wo zuerst diese Gruppe auftritt und nach einer kurzen Pause jene Tanzcrew ihr Programm vorführt, musste dieses kuriose Spektakel unverständlich bleiben“ (ebd.:180ff.).

Die Jam-Ära der Backpacker, wie die Rucksack-Rapper von einst heute mitunter despektierlich bezeichnet werden, dauerte etwa vier Jahre (vgl. ebd.:182). Es gab viele Künstler, die auf fast jeder Jam vertreten waren und die nach und nach jedem Aktivisten ein Begriff waren. „Von diesem Zeitpunkt an war klar, dass es in Deutschland tatsächlich eine Szene gibt, mit der zu rechnen war, und es entstanden die ersten Kooperationen“ (ebd.:184). Die HipHop-Szene stellte sich zu diesem Zeitpunkt gänzlich anders dar, als sie 2012 verstanden wird:

„Was man sich heute kaum mehr vorstellen kann, ist der kreative Freiraum, der in dieser Periode weitab vom Mainstream entstand und die verrücktesten Blüten trieb. Es war vom Style her einfach alles erlaubt und auf den Jams begegneten einem die unglaublichsten Freaks. Die heutige standardisierte HipHop-Mode hat mit der chaotisch-knalligen Old-School-Fashion nicht mehr viel gemeinsam. Der Battle-Spirit, der Wunsch, die anderen durch außergewöhnliche Einfälle oder völlig unerwartete Styles zu beeindrucken, brachte eine durchgeknallte Vielfalt hervor, die den Leuten manchmal die Sprache verschlug“ (Verlan/Loh 2006:185).

Die Mehrheit rappte zudem auf Englisch. „Ursprünglich versuchten die [deutschen] Bands den Stil ihrer US-amerikanischen Pendants zu kopieren. Dieser Trend war jedoch nur eine kurzlebige Phase in der Entwicklung der Hip-Hop-Kultur“ (Bennett 2003:31). Diese auf die Frankfurter Szene bezogene Entwicklungsbeschreibung steht repräsentativ für die Anfänge von HipHop in ganz Deutschland.

Schon recht früh in dieser Findungsphase begannen viele Bands, deutsche Texte in ihre Musik einzufügen (vgl. ebd.). „In vielen Fällen ist es schwer, zurückzuverfolgen, wer eine bestimmte Sache zum ersten Mal gemacht hat, wer einen bestimmten Style erfand, prägte und verbreitete“ (Verlan/Loh 2006:191). Indes: Der erste Rapper, der seine Reime in deutscher Sprache verfasste, ist unumstritten Torch aus Heidelberg. „Denn es gab lange Zeit keinen MC, der mit einer vergleichbaren Konstanz, Kontinuität und Ausdauer auf Jams in deutscher Sprache gefreestylt hat und damit eine ganze Generation von Rappern beeinflusste“ (ebd.). Ab Ende 1987 rappte Torch auf Deutsch, obwohl er mit seiner Formation Advanced Chemistry nur englische Texte hatte (vgl. ebd.:193). Deutsche Reime hatte es spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr in der deutschen Dichtung gegeben, was wohl nicht zuletzt auf die Ablehnung durch den Sozialphilosophen Theodor W. Adorno zurückzuführen ist. Er hatte einmal gesagt, nach Ausschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch (zit. nach Verlan 2003:144). Den meisten jugendlichen Protagonisten war die Diskussion um den Reim sicher unbekannt. Sie kannten Reime wohl hauptsächlich aus der Werbesprache.

„Und so reimten sie, am Anfang schrecklich unbeholfen – sie hatten ja keine Vorbilder – dann immer kunstvoller und komplexer. Sie wussten auch nichts von ihren literarischen Vorbildern, die in längst vergangenen Zeiten schon in Versen gestritten, in Dichtung improvisiert hatten. Sie eiferten einfach ihren amerikanischen Vorbildern nach, und hatten Spaß dabei. Was wussten sie schon von Aristoteles, von Theodor W. Adorno oder Jean François Lyotard, der einmal gesagt hat: reden sei kämpfen?“ (Verlan 2003:145).

Die Folge davon: Während Politiker, Lehrer und Journalisten die kümmerlichen Sprachkenntnisse der Bundesbürger bemängelten, entwickelte sich im HipHop eine neue Form von Sprache, die alle geschriebenen und ungeschriebenen Regeln außer Acht lässt. „Zugespitzt formuliert: die Literatur wird neu erfunden, jeden Tag und ohne Bezug zur literarischen Tradition“ (ebd.). Mit der Zeit fand Rap in Deutschland so zu einer eigenen Identität. In der ehemaligen Ostzone wurde die HipHop-Kultur teilweise vom Staat gefördert.

3.2 HipHop in der DDR

„Ein Afroamerikaner mit weißen Handschuhen bewegt sich vor der Kulisse Manhattans, als gingen Stromstöße durch ihn hindurch. Das war Mr. Robot. Was er machte, nannten sie Breakdance. An diesem Abend kam der Hip-Hop in die DDR“ (Temsch 2007).

Die HipHop-Kultur in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) entwickelte sich anders als im Westen. HipHop kam aus den USA, also vom großen kapitalistischen Klassenfeind, und war damit zunächst tabu. „Bis den Verantwortlichen dann schließlich doch noch auffiel, dass sich HipHop ja gerade gegen diesen Feind zur Wehr setzte und gegen die Auswüchse des kapitalistischen Systems aufbegehrte“ (DJ Opossum aus Leipzig, zit. nach Verlan/Loh 2006:373). Als Protestbewegung wiederum war HipHop akzeptabel und erhielt so auch Einzug in die ehemalige DDR. Vor allem das Element Breakdance stand anfangs im Mittelpunkt, weil das Tanzen vom Staat gefördert wurde; so gab es staatliche HipHop-Workshops mit organisierten und finanzierten Auftritten auf verschiedenen Niveaus, von Amateur bis Profi (vgl. Klausegger 2009:224). „Breakdance war eben Kulturarbeit und damit staatlich unterstützt“ (DJ Opossum, zit. nach Verlan/Loh 2006:374). Allerdings sprachen die Funktionäre der Staatssicherheit mangels englischer Sprachkenntnisse in Dokumenten nicht vom Breakdance, sondern vom „Brigg-Tanz“ (Meinhof 2011). Um das Wort einzudeutschen, war in der DDR offiziell von „akrobatischem Showtanz“ (Temsch 2007) die Rede; ein Graffito wurde zur „Rapschrift“ (Wyssuwa 2009). Die meisten HipHop-Fans und -Aktivisten in der ehemaligen DDR kamen daher über das Breaken zur Musik: „Da die HipHop-Szene in der DDR allerdings von der westlichen und internationalen HipHop-Community einfach abgeschnitten war, war es schwierig, an HipHop-Musik zu kommen, wenn man nicht gerade in einer Gegend wohnte, in der man Westradio empfangen konnte“ (Klausegger 2009:225). Also besorgten Verwandte im Westen die eine oder andere Platte oder ein Freund im Grenzgebiet nahm mit einem Kassettenrekorder HipHop-Radiosendungen auf (vgl. Verlan/Loh 2006:374).

Die Wiedervereinigung erschütterte die HipHop-Szene in der ehemaligen DDR zunächst, weil die Kulturförderung plötzlich wegfiel. „Da hat sich dann entschieden, wer mit dem Herzen dabei war oder lieber Versicherungsvertreter wurde. Schlagartig gab es gar nichts mehr, Kultur war völlig zusammengebrochen“ (DJ Opossum, zit. nach Verlan/Loh 2006:377).

3.3 HipHop im wiedervereinigten Deutschland

„Längst hat die Kultur die Grenzen des Ghettos, die Grenzen der USA hinter sich gelassen. HipHop hat Jugendliche auf der ganzen Welt begeistert und aufgerüttelt, zuerst als Fans und Liebhaber, dann wurden viele von ihnen selbst zu Produzenten, wurden DJs, Rapper, Breaker oder Writer. Sie brachten ihre persönlichen kulturellen Wurzeln in die HipHop-Kultur ein und machten sie so zur ersten wirklich globalen Kultur“ (Verlan 2003:139).

Nach der Wiedervereinigung wurde die HipHop-Kultur langsam kommerzialisiert, sogar in den großen Warenhäusern gab es erstmals typische HipHop-Klamotten wie weite Hosen (sogenannte Baggy Jeans) zu kaufen (vgl. Verlan/Loh 2006:124f.). Auch die Musikindustrie reagierte und begann, ihre „‘hauseigenen Rapper‘“ (ebd.:125) zu produzieren, die zunächst den amerikanischen Vorbildern ähneln und diese nachahmen sollten. Aus dieser Entwicklungsgeschichte heraus wird deutschem Rap immer wieder vorgeworfen, er sei nur eine Kopie des großen amerikanischen Bruders (vgl. Androutsopoulos 2003:11). Und über das Niveau wird nicht nur hierzulande kontrovers diskutiert, sondern auch in den USA: „HipHop im Ausland kann auch richtig schlecht sein, wie beispielsweise in Deutschland. Das Deutsche klingt sehr hart, und die Gutturallaute stören einen eleganten Flow“ (George 2006:247).

Die eigenständige HipHop-Bewegung in Deutschland hatte es also anfangs sehr schwer, weil sie nur als das Nachäffen einer amerikanischen Modeerscheinung wahrgenommen wurde. „Verkannt wird damit, dass die Bindung einer Populärkultur an ihre Umwelt im Prozess der produktiven Aneignung immer wieder neu hergestellt wird, und zwar in der Adaption der künstlerischen Ausdrucksformen wie in der Entstehung einer lokalen Infrastruktur der Produktion, Distribution und Promotion“ (ebd.:12). So sind selbst in Deutschland verschiedene lokale Strömungen und ihre Eigenheiten unverkennbar. „Wer auch immer auf die Idee gekommen ist, Hamburg und Stuttgart als die HipHop-Metropolen zu bezeichnen, inzwischen gibt es kein Halten mehr: Berlin rules, Köln rockt, der Pott schockt, HipHop-Crews repräsentieren ihre Städte bis zum Umfallen“ (Güngör/Loh 2003:43). Und so hat sich HipHop nicht nur in Deutschland, sondern in allen Bundesländern und deren einzelnen Städten mitunter höchst unterschiedlich entwickelt – und vor allem das Reimniveau stieg beharrlich[4]. Dadurch ging es immer mehr deutschen Rap-Formationen finanziell so gut, dass sie „in der musikalischen ‘Bundesliga‘ mitspielen“ (ebd.:127) konnten, weil sie in den deutschen Charts liefen und entsprechende Verkaufszahlen hatten. „Die Deutschen haben einen Weg gefunden, sich auszudrücken und den HipHop wettbewerbsfähig zu machen. Sie sagen, 'HipHop handelt nicht hiervon oder davon, sondern hier geht es um Wortspiele. Yo man, ich kann reimen und meine Reime sind echt fett.'“ (Rapper Charnell, zit. nach Templeton 2007:191). So entwickelten die deutschen Rapper mit der Zeit eine eigene „HipHop-Identität“.

Kommerzielle Vorreiter im Rap waren die Fantastischen Vier mit ihrem zweiten Album „Vier gewinnt“ (1992) und vor allem der Single-Auskopplung „Die da!?!“[5]. Die vier Stuttgarter sorgten für einen HipHop-Hype. An diesem Erfolg aber scheiden sich bis heute die Geister und der Hype stellte so etwas wie eine Zensur dar, einen Bruch zwischen Alter und Neuer Schule, wie das folgende Kapitel beschreibt.

3.4 Alte Schule versus Neue Schule

„Die Fantastischen Vier hatten außer ihrer Liebe zur Rapmusik mit den Jugendlichen, die die HipHop-Szene in Deutschland aufgebaut haben, so gar nichts gemein. Und dennoch wurden sie nach außen hin zu den Repräsentanten dieser neuen Musik. In der HipHop-Szene hatten Nationalitäten und Sprachen nie eine Rolle gespielt, die Fantastischen Vier machten Deutschsein zu einem Markenzeichen“ (Verlan/Loh 2006:118).

Wie Ende der 1970er Jahre in den USA die Sugarhill Gang, tauchte auch in Deutschland mit den Fantastischen Vier eine Band als HipHop-Vorreiter in der Öffentlichkeit auf, die mit den restlichen Aktivisten kaum Kontakt hatte (vgl. Klausegger 2009.:235ff.). Streit war programmiert. Die schwersten Vorwürfe der Vertreter der Alten Schule: Die Fantastischen Vier repräsentieren nur den Sprechgesang und ignorieren die anderen Elemente; sie machen das Deutschsein zu ihrem Markenzeichen und damit deutschen Sprechgesang zum Synonym für HipHop, was andere Sprachen und damit viele Migrantenkids ausschließt. Damit wurde die Idee der offenen Kultur für jedermann aus Sicht der HipHop-Pioniere zunichte gemacht (vgl. ebd.).

[...]


[1] 50 Cent war am 10.12.2005 Gast bei „Wetten, dass…?“, Sido am 20.06 bei der „Quizshow“.

[2] So veröffentlichten etwa Kool Savas und Xavier Naidoo (Künstlername: Xavas) im September 2012 ein Album, Jan Delay und Udo Lindenberg machen gemeinsame Sache und Marteria hat Frontsänger Campino beim jüngsten Album der Toten Hosen („Ballast der Republik“) unterstützt.

[3] „Sei berühmt und rede darüber!“: SPIEGEL-Artikel vom 29.11.2010, S. 158 (Autor unbekannt).

1) Der Künstlername Taki 183 bezog sich auf die Nummer des Wohnblocks des damals 17-jährigen griechischen Künstlers namens Demetrius (vgl. Rose 1994: 42).

[4] Das Reimniveau lässt sich beispielsweise daran festmachen, dass nicht mehr „Haus“ auf „raus“ oder „Laus“ gereimt wurde, sondern Doppelreime zum neuen Standard wurden. Ein Beispiel: Mit der vorliegenden Arbeit will ich mein Diplom / daher wirbel‘ ich mit Wissen umher wie ein Zyklon.

[5] Das erste Album „Jetzt geht’ s ab“ von 1991 blieb weitgehend unbeachtet; in Deutschland landete es auf Platz 22 der Charts und war damit das am schlechtesten verkaufte Album der Fantastischen Vier.

Ende der Leseprobe aus 142 Seiten

Details

Titel
Die bösen Rapper sind schuld. Das Image von HipHop in den deutschen Printmedien
Hochschule
Technische Universität Dortmund  (Institut für Journalistik)
Note
1,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
142
Katalognummer
V214022
ISBN (eBook)
9783656422860
ISBN (Buch)
9783656434139
Dateigröße
2658 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die vorliegende Arbeit sollte dazu dienen, eine Forschungslücke in der wissenschaftlichen Betrachtung der HipHop-Kultur zu schließen: die Darstellung von HipHop in den deutschen Print-Leitmedien. Die Artikel zum Thema, die in den Jahren 2000 bis 2011 in den fünf Medien Focus, Frankfurter Allgemeine Zeitung, SPIEGEL, Süddeutsche Zeitung und ZEIT publiziert worden sind, wurden in einer außerordentlich umfangreichen Studie empirisch analysiert.
Schlagworte
HipHop, Rap, Musik, Musikjournalismus, Medienanalyse, Hip Hop, HipHop-Studie, Hip Hop-Studie, Journalismus, Inhaltsanalyse, Rapper, Gangsta-Rap, Sido, Bushido, Eminem, 50Cent, Rapmusik, Rap-Musik, Marteria, Casper, Cro, Musik-Journalismus, Kulturberichterstattung, Feuilleton, Kultur
Arbeit zitieren
Stefan Burkard (Autor:in), 2012, Die bösen Rapper sind schuld. Das Image von HipHop in den deutschen Printmedien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/214022

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