Vom „Lesetagebuch“ zum „Produktportfolio“

Umgang mit Ganzschriften im Deutschunterricht einer Klasse 7 bzw. 8


Examensarbeit, 2008

48 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1. Einleitung

2. Darstellung des Problems
2.1Problembezogene Lerngruppenbeschreibung
2.2 Darstellung der Ausgangslage und Benennung des Problems

3. Theoretische Grundlagen
3.1. Die Methode des Lesetagebuchs
3.1.1 Geschichtliche Entwicklung der Methode des Lesetagebuch
3.1.2 Definition der unterschiedlichen Formen des Lesetagebuchs
3.1.3 Begründete Entscheidung für die Wahl einer Form des Lesetagebuchs
3.2 Zum Begriff der Motivation und seine Bedeutung für die Arbeit mit Lesetagebüchern
3.3 Leistungsbewertung in Form von Lesetagebüchern

4. Praktische Umsetzung
4.1 Konzeptionelle Überlegungen zur geplanten Durchführung
4.2 Durchführung des Unterrichtsvorhabens
4.2.1 Unterrichtsverlauf
4.2.2 Dokumentation der Durchführung anhand exemplarischer Schülertexte

5. Evaluation und Reflexion

6. Perspektiven für die Weiterarbeit

7. Literaturverzeichnis

8. Anhang
8.1 Formblatt zur Erstellung des Lesetagebuchs zu Otfried Preußlers Roman ‚Krabat‘
8.2 Formblatt zur Erstellung des Prozessportfolios zu ‚Wilhelm Tell‘ von Friedrich Schiller
8.3 Schülertext zur Apfelschussszene
8.4 Schülertext: Innerer Monolog aus der Sicht von Wilhelm Tell in der Apfelschussszene
8.5 Schülertext: Brief an den Autor.
8.6 Schülertext: Brief an den Autor
8.7 Schülerarbeit: Zeichnung zu einer Szene des Dramas
8.8 Schülerarbeit: Gestaltung eines Deckblattes
8.9 Schülerarbeit: Ein Comic zur Apfelschussszene
8.10 Feedbackbogen einer Schülerin
8.11 Feedbackbogen eines Schülers.

9. Eidesstattliche Erklärung

1. Einleitung

Die Entwicklung des Deutschunterrichts ist in den letzten Jahren vermehrt in den Blick der Forschung geraten, da immer weniger Schüler[1] die an sie gestellten Lese- und Schreibanforderungen bewältigen können.[2]

Im Zusammenhang mit der Behandlung einer Ganzschrift in der Klasse 8 stellte sich mir daher die Frage, wie man die Lese- und Schreibkompetenzen der Schüler verbessern, aber gleichzeitig auch die Motivation der Schüler für die Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Text erhalten und steigern könne. Dabei stieß ich auf die Methode des Lesetagebuchs, das mittlerweile nicht nur eine wichtige Rolle in der Deutschdidaktik, sondern auch in der Unterrichtspraxis einnimmt.[3]

In dieser Arbeit soll vor allem den Fragen nachgegangen werden, inwieweit sich die Methode des Lesetagebuchs für eine begleitende Klassenlektüre überhaupt eignet und welchen Lernertrag die Schüler dadurch erzielen.

Der erste Teil der Arbeit beschäftigt sich zunächst mit einer Darstellung des didaktischen Problems, welches mich zu dieser Erprobungsarbeit veranlasst hat.

Darauf folgt eine Definition der Methode des Lesetagebuchs, an die sich theoretische Ausführungen zu den untersuchten Funktionen der Motivation und der Leistungsbeurteilung im Zusammenhang mit Lesetagebüchern anschließt.

In der praktischen Umsetzung sollen diese Funktionen kritisch geprüft werden und anhand exemplarischer Schülertexte ein Einblick in die Arbeit mit Lesetagebüchern gegeben werden. Daran schließt sich eine Evaluation und Reflexion des durchgeführten Unterrichtsvorhabens an.

In den abschließenden Perspektiven der Weiterarbeit sollen einige Ausblicke für eine möglicherweise veränderte Erprobung dieses Konzeptes gegeben und begründet werden.

2. Darstellung des Problems

2.1 Problembezogene Lerngruppenbeschreibung

Die Klasse 8a ist eine G8-Klasse, die sich aus elf Jungen und sechzehn Mädchen zusammensetzt. Die Klasse ist lebhaft und mir gegenüber sehr aufgeschlossen, das gegenseitige Verhältnis zeichnet sich durch Freundlichkeit und Vertrauen aus.

Das Durchschnittsalter meiner Schüler beträgt 14 Jahre, damit befinden sie sich mitten in der Adoleszenzphase, was sich sowohl in ihren Leistungen als auch in ihrer allgemeinen Motivation häufig widerspiegelt.

Die Schüler können weitgehend eigenständig arbeiten sowie ihre Lernprozesse selbst organisieren und kontrollieren. Dennoch müssen Einzelne während der Erarbeitungsphasen intensiver von mir betreut werden, da sie Schwierigkeiten haben, konzentriert an einer Aufgabenstellung zu arbeiten. Auf methodischer Ebene sind die Lernenden mit Einzel-, Partner- und Gruppenarbeitsformen vertraut, wobei die GA von den Schülern aufgrund ihrer kooperativen Strukturen bevorzugt wird. Der Leistungsstand der Klasse ist relativ heterogen, die Leistungsstärken und -schwächen zeigen sich bereits deutlich in der mündlichen Beteiligung, aber auch bezogen auf den Bereich der Schreib- und Lesekompetenzen liegen große Unterschiede vor.

Aufgrund einiger im mündlichen Bereich sehr dominanter Schüler ergibt sich der Umstand, dass sich einzelne Schüler im offenen Unterrichtsgespräch stark zurücknehmen. Diese Schüler bedürfen häufig einer Ermunterung meinerseits, um sich in das Unterrichtsgespräch einzubringen.

2.2 Darstellung der Ausgangslage und Benennung des Problems

Durch den gesonderten Einstellungstermin in das Referendariat im August ergab sich die Besonderheit, dass ich in Deutsch meine Klasse im bedarfsdeckenden Unterricht über zwei Schulstufen hinweg betreuen konnte. So übernahm ich die Klasse im zweiten Halbjahr der Jahrgangsstufe 7 und unterrichte sie weiterhin im ersten Halbjahr der Jahrgangsstufe 8.

Bereits in Klasse 7 führte ich eine Unterrichtsreihe zu einer Ganzschrift durch und zwar zu dem von den Schülern selbst gewählten Jugendbuchklassiker ‚Krabat‘ von Otfried Preußler. In diesem Zusammenhang erprobte ich die sowohl für die Schüler als auch für mich neue Methode des Lesetagebuchs, die von beiden Seiten als sehr gewinnbringend und motivierend empfunden wurde.[4]

Die Behandlung der im Lehrplan Deutsch der Jahrgangsstufe 8 verbindlich vorgeschriebenen Lektüre ‚Wilhelm Tell‘, die wahlweise auch in Auszügen hätte gelesen werden können[5], erschien mir im Vorfeld meiner Unterrichtsplanung als besonders schwierig, da die Schüler zum ersten Mal mit einem Drama in Kontakt kommen werden und dieses durch seine ‚altertümliche Sprache‘ besondere Verstehensprobleme verursachen kann. Zudem waren die Schüler wenig motiviert, als sie erfuhren, dass der nächste Unterrichtsgegenstand ein Drama sein würde, zumal sie aufgrund der Festlegung im Lehrplan keinerlei Mitbestimmungsrecht hatten, wie dies noch bei der Lektüre des Romans ‚Krabat‘ der Fall gewesen war. Daher versuchte ich in meiner Planung diese Aspekte zu berücksichtigen und den Schülern eine Zugangsweise anzubieten, die sie einerseits motivieren und andererseits bei den zu erwartenden Verstehensproblemen unterstützen sollte.

Da es in dieser Klasse zudem viele Schüler gibt, die in der mündlichen Beteiligung eher schwach sind, dafür aber im schriftlichen Bereich gute bis sehr gute Leistungen erbringen, bot sich durch die Bewertung der Lesetagebücher eine alternative Form der Leistungsbewertung, die gerade diesen Schülern eine Möglichkeit zur Verbesserung der Note der sonstigen Mitarbeit geben sollte.[6]

Da im Halbjahr zuvor bereits bei der Behandlung des Jugendromans ‚Krabat‘ von Otfried Preußler erfolgreich mit einem Lesetagebuch gearbeitet wurde, erschien mir diese Methode als besonders gewinnbringend für die begleitende Textlektüre des Dramas. Da es sich bei der ersten Lektüre jedoch um einen Jugendroman handelte, der sich sowohl durch seine Sprache als auch durch sein Thema unmittelbar den Schülern erschloss, lag der Schwerpunkt bei diesem geführten Lesetagebuch eher auf einer produktiven und kreativen Auseinandersetzung mit dem Gelesenen.

Durch die erwarteten Probleme bei der Lektüre des Dramas verlagerte sich meine Zielsetzung in Bezug auf die Funktion des Lesetagebuchs von einem bloßen „Buch zum Buch“[7] hin zu einer Hilfestellung bei der schwierigen Lektüre des unbekannten Dramas. Die primären Ziele, die ich durch die Erprobung einer ‚anderen‘ Form des Lesetagbuchs[8] verfolgte, waren demnach einerseits die verstärkte Förderung des Textverständnisses und die Erhaltung bzw. Schaffung von Motivation.

Welche unterschiedlichen Formen des Lesetagebuchs es überhaupt gibt und welche ich für meine Unterrichtsreihe am sinnvollsten erachtete, soll im folgenden Kapitel beschrieben und erläutert werden. Zunächst beginne ich mit einem kurzen historischen Abriss zur Entwicklung der Methode des Lesetagebuchs, der grundlegend für die Erläuterung der unterschiedlichen Formen und Bezeichnungen ist.

3. Theoretische Grundlagen

3.1. Die Methode des Lesetagebuchs

3.1.1 Geschichtliche Entwicklung der Methode des Lesetagebuchs

Die Methode des Lesetagebuchs wurde bereits in den 60er Jahren mit den unterschiedlichsten Intentionen und damit einhergehend auch in den verschiedensten Formen im Deutschunterricht eingesetzt.

Zunächst diente das Lesetagebuch lediglich dazu, „[…] die literarische Erziehung der Schülerinnen und Schüler […]“[9] zu begleiten. Seine Funktion war dabei primär „[…] die Dokumentation der privat gelesenen Bücher […], die Auswahl geeigneter ‚guter‘ Bücher zu lenken und die Anzahl der gelesenen Bücher zu steigern.“[10]

Durch die zunehmend beobachtete Abnahme des privaten Lesens – vor allem bedingt durch die Zunahme elektronischer Medien seit Mitte der 70er Jahre - veränderten sich nicht nur die Zielsetzungen des Deutschunterrichts im Allgemeinen, sondern auch die dem Lesetagbuch zugesprochenen Funktionen. So diente es nicht mehr nur der Auflistung privat gelesener Bücher, sondern sollte die Schüler wieder zum Lesen animieren und ihre Motivation beim Lesen von Ganzschriften im Deutschunterricht erhalten und steigern.[11] Diese Funktion, die heute im Hinblick auf die Vielfalt der elektronischen Unterhaltung sowie auf die negativen Ergebnisse der Pisa-Studien noch an Bedeutung gewonnen hat, wird auch heute noch als wesentlicher Vorteil des Lesetagebuchs verstanden und ist wohl ein Hauptgrund dafür, warum das Lesetagebuch im Deutschunterricht stark an Bedeutung gewonnen hat.

In den letzten Jahren erlebt das Lesetagebuch im Zuge des aktuellen deutschdidaktischen „Methodenpluralismus“[12] einen regelrechten „Boom“[13], der sich nicht nur in verschiedenen Befragungen von Lehrpersonen, sondern auch an dem umfangreichen Materialangebot widerspiegelt, das mittlerweile von den Schulbuchverlagen veröffentlicht wird.[14]

Eine Entwicklung des Lesetagebuchs von einer bloßen Dokumentation der schulischen und außerschulischen Leseaktivitäten der Schüler hin zu einer „Methode der individuellen Auseinandersetzung mit Büchern im Unterricht“[15] hat somit stattgefunden. Aus heutiger Sicht bietet das Lesetagebuch zudem die Möglichkeit, Kinder- und Jugendliteratur besser in den Deutschunterricht zu integrieren und durch sein methodenbedingtes Motivationspotential insgesamt eine lesefördernde Wirkung zu erzielen, von der die Kinder auch im außerschulischen Bereich profitieren können.[16]

3.1.2 Definition der unterschiedlichen Formen des Lesetagebuchs

Im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Zielsetzungen, die das Lesetagebuch seit seiner Einführung im Deutschunterricht durchlaufen hat, haben sich nicht nur inhaltlich, sondern auch formal unterschiedliche Konzepte des Lesetagebuchs entwickelt.

Nach Gerd Bräuer lassen sich mittlerweile vor allem drei Konzepte von Lesetagebüchern unterscheiden: das Tagebuch, das Portfolio und das Arbeitsjournal.[17]

Das Lesetagebuch im traditionellen Sinne begleitet, protokolliert und dokumentiert den individuellen Leseprozess. Es enthält mehr oder weniger stark vorgegebene Aufgaben, die von den Schülern in einem gewissen Zeitrahmen bearbeitet werden müssen. Häufig sind die Eintragungen zudem im Tagebuchstil verfasst. Bräuer kritisiert die Bezeichnung des Lesetagebuchs, da sie seiner Meinung nach eher einen privaten Diskurs darstellen, der nur für den Schreiber selbst und nicht für Außenstehende bestimmt ist.[18] Durch die Veröffentlichung der Lesetagbücher vor den Mitschülern und dem Lehrer wird der eigentlich geschützte Bereich des Tagebuchschreibens, „in dem auch Platz für Geheimes, Gewagtes, Probeweises und Unfertiges“[19] sein sollte, verlassen. Dies kann zu einer Verfremdung dessen führen, was man eigentlich hätte schreiben wollen, es aus Angst vor den Lesern oder der Beurteilung durch den Lehrer aber nicht tut.

Obwohl die Bezeichnung Lesetagebuch vor allem im schulischen Kontext am weitesten verbreitet ist, und häufig als Überbegriff für die Methode im Allgemeinen verwendet wird, präferiert Bräuer doch eher den Begriff des Arbeitsjournals, wenn Mitschüler und Lehrer als Leser und Kommentatoren auftreten und dadurch das Lesetagebuch aus seinem privaten und geschützten Bereich gehoben wird.[20]

Das Lese- bzw. Arbeitsjournal ist nach Bräuer ein Arbeitstagebuch bzw. ein Werkstattbericht, in dem die Entwicklung, Kommentierung und Bewertung von Texten dokumentiert wird und damit stark dem Portfolio ähnelt.

Der Begriff des Portfolios, das ebenso wie die beiden anderen genannten Formen des Lesetagebuchs eine Sammlung schriftlicher und nicht-schriftlicher Arbeiten beinhaltet, stammt aus der amerikanischen prozessorientierten Schreibdidaktik. Das Portfolio setzt das Tagebuchschreiben auf einer komplexeren Ebene fort. Es enthält Notizen, Materialsammlungen sowie Textentwürfe und –überarbeitungen und dokumentiert damit den gesamten „Schaffens- und Entwicklungsprozess des Schreibenden“.[21] Bräuer unterscheidet hier zwischen einem exemplarischen Produktportfolio, das ausgewählte und ausgearbeitete Texte enthält, die die allgemeine Schreibentwicklung eines Lerners über einen bestimmten Zeitraum dokumentieren und einem Schreibprozeß-Portfolio, das durch Entwürfe, Skizzen und Endfassungen Veränderungen und Entwicklungen im Schreib- und Lernprozess aufzeigt.[22] In einem Prozessportfolio geht es demnach nicht wie bei den anderen Formen eines Lesetagebuches um die Präsentation des Ergebnisses eines Arbeitsprozesses, „[…] sondern um die zu veröffentlichende Dokumentation und Kommentierung des Prozesses selbst, der zum dem Ergebnis geführt hat.“[23]

Alle Formen des Lesetagebuchs enthalten neben Texten unterschiedlichster Art auch produktive Gestaltungstätigkeiten, die zu einer vertiefenden Auseinandersetzung mit dem Gelesenen beitragen sollen. Hierzu zählen neben der Herstellung eines geeigneten Deckblatts auch die kreativ-künstlerische Gestaltung von Layout, Bilddokumentationen sowie die Visualisierung von Leseerfahrungen während der Rezeption einzelner Kapitel bzw. Szenen.

Außerdem haben alle Formen des Lesetagebuchs noch einen grundlegenden Aspekt gemeinsam: Sie wollen den Lernprozess der Schüler begleiten und unterstützen.

Dennoch verfolgen die einzelnen Formen unterschiedliche Schwerpunktsetzungen, die bei der Entscheidung für eine Form des Lesetagbuchs berücksichtigt werden müssen.

3.1.3 Begründete Entscheidung für die Wahl einer Form des Lesetagebuchs

Durch die genannten theoretischen Grundlagen der Methode des Lesetagebuchs, die als Lösungsansatz für die von mir erwartete Problemlage in meiner Lerngruppe im folgenden erprobt werden soll, ergeben sich sowohl Konsequenzen für die Planung des Unterrichtsvorhabens als auch für die Zielsetzung.

Unter Berücksichtigung der besonderen Eigenschaften der Lektüre von ‚Wilhelm Tell‘ (der schwer zugänglichen Sprache, der dramatischen Form und der im Drama behandelten Topoi) ergeben sich besondere Zielsetzungen hinsichtlich der Funktion des Lesetagebuchs. Es soll die Schüler zunächst bei der schwierigen Lektüre begleiten und ihnen durch das schriftliche Fixieren ihrer Probleme und Verständnisschwierigkeiten eine Möglichkeit geben, diese zu reflektieren und eventuell zu beheben. Um dies zu ermöglichen erhalten die Schüler das Drama nicht zur häuslichen Lektüre vor Beginn der Unterrichtsreihe, sondern lesen es gemeinsam parallel zum Unterrichtsverlauf. In diesem Zusammenhang werden die Schüler von mir dazu angeregt, sukzessive das aufzuschreiben, was sie beim Lesen gedacht, gefühlt, erfahren haben, was sie verstanden haben oder meinen verstanden zu haben und wie sie das Gelesene beurteilen.[i] Dabei erscheint mir der Tagebuchstil besonders passend[24], da er den Schülern zum Einen eine adressatengebundene Schreibweise ermöglicht, die sie dazu anleiten soll, mit einem fiktiven Gesprächspartner in einen Dialog über ihren eigenen Lese- und Verstehensprozess zu treten. Zum Anderen soll dieser Stil die Schüler dazu ermutigen, ihre persönlichen Gedanken und Gefühle frei und ungehemmt äußern zu können. Somit orientiert sich meine gewählte Form des Lesetagebuchs durchaus an der von Bräuer definierten Form des Tagebuchs.

Neben diesem Aspekt möchte ich jedoch noch einen weiteren in die Bearbeitung des Lesetagebuchs integrieren, und zwar den Aspekt der Prozesshaftigkeit des Lesens und Schreibens. Da es mir in dieser Unterrichtsreihe weniger um das Produkt des Lesetagebuchs an sich geht[25], sondern vielmehr um die Einführung eines ‚Lesebegleiters‘, der den Schülern beim Lese- und Verstehensprozess helfen soll. Dabei sollen die Schüler nicht allein auf ein schriftliches Endprodukt hinarbeiten, sondern bereits den Prozess des Lesens und Schreibens bewusst verfolgen und in ihrem Lesetagebuch schriftlich festhalten, um davon ausgehend zu einem intensiveren Lesen und zu einem besseren Textverständnis zu gelangen.

Demnach versuche ich in der von mir gewählten Form des Lesetagebuchs für diese Unterrichtsreihe sowohl einige Aspekte des Tagebuchs, als auch des Prozessportfolios miteinander zu verbinden.[26]

Durch die veränderte Form des Lesetagebuchs ergeben sich für die praktische Umsetzung neue Fragen: Inwieweit gelingt es den Schülern, ihre Gedanken und Gefühle zum Gelesenen aufzuschreiben? Bleiben sie bei einer inhaltlichen Wiedergabe des Gelesenen oder versuchen sie ihre subjektiven Verarbeitungs- und Verstehensprozesse schriftlich festzuhalten? Sind sie überhaupt in der Lage eine für sie völlig ungewohnte Form des prozesshaften Schreibens auszuprobieren oder neigen sie doch eher dazu, textnahe Zusammenfassungen zu schreiben?

3.2 Zum Begriff der Motivation und seine Bedeutung für die Arbeit mit Lesetagebüchern

Wie bereits mehrfach angedeutet, wird in der Diskussion um die Lesetagebücher immer wieder die Schaffung von Motivation als ein wesentlicher Vorteil dieser Methode genannt. Da es in dieser Arbeit neben der Überprüfung der Lese- und Schreibförderung durch das Lesetagebuch und dessen grundsätzliche Bewertbarkeit vor allem auch um den Aspekt seiner motivationalen Eigenschaften gehen soll, bedarf es zunächst einiger theoretischer Grundlagen.

Während in der Grundschule und der frühen Sekundarstufe I Schüler in der Regel noch gerne lesen und schreiben, nimmt diese Freude im Laufe der Schullaufbahn häufig ab.[27] Daher sollte ein wesentlicher Bestandteil jeglichen Unterrichts sein, die Motivation und damit einhergehende Freude am Lesen und Schreiben aufrechtzuerhalten und die dafür notwendigen Kompetenzen zu fördern.

Bovet und Huwendiek verstehen unter dem Begriff Motivation „aktuelle kognitive und emotionale Prozesse, die vor, während und nach einer Handlung auftreten.“[28] Um diese zunächst allgemein gehaltene Definition auf den schulischen Kontext übertragen zu können, bedarf es einer expliziteren Darstellung des Phänomens der Motivation.

Krapp ging 1993 der Frage nach, welche motivationalen Bedingungen schulischen Lernens bei Schülern gegeben sein müssten, um zu einer erfolgreichen Lernmotivation zu führen. Er versteht unter dem Begriff der Lernmotivation „Strukturen und Prozesse, die das Zustandekommen und die Effekte des Lernens erklären.“ Sein entwickeltes Rahmenmodell zur Lernmotivation im schulischen Bereich soll im Folgenden kurz skizziert werden:[29]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Im Mittelpunkt des Modells steht die Lernmotivation der Schüler, die durch mehrere Faktoren beeinflusst wird, und zwar den Bedingungen in der Person des Lerners selbst (2a), wie z. B. Erwartungen, Einstellungen, Motive, etc., und äußeren Bedingungen im sozialen Umfeld des Schülers (2b), wie Klassenklima und Lehrerverhalten sowie den Bedingungen der Lernsituation und des Lerngegenstands (2c). Bekannt sind hierbei vor allem die Begriffe der intrinsischen, die sich auf ein selbstbestimmtes Verhalten der Lerner bezieht und der extrinsischen Motivation, die äußerer Anreize bedarf.

Alle drei Faktoren beeinflussen die Lernmotivation entscheidend und sind häufig durch frühere Entwicklungsbedingungen und Erfahrungen der Schüler geprägt (3).

Die Lernprozesse während der Lernhandlung (4) spielen sich meist auf der emotionalen und der kognitiven Ebene ab, während die unmittelbaren Effekte und Ergebnisse in schulischen Lernsituationen (5) häufig nur noch im kognitiven Bereich liegen. Die erreichten Erfolge wiederum sind für die Schüler häufig nur Mittel zum Zweck und orientieren sich an Mittel- und langfristigen Folgen (6), wie z.B. die Anerkennung des Lehrers, das Erreichen von guten Noten oder eines angestrebten Schulabschlusses.

Ausgehend von dem vorangegangenen Schaubild ist die Motivation ein sehr komplexer Bereich, in den viele Aspekte, u. a. auch solche, die vom Lehrer nicht unbedingt gesteuert werden können, hineinspielen. Für das folgende Unterrichtsvorhaben gilt es, die drei Grundbedingungen der Motivation – den Schüler selbst, das soziale Umfeld und die Lernsituation bzw. den Lerngegenstand – zu bedenken und für die Schaffung einer möglichst großen Motivationslage zu nutzen und diese positiv zu beeinflussen.

In der Fachdidaktik wird die Methode des Lesetagebuchs immer wieder als besonders motivierend für die Schüler hervorgehoben.[30] Dies ergibt sich zum Einen durch die Möglichkeit der eigenständigen Arbeit der Schüler, die meist frei wählen können, welches Lese - und Arbeitstempo sie wählen, welche Vorschläge und Anregungen des Formblattes sie aufgreifen und bearbeiten, usw. Diese Individualisierung und Binnendifferenzierung innerhalb des Unterrichts, die es dem Lehrer zudem ermöglicht, differenzierter die jeweiligen Lese- und Schreibkompetenzen seiner Schüler berücksichtigen und beobachten zu können, schafft für diese eine häufig beobachtete günstige Motivationslage. So weist unter anderem Abraham darauf hin, dass der Einsatz der Lesetagebücher „[…] wenig motivierten oder weniger lesekompetenten Lernenden Halt und Anleitung biete[t] und dabei doch den motivierten, kompetenteren Lesern/Schreibern Freiraum für selbständiges Arbeiten […] [lässt].“[31]

Helga Neumann unterstreicht ebenfalls den motivierenden Aspekt der Lesetagebücher, wobei sie insbesondere darauf hinweist, dass der Lehrer „die Eintragungen der Schüler mit aufmunternden Kommentierungen versieht, die die Lesehaltung verstärken dürften.“[32] Eindringlich warnt sie in diesem Zusammenhang davor, „dass dafür ein Rotstift nicht benutzt […], noch […] Rechtschreibe – oder gar Zeichensetzungsfehler angestrichen werden [dürfen]“,[33] da ansonsten die Motivation der Schüler stark beeinträchtigt werden würde.[34]

[...]


[1] Um eine bessere Lesbarkeit zu gewährleisten werden in der vorliegenden Arbeit verwendete Berufs- und Personenbezeichnungen durchgehend nur in einer Geschlechtsform (Maskulinum) verwendet. Eine Einschränkung des Geltungsbereiches ist damit nicht verbunden. Sie besitzen, sofern es im Text nicht anders angemerkt ist, gleichermaßen Gültigkeit für beide Geschlechter.

[2] Vgl. u. a. die Ergebnisse der Pisa-Studie von 2006.

http://www.kmk.org/aktuell/081118-PISA-2006-E-Zusammenfassung.pdf

[3] Vgl. die zahlreichen aktuellen wissenschaftlichen Beiträge zum Thema Lesetagebuch sowie zahlreiche Veröffentlichungen von Schulbuchverlagen.

[4] Die vorliegende Arbeit beschränkt sich aus Platzgründen im Wesentlichen auf die Erprobung der durch mich modifizierten Form des Lesetagebuchs in der Klasse 8 zu dem Drama ‚Wilhelm Tell‘. Dennoch sollen die bereits durchgeführte Unterrichtsreihe sowie die lektürebegleitende Arbeit mit einem Lesetagebuch zu ‚Krabat‘ als Erfahrungsquelle und Vergleichsmöglichkeit an einigen Stellen herangezogen werden.

[5] Ich entschied mich gegen eine gekürzte Lektüre des Dramas, wie dies beispielsweise der Cornelsen-Schulbuchverlag in seinem neuen Lehrwerk ‚Deutschbuch‘ für die Klasse 8 vorschlägt, da dies meiner Meinung nach das Gesamtverständnis des Dramas stark beeinträchtigt und zu größeren Verständnisschwierigkeiten führen würde, als die Lektüre der Ganzschrift.

[6] Im Gegensatz zu dem ersten Lesetagebuch, das als Ersatz für eine Klassenarbeit gewichtet wurde, entschied ich mich bei der Bewertung dieses Portfolios, die Note mit in die sonstige Mitarbeit mit einfließen zu lassen.

Beste, Gisela (2007): Deutsch-Methodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. Cornelsen Verlag, Berlin. S. 30.

[8] Zu den verschiedenen Formen des Lesetagebuchs vgl. Kapitel ….. dieser Arbeit.

[9] Hintz, Ingrid (2005): Das Lesetagebuch. Intensiv lesen, produktiv schreiben, frei arbeiten. Bestandsaufnahme und Neubestimmung einer Methode zur Auseinandersetzung mit Kinder- und Jugendbüchern im Deutschunterricht. Schneider Verlag, Baltmannsweiler. S. 67.

[10] Ebd.

[11] Vgl. ebd. S. 68.

Abraham, U. (2006): Fünf Lernende, fünf Texte, fünf Lesende, ein Spiel. Strategien in einer Inszenierung von Literaturunterricht. In: Informationen zur Deutschdidaktik. 1. S. 65-70. Zitat S. 66.

[13] Ebd.

[14] Vgl. zusammenfassend Hintz (2005), S. 75 sowie S. 83 f. Doch obwohl die Methode des Lesetagebuchs mittlerweile in fast jeder Jahrgangsstufe eingesetzt wird und sogar laut Lehrplan einmal im Schuljahr als offizieller Ersatz für eine Klassenarbeit bzw. Klausur gewertet werden darf, gibt es noch immer kaum empirische Nachweise über einen tatsächlichen Lernerfolg. Ausnahmen bilden die von Hintz (2005) und Bertschi-Kaufmann (1997, 2000, 2004) durchgeführten Studien zur Wirksamkeit des Lesetagebuchs im Deutschunterricht.

[15] Hintz (2005), S. 84.

[16] Vgl. A. Bertschi-Kaufmann (1998.): Bücher öffnen Welten. Lesen und Schreiben im offenen Unterricht.. Sabe Verlag, Zürich. Nach Bertschi-Kaufmann ist das Ziel des Lesetagebuchs dann erreicht, „wenn die Zugänge, die die Kinder in der Schule zum (Kinder-) Buch gefunden haben, für ihre Leseinteressen und für ihr Leseverhalten auch außerhalb der Schule wirksam werden.“ Ebd. S. 200.

Vgl. Bräuer, Gerd (1996), Warum schreiben? Schreiben in den USA: Aspekte, Verbindungen, Tendenzen. Frankfurt a.M.; New York: Peter Lang. S.181 f. Da es mittlerweile eine Vielzahl an Definitionen zu Lesetagebüchern, beschränke ich mich in dieser Arbeit aus Platzgründen auf die Einteilung nach Bräuer.

[18] Vgl. Bräuer 1996, S. 182.

[19] Hintz (2005), S. 91.

Vgl. Bräuer, Gerd (2000): Schreiben als reflexive Praxis. Tagebuch, Arbeitsjournal, Portfolio. Fillibach Verlag, Freiburg. S. 21.

[21] Bräuer 1996, S. 189.

Vgl. Bräuer, Gerd (1998): Schreibend lernen. Grundlagen einer theoretischen und praktischen Schreib-didaktik. Studien Verlag, Innsbruck. S. 179 f.

[23] Hintz 2005, S. 90 sowie Bräuer 1996, S. 178ff.

[24] Ich bin mir dabei der von Bräuer formulierten Kritik durchaus bewusst, denke aber, dass durch eine frühzeitige Informierung der Schüler über eine Veröffentlichung ihrer Texte, diese zumindest zum Teil relativiert werden kann.

[25] Diese Zielsetzung verfolgte ich bei der ersten Erprobung der Methode zu ‚Krabat‘.

[26] Um einen deutlichen Unterschied zwischen der allgemeinen Definition eines Lesetagebuchs und meiner Form zu vermeiden, werde ich im Folgenden den Begriff des ‚Portfolios‘ verwenden, wobei einerseits der Aspekt der Prozessorientierung als auch der des Tagebuchstils mit bedacht werden sollen. Sofern es jedoch um einen Vergleich mit der bereits durchgeführten Reihe zu ‚Krabat‘ geht, werde ich das in diesem Zusammenhang geführte Begleitheft weiterhin als ‚Lesetagebuch‘ bezeichnen.

[27] Vgl. Beste, S. 54.

Bovet, Gislinde/Huwendiek, Volker (2006): Leitfaden Schulpraxis. Pädagogik und Psychologie für den Lehrberuf. Cornelsen Verlag, Berlin. S. 273.

[29] Folgendes Schaubild stammt aus Bovet/Huwendiek S. 274; vgl. für die folgenden Ausführungen ebenfalls Bovet/Huwendiek S. 274 f.

[30] Vgl. u. a. Fix S. 11, Hintz 2005 S. 2.

[31] Abraham (2006), S, 66.

Neumann, Helga (1988): Leserziehung durch Individuallektüre – Beispiel „Lesetagebuch“. Schulbibliothek aktuell, 28-32, S. 29-33. Zitat S. 31.

[33] Ebd.

[34] Vgl. ebd.

Ende der Leseprobe aus 48 Seiten

Details

Titel
Vom „Lesetagebuch“ zum „Produktportfolio“
Untertitel
Umgang mit Ganzschriften im Deutschunterricht einer Klasse 7 bzw. 8
Note
1,7
Autor
Jahr
2008
Seiten
48
Katalognummer
V213211
ISBN (eBook)
9783656502753
ISBN (Buch)
9783656504146
Dateigröße
10634 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
lesetagebuch, produktportfolio, umgang, ganzschriften, deutschunterricht, klasse
Arbeit zitieren
Jana M. (Autor:in), 2008, Vom „Lesetagebuch“ zum „Produktportfolio“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/213211

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