Suizidalität im Jugendalter – Angst ein Risikofaktor?


Diplomarbeit, 2008

124 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

I. Kapitel

2. LebensphaseJugend
2.1 Begriffsbestimmung Jugendalter und zeitliche Strukturierung der Lebensphase Jugend
2.2 Psychologische Perspektive zur Abgrenzung der Lebensphase Jugend
2.2.1 Abgrenzung Kindheit - Jugendalter
2.2.2 Abgrenzung Jugendalter - Erwachsenenalter
2.3 Soziologische Perspektive zur Abgrenzung der Lebensphase Jugend
2.3.1 Abgrenzung Kindheit - Jugendalter
2.3.2 Abgrenzung Jugendalter - Erwachsenenalter
2.4 Bewaltigungsprobleme von Entwicklungsaufgaben und Risikoentwicklung im Jugendalter
2.5 Zusammenfassung und Resumee

II. Kapitel

3. Suizidalitat, Suizidmodelle und ausgewahlte Theorien zur Erklarung von suizidalem Verhalten im Jugendalter
3.1 Begriffsbestimmung Suizidalitat
3.1.1 Die Suizididee
3.1.2 Der Suizidversuch
3.1.3 Der Suizid
3.2 Suizidmodelle
3.2.1 Das Krisenmodell
3.2.2 Das Krankheitsmodell
3.3 Ausgewahlte Theorien zur Erklarung von Suizidalitat im Jugendalter
3.3.1 Die soziologische Theorie nach E. Durkheim
3.3.2 Die psychoanalytische Theorie nach S. Freud
3.3.3 Die psychodynamische Theorie nach E. Ringel
3.3.4 Die Lerntheorie nach M. E. P. Seligman und J. W. Brehm
3.4 Zusammenfassung und Resumee

III. Kapitel

4. Psychosoziale Belastungsfaktoren und Notsignale einer moglichen Suizidhandlung ..
4.1 DieFamilie
4.1.1 Die Familie als Ort von Konflikten
4.1.2 Sexueller Missbrauch und physische Gewalt
4.1.3 Trennung, Scheidung, Tod eines Elternteils
4.2 DieSchule
4.2.1 Schulische Uberforderung
4.2.2 Mobbing
4.2.3 Schulverweigerung
4.3 Freundschaftsbeziehungen
4.4 Notsignale einer moglichen Suizidhandlung
4.4.1 Direkte Suizidankundigungen
4.4.2 Indirekte Suizidankundigungen
4.5 Zusammenfassung und Resumee

IV. Kapitel

5. Angste von Jugendlichen im Zusammenhang mit Suizidtendenzen
5.1 Begriffsbestimmung Angst
5.1.1 Unterscheidung Furcht, Panik, Phobie und Besorgnis
5.1.2 Angst und ihre Bedeutung
5.2 Entwicklungstypische Angste versus klinische Angste
5.2.1 Entwicklungstypische Angste
5.2.2 Klinische Angste
5.3 Spezifische Angststorungen als Risikofaktor einer suizidalen Entwicklung
5.3.1 Die Storung mit Trennungsangst
5.3.2 Die soziale Phobie
5.3.3 Die Panikstorung und die Agoraphobie
5.3.4 Die posttraumatische Belastungsstorung
5.4 Ausgewahlte Erklarungsmodelle von Angst
5.4.1 Angst als Bedrohung des Ichs - psychoanalytische Modelle
5.4.2 Angst als Bindungsverlustangst - bindungstheoretisches Modell
5.4.3 Angst als erlerntes Verhalten - lerntheoretische Modelle
5.5 Risikofaktoren fur die Entstehung von Angststorungen im Jugendalter
5.5.1 Familiare Faktoren
5.5.2 Kritische Lebensereignisse und Bewaltigungsstrategien
5.6 ZusammenfassungundResumee

V. Kapitel

6. Schutzfaktoren und Pravention von ubermafiigen Angsten und suizidalem Verhalten im Jugendalter unter salutogenetischen Aspekten
6.1 Schutzfaktoren und die primare Pravention
6.1.1 Die Familie als soziales Netzwerk
6.1.2 Die Schule als Ort sozialen Lernens
6.1.3 Freundschaftsbeziehungen als sozialer Ruckhalt
6.2 ZusammenfassungundResumee

7. Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis

Anhangverzeichnis

Mein personliches Interesse an dem Thema der Suizidalitat im Jugendalter entstand durch ein pragnantes Ereignis als ich selbst im Jugendalter war.

Es ist 13 Jahre her, seitdem sich Monika S. (Name geandert) das Leben nahm. Sie gehorte zu jener Zeit zu unserer Clique. W ir hatten damals nicht so intensiv en Kontakt wie beste Freundinnen, doch sie gehorte dazu und viele an dere Jugendliche aus der Stadt X kannten sie. Monika war immer freundlich und gut aussehend - eine typische Jugendliche im Alter von 16 Jahren. Aus heutiger Perspektive wurd e ich sie als angepasst u nd unauffallig be- schreiben, da sie sich nicht in den Mittelpunkt drangte. Irgendwann lernte sie ihren Freund kennen und man sah sie imm er weniger in der Clique. Ich denke, die m eisten fanden es verstandlich, mehr Zeitmit dem Freund als mit anderenF reunden oderFreundinnenzu verbringen. Doch irgendwann hiefi es, Monika habe sich das Leben genommen, sie sei tot. Der Schock war grofi. Man fragte sich, wie sich erst ihre Eltern, ihr Bruder und ihr Freund gefuhlt habenmussen? Ohnmachtig, hilflos,verzweifelt, schuldig? Es wurdeerz ahlt, sie habe sich mit Herzmedikamenten und Alkohol in der W ohnung ihres Freundes das Leben genommen. Einen Abschiedsbriefhabe es nich t gegeben. Niemand hatte damit gerechnet. Alle dachten, sie sei glucklich. Ihr Tod war plotzlich und unerwartet. Keiner wusste, dass es ihr schlecht ging, dass sie Angst um ihre Beziehung hatte, da ihr Freund an Trennung dachte. Erst als es schon zu spat war, offenbarten sich die Sorgen und Angste von Monika.

Suizidhandlungen stellen in I ndustriestaaten ein gravierend es Problem dar. Besonders alarmierend ist die Suizidrate beijungen Me nschen (vgl. Wunderlich, 2004, S. 7). In der Altersgruppe bis 25 Jahre sterben in Deutschland durchschnittlich ein bis zwei junge Men- schen taglich durch Suizid (vgl. Schnell, 2005, S. 457). Der Suizid zahlt bei deutschen Ju- gendlichen und in Europa zur zweithaufigsten Todesursache im Jugendalter, gleich nach Verkehrsunfallen (vgl. Brundel, 2004, S. 46).

Da Suizidalitat besonders in der Lebensphase der Jugend keine Seltenheit ist und das The - ma haufig tabuisiert wird, sehe ich hierin die Rechtfertigung meiner Themenwahl. Bis heu- te frage ich mich, warum nehmen sich manche Jugendliche das Leben? Was geht in ihnen vor? Welche psychische Entwicklung durchlaufen sie, bis sie keinen Mut mehr zum Leben haben? Welche Belastungsfaktoren konnen zu einer suizid alen Handlung fuhren? Welche Rolle spielenFamilie, SchuleundFreundschaf ten? Wie kannman suizidgefahrdete Ju­gendliche erkennen? Spielen Angste in der Su izidproblematik eine Rolle? Was ist Angst? In welchem Zusammenhang stehen Angste m it einer suizidalen Entwicklung? Ist es die Angst zu leben? Oder die Angst zu sterben? Konnen Schutzfaktoren Suizide bei Jugendli- chen verhindernundwiekannm an als Sozialarbeiter/Sozialpadagoge ubermafiigen Ang- sten und somit einer suizidalen Entwicklung vorbeugen?

Wahrend inderherkommlichenLiteraturin Bezug auf Suizidalitat im Jugendaltere ine enge Beziehung zwischen Suizidalitat und De pression gesehen wird und eine Depression als die entscheidende Auslosebedingung fur Suizidhandlungen gilt, mehren sich in der ak- tuelleren Literatur die Hinweise dafur, dass Angste, insbesondere die Angststorung, eine

Rolle bei der Psychodynamik einer suizidalen Entwicklung spielt. Doch erstaunlicherweise ist der Interaktionszusammenhang zwischen Angst und Suizidalitat bis heute, selbst in der neueren Suizidliteratur, nur wenig erortert worden. Des Weiteren sieht die Angstliteratur in der Regel die Angststorung im Kindes- und Juge ndalter nicht als eine Storung an, die zu einer suizidalen Handlung fuhrt.

Meine Diplomarbeit will deshalb den Zusammenhang zwischen suizidalem Verhaltenim Jugendalter und Angsten beleuchten, denn m eine Forschungsfrage lautet: W elchen Ein- fluss haben Angste auf eine suizidale En twicklung im Jugendalter und wie kann man als Sozialarbeiter/Sozialpadagoge ubermafiigen Angsten und einer suizidalen Entwicklung von Jugendlichen vorbeugen?

Die Beantwortung m einer Forschungsfrage basi ert auf einer Literatu rrecherche, d.h. es handelt sich um eine theoretische und keine empirische Arbeit.

Der Inhaltm einer Arbeit gliedert sich in f unf Kapitel und zur Beantwortung der Fragen sollen im Folgenden die einzelnen Kapitel kurz skizziert werden.

Im ersten Kapitel wird der Begriff „Jugend“ geklart. Es wird die Lebensphase „Jugend“ geschildert und aufgezeigt, welche Anfo rderungen und Erwartungen an die Jugendzeit gestellt werden, d.h. in welchem Spannungsfeld Jugendliche heute leben.

Im zweiten Kapitel wird der Begriff „Suizidalitdt“ erlautert und die Be griffe „Suizid“, „Suizidversuch“ und „Suizididee“ werden voneinander abgegrenzt. Danach werden unter- schiedliche Suizidmodelle und Suizidtheorien beschrieben, welche suizidales Verhalten im Jugendalter erklaren wollen.

Im dritten Kapitel geht es um die Belastungsfaktoren, die zu einer Suizidhandlung fuhren konnen, und darum, wie man suizidgefahrdete Jugendliche moglicherweise fruhzeitig er- kennen und ihnen somit noch helfen kann.

Im vierten Kapitel wird der Begriff „Angst“ definiert und von klinischen Angsten abge­grenzt. Spezifische Angststorungen im Jugendalter werden im Zusammenhang mit einer suizidalen Entwicklung vorgestellt, bevor ich auf einige ausgewahlte Theorien und Risiko- faktoren zur Entstehung von Angst eingehe.

Im funften Kapitel werden praventive Mafinahmen und Schutzfaktoren unter einem salu- togenetischen Blickwinkel betrachtet, welche die Gesundheit von Jugendlichen starken und moglicherweise eine suizidale Entwicklung verhindern konnen, bevor ich mit der Schluss- bemerkung zu meiner Diplomarbeit eben diese abschliefie.

Der Gegenstand meiner Arbeit fur die Sozialar beit/Sozialpadagogik liegt darin, den Leser und allen, die mit jungen Menschen zu tun haben, uber das Thema zu informieren und da- fur zusensibilis ieren, dasuizidgefahrdete Jugendliche meist nichtauf fallen, sich haufig angepasst verhalten und mogliche Notsignale deshalb oft nicht erkannt werden. Aufierdem soll meine Arbeit praventive Mafinahmen aufzeigen, um ubermafiige Angste und suizidales Verhalten bei Jugendlichen zu verhindern, denn reagiert wird haufig erst, wenn Hilfe nicht mehr moglich ist.

I. Kapitel

2. Lebensphase Jugend

„Das Leben wird vorwarts gelebt und ruckwarts verstanden“ (vgl. Kierkegaard; zit. nach Schurian, 1989, S.9).

Die Beschaftigung mit dem Jugendalter bedeutet zugleich, sich auchmit der eigenen Ju­gend auseinanderzusetzen, da es die Zeit ist, „(...) in der im Verlauf der lebenslangen Ent- wicklung das Verhaltnis von Ich und Umwelt zum ersten Mal intensiv erlebt und gelebt wird“ (zit. nach Schurian, 1989, S. 9).

Die Sozialgruppe „Jugend“ wirdnach dem durchschnittlichen Alltagsverstandnis vor al- lem durch ihr Alter bestimmt, d.h. sie wird als spezifische „Lebensaltersgruppe“ begrif- fen. Das Lebensalter ist ein zentrales Konstitutionsmerkmal von Jugend, es reicht aber kei- nesfalls aus, um Jugend zu definieren, insbesondere nicht in der Hinsicht, sie inhaltlich zu bestimmen. Es bleibt demzufolge zu erklaren, wie das Jugendalter von der Kindheit einer- seits undvom Erwachsenenalter andererseits abzugrenzenist. Beieinem reinaltersmafii- gen Begriff von Jugend bliebe unklar, was die Jugend eigentlich ausm acht, d.h. welche

Probleme Jugendliche beschaftigen, welche Aufgaben ihnen gestellt werden und m it wel- chen Chancen und Bewaltigungsproblemen sie konfrontiert werden.

Mit Jugend ist nicht nur eine Lebensaltersgrupp e gemeint, sondern zugleich ein Struktur- muster, einegesellschaftlich entwickelte und ausgestalteteLebensphase,diedenZwec k hat, bestimmte gesellschaftliche Erfordernisse und Fun ktionen sicherzustellen (vgl. Munchmeier, 2001 in Otto & Thiersch, 2001, S. 816).

Im Folgenden wird deshalb die Lebensphase „Jugend“ geschildert und dabei aufgezeigt, welche Anforderungen und Erwartungen an die Jugendzeit gestellt werden, d.h. in wel- chem SpannungsverhaltnisJugend liche heute leben. Dazuwirdzunach st eine Definition und Abgrenzung des Jugendalters im Lebenslauf vorgenommen und es wird beleuchtet, mit welchen Bewaltigungsproblemen Jugendliche konfrontiert werden konnen.

2.1 Begriffsbestimmung Jugendalter und zeitliche Strukturierung der Lebensphase Jugend

Das Jugendalter ist eine Phase, die durch das Z usammenspiel biologischer, intellektueller und sozialerVeranderungen innerhalb desLebenszykluses zurQuellevielseitig er Erfah- rungen wird. Fur einige Jugendliche ist sie ei ne positive Zeit, fur andere ist sie hingegen mit personlichen, familiaren oder aufierfamiliaren Problemen verbunden. Mit der J ugend ist die Ubergangsperiode gemeint, die zwischen Kindheit und Erwachsenenalter liegt, d.h. es ist eine Zeit, wo Verhaltensformen der Kindheit aufgegeben und Merkmale sowie Kom- petenzen des Erwachsenen erworben werden, wie beispielsweise Rollen, Aufgabe n und Status (vgl. Oerter & Montada, 2002, S. 258). Die L ebensphase „Jugend“ wird in den Wissenschaften unterschiedlich bezeichnet.

Die Soziologen sprechen von „Jugend“. Dabei tritt hauptsachlich die historische Bedingt- heit einer nach Alter sortierten Gruppe von Menschen in den Vordergrund.

Psychologen sprechen dagegen von der „Adoleszenz“ und wollen dam it ausdrucken, dass Besonderheiten der psychischen Gestalt und de s psychischen Erlebens im Rahmen eines Entwicklungsmodells zu beachten sind (vgl. Fend, 2003, S. 22f). Adoleszenz steht fur den Entwicklungsabschnitt, derim Schwerpunktdas zweite Lebensjahrzehntumfasst. Eswird noch einmal zwischen der „fruhen Adoleszenz“, sie umfasst die Zeitspanne vom 11. bis 14. Lebensjahr, der „mittleren Adoleszenz“, damit istdieZeitspannezwischende m 15.und 17. Lebensjahr gemeint, und der „spaten Adoleszenz“, sie umfasst das 18. bis 21. Lebens - jahr, unterschieden (vgl. Oerter & Montada, 2002, S. 259).

Die Pubertat wird von Adoleszenzf orschern auf die biologischen Merkm ale eingegrenzt. Sie setzt bei Madchen manchmal schon nach dem 10. Lebe nsjahr ein und ist bei „spaten“ Jungen gegen Ende des zweiten Lebensjahrzehnts abgeschlossen (vgl. Fend, 2003, S. 101). Im Vergleichzum 19.JahrhunderthatsichdieLebensphase „Jugend“ aufKostender Kindheits- und Erwachsenenphase bis in die Mitte des dritten Jahrzehnts ausgedehnt.

„Wahrend sich um 1900 der Ubergang von der Kindheit in das Erwachsenenalter noch recht abrupt, direkt und ohne Ubergang vollzog, hat sich seit ca. 1950 die Phase der Ju- gendzeit dazwischen geschoben, die sich bis zum Jahre 2000 immer mehr ausdifferenziert hat und noch weiter ausdifferenzieren wird“ (s. Anhang A) (zit. nach Brundel, 2004, S. 19).

Der Ubergang ins Berufsleben verlauft heutzu tage weniger abrupt als es im 19. Jahrhun- dert noch der Fall war und som it zogert sich die finanzielle Selbststandigkeit Jugendlicher hinaus. Damals wurde derUberganginsBeru fsleben schonmit dem EndederKindheit vollzogen (oderzum Teilnoch zeitiger) unddiejungenMenschenm ussten fursichund den Unterhalt der eigenen Familie sorgen. Die heutige Gesellschaf t ermoglicht durch den Prozess der Individualisierung mehr Freiraum fur individuelle Wege und individuelle Ent- scheidungen (z.B. Berufswahl), dafur gibt es aber auch ge ringere Orientierungen, auf die sichjunge Mensch bei ihrer Entscheidung stutzen konnen.

2.2 Psychologische Perspektive zur Abgrenzung der Lebensphase Jugend

Mehrere Aspekte konnen laut HURRELMANN (1999) aus entwicklungs- und personlich- keitspsychologischer Sicht den Ubergang von der Kindheit zum Jugendalter und vom Ju- gendalter zum Erwachsenenalter verdeutlichen (vgl. Hurrelmann, 1999, S. 31).

2.2.1 Abgrenzung Kindheit - Jugendalter

Die Jugendzeit wird m it der Pubertat eingeleit et, so dass der Beginn relativ eindeutig m it den hormonellen, physiologischen und m orphologischen Veranderungen festgesetzt wer - den kann (vgl. Oerter & Montada, 2002; Fend, 2003 in Brundel, 2004, S. 18). Die Pubertat setzt aber nicht abrupt ein, sondern fliefiend (vgl. Brundel, 2004, S. 18).

Dennoch kennzeichnet sie insofern einen tiefgr eifenden Einschnitt in die Personlichkeits- entwicklung einesjungen Menschen, weil es dur ch die Geschlechtsreife zu einem plotzli- chen Ungleichgewicht in der psycho-physisch en Struktur der Personlichkeit kommt. Ana- tomische, physiologischeundhor monelle Veranderungen des gesamten Korpersmachen ,,(...) gewissermafien eine Neuprogrammierung von physiologischen, psychologischen und auch sozialen Systemen notwendig, um auf die veranderten Korperfunktionen und auf die hierdurch zum Teil mitbeeinflussten veranderten Umweltbedingungen reagieren zu kon- nen“ (zit. nach Hurrelmann, 1999, S.31; vgl. Hurrelmann, 2004, S. 26).

Entsprechend FREUD (1905) beginnt hier die so genannte „genitale Phase", die zur Auf- nahme heterosexueller Aktivitaten fuhrt, d.h. sexuelle Triebwunsche konzentrieren sich auf das Genital und alle anderen erogenen Zonen werden dem Genital untergeordnet. Jugendli- che mussen lernen, ihre eigene korperliche und sexuelle Entwicklung anzunehm en und zu akzeptieren. Sie mussen eine eigene Haltung zu ihrem Korper hin entwickeln (vgl. Freud, 1905 inLangfeldt, 1996, S. 141).

Nach PIAGET (1966; 1969) sowi e PIAGET und INHELDER (1972) strukturiert sich in der Jugendphase ganz entscheidend die Intel ligenz und Jugendliche sind som it zu geistig formalen Operationen, d.h. zur Abstraktion, in der Lage (vgl. Piaget, 1966, Piaget & Inhel- der, 1972 inBrundel, 1993, S. 13; Piaget, 1969 inLangfeldt, 1996, S. 69).

Im SinnevonERIKSON (1981, 1950, 1971, 1989, 1959) entwickelt sichindiesemLe - bensabschnitt ein neues Identitatsgefuhl, denn Jugendliche sind auf der Suche nach ihrem Selbst (vgl. Erikson, 1981 inBrundel, 1993, S. 13; Erikson, Original 1950, 1971, Original 1959, 1989 inLangfeldt, 1996, S. 76).

Im Vergleich zu den Anforderungen und Hera usforderungen aus dem biologischen und psychosozialen Bereich sind die psychische n Bewaltigungsverfahren im Kindheitsalter anders als im Jugendalter. Eine Bewaltigung ist im Jugendalter nur dadurchm oglich, dass sich Jugendliche von den prim aren Bezugspersonen, also meist den Eltern, innerlich ablo- sen und eine eigenstandige, autonome Organisation des Bewaltigungsprozesses vornehmen (vgl. Hurrelmann, 2004, S. 26).

Nach HURRELMANN(1986)istdieJugendze it Integrations-und Individuationsphase zugleich, indem Jugendliche vor fast unvere inbare psychophysische und sozialem otionale Anforderungen gestellt werden, da sie wahr end der Jugendzeit so genannte Entwicklungs- aufgaben zu erfullen haben (vgl. Hurrelmann, 1986; in Brundel, 1993, S. 13).

Der Begriff der Entwicklungsaufgabe hat si ch in der Entwicklungspsychologie als ein Konzept durchgesetztundgehtauf den ErziehungspsychologenHAVIGHURST (1972 ) zuruck. Eine Entwicklungsaufgabe besteht demnach aus einer psychischen und sozialen Erwartung und den Anforderungen bzw. Heraus forderungen, die an Personen in eine m bestimmten Lebensabschnitt gestellt werd en. Entwicklungsaufgaben sind laut HAVIG- HURST (1972)kultur-undgesellschaftsabhangigundnurwenigevoni hnen sindallein durch biologische und psychische Reifungspro zesse festgelegt (vgl. Havighurst, 1972 in Hurrelmann, 2004, S. 27f).

Fur die Jugendphase lassen sich folgende Entwicklungsaufgaben benennen:

- Zu Altersgenossen beiderlei Geschlechts neue und reifere Beziehungen aufbauen,
- die mannliche/weibliche Geschlechtsrolle ubernehmen,
- akzeptieren der eigenen kor perlichen Veranderungen und effektive Nutzung des Kor- pers,
- emotionale Unabhangigkeit von der Eltem und anderen Erwachsenen erlangen,
- Vorbereitung auf Ehe und Familie,
- Vorbereitung auf eine berufliche Laufbahn,
- Werte und ethisches System erlangen, die als Leitfaden fur Verhalten dienen, und
- sozial verantwortlichesVerhalten erstrebenunderreiche n (vgl.Havighurst, 1982in Oerter & Montada 2002, S. 270 in Brundel, 2004, S. 22).

Es besteht eine wechselseitige Verbindung von unterschiedlichen Entwicklungsaufgaben in jeder einzelnenLebensphase,d.h. „(...) diese Aufgaben entstehen im Jugendalter nicht vollig neu, sondern stehen mit den Entwicklungsaufgaben aus der Kindheit in Verbindung, konkretisieren sich altersentsprechend und reichen in leicht veranderter Form in das Er- wachsenenalter hinein“ (s. Anhang B) (vgl. Havighurst, 1982; zit. nachBrundel, 2004, S. 21). LautHAVIGHURSTS (1953) Definition von „developmental task“ handeltessich um Aufgaben „(...) in oder wahrend der individuellen Lebensperiode, deren erfolgreiches Erreichen zu Glucklichsein und Erfolg mit zukunftigen Aufgaben fuhrt, wohingegen Versa- gen das Individuum unglucklich macht und zu gesellschaftlicher Missbilligung und Schwierigkeiten mit zukunftigen Aufgaben fuhrt“ (vgl. Havighurst, 1953; zit. nachLiep- mann & Stiksrud, 1985, S. 1f).

Die Entwicklungsaufgaben des Jugendalters si nd qualitativ und in ihrer Strukturiertheit deutlich anders als im Kindesalter, da es zum ersten Mal im Leben zu einer bewussten oder mindestens bewusstseinsfahigen Entwicklung ei nes Bildes vom eigenen Selbst und einer Ich-Empfindung kommt (vgl. Hurrelmann, 2004, S. 28).

2.2.2 Abgrenzung Jugendalter - Erwachsenenalter

Von einem Ubergangvom Jugendalterinda s Erwachsenenalterka nn danngesprochen werden, wenn die oben genannten Entwicklung saufgaben des Jugendalters bewaltigt und die „Selbstbestimmungsfahigkeit“ desIndividuums erreichtwurde. Intellektuelle und so- ziale Kompetenzen sind entwickelt, der Aufbau der Selbststandigkeit ist abgeschlossen, die Ubernahme von selbstverantwortlichen, anforder ungsreichen Leistungstatigkeiten ist er- folgt, der Aufbau einer festen, eigenen Partnerbeziehung zum anderen Geschlecht ist voll- zogen und die Moglichkeit einer familiaren Bindung ist gegeben. Des Weitern ist das Wer­te- und Normensystem entfaltet und hat eine vorlaufige Stabilitat erreicht. Es ist somit ver- antwortliches und berechenbares Handeln m oglich. Das Erwachsensein wird m eist durch die eben genannten Eigenschaften charakte risiert, insbesondere durch Personlichkeits- merkmale, die sich durch einen hohen Grad von Selbststandigkeit und Selbstbestimmung auszeichnen und zugleich Verantwortlichkeit gegenuber den Belangen und Interessen an- derer Individuenzum Ausdruckbringen. „(...) [I]nsgesamt ist die Fahigkeit ausgepragt, auf Anforderungen von „innen“ (Korperveranderung usw.) und von „aufien“ (durch die Umwelt) wirksam und eigenstandig einzugehen“ (vgl. Oerter, 1985; zit. nach Hurrelm ann, 1999, S. 35).

In der Regel ist die psychische und soziale Ablosung von den eigenen Eltern ein besonders markantes Kennzeichen fur das Erreichen dieses vorlaufigen Stadium s der personlichen Stabilitat, denn die Gewinnung der eigenen Identitat ist der Kernkonflikt des Jugendalters.

Der Jugendliche muss seine eigene Erwachsene nidentitat herausbilden, d.h. er sollte laut HURRELMANN (2004), „(...) uber verschiedene Handlungssituationen und uber unter- schiedliche lebensgeschichtliche Einzelschritte der Entwicklung hinweg eine Kontinuitat des Selbsterlebens (...) “ wahren. „Hierzu mussen die Fahigkeiten der Selbstwahrnehmung, der Selbstbewertung und der Selbstreflexion entwickelt sein. Identitat ist das Erleben des Sich- Selbst-Gleichseins“ (zit. nach Hurrelmann, 2004, S. 30).

Die Abgrenzung zwischen Jugend und Erwachse nenalter ist schwieri ger als die Abgren- zung zwischen Kindheit und Jugend, weil die Gr enzen in diesem Bereich eher fliefiend sind und es nicht m oglich ist, eine Alterssp anne far das Passieren des Ubergangspunktes zwischen diesen beiden Lebensphasen zu nennen (vgl. Hurrelmann, 2004, S. 29). Wann ein Jugendlicher das Erwachsenenalter im psychologischen Sinne erreicht hat, ist abhangig von der individuellen biologischen, kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklung des Jugendlichen.

2.3 Soziologische Perspektive zur Abgrenzung der Lebensphase Jugend

Die soziologischen Darlegungen knupfen an die psychologischen Argumente an und neh- men das Konzept der Entwicklungsaufgaben weiter auf. Im Vordergrund der soziologi­schen Perspektive steht die Frage, „(...) zu welchem Grad und in welchem Bereich der Prozess des Einruckens in die verantwortlichen gesellschaftlichen Mitgliedsrollen erfolgt“ (zit. nach Hurrelmann, 2004, S.31).

Die Ubergange vom Kind zum Jugendlichen bzw. vom Jugendlichen zum Erwachsenen sind aus soziologischer Sichtweise so genannte Statuspassagen. Unter „Statuspassagen“ werden Veranderungen der sozial en Verhaltensanforderungen verstanden, die ein solches Ausmafi erreichen, dass vom Ubergang von einer sozialen Position in eine and ere gespro- chen werden kann (s. Anhang C). Es sind mitjedem sozialen Status bestimmte Vorstellun- gen daruber verbunden, wie sich Statusinha ber angemessen verhalten sollen und welche Rechte und Pflichten siejeweils besitzen (vgl. Buchmann, 1983; Fuchs-Heinritz, 2002 in Hurrelmann, 2004, S. 32). Statusubergange sind nicht eindeutig definiert und zeitlich fi - xiert, sondern untergliedern sich vielmehr in Einzelbereiche, die eine unterschiedliche so- ziale Bedeutung und damit auch eine verschiedenartige biographische Sinngebung erhalten konnen (vgl. Fend, 1990 in Hurrelm ann, 2004, S. 32), was im Folgenden noch naher dar- gestellt wird.

2.3.1 Abgrenzung Kindheit - Jugendalter

Es wirdbeim Ubergang vom Status „Kindheit“ in den Status „Jugend“ eine schrittweise Erweiterung der Handlungsspielraume erkennbar, die zeitgleich eine Erweiterung der Rol- lenvielfalt mit sichbringt. Alle genanntenEntwicklungsbereiche sindhierfurvonBedeu- tung:

- Sich auf eine berufliche Laufbahn vorbereiten

Die sozial gestellten Erwartungen konnen nur erfullt werden, wenn die Leistungsk ompe- tenzen anwachsen. Die individuelle Uber nahme von neuen Rollen setzt schon m it dem Ubergang in die Schulerrolle zur Mitte der Ki ndheit ein. Hier wird zum ersten Mal erwar- tet, dass Kinder und Jugendliche gesetzte Lem leistungen unabhangig von ihren Eltern er- bringen. Charakteristisch fur den Ubergang vo m Kindheitsalter in das Jugendalter sind die schrittweise auf eine m immer komplexeren und anspruchsvolleren Niveau ablaufende n Lernleistungen.

- Unabhangigkeit von Eltern erreichen und Gleichaltrigenkontakte

Auch in diesem Bereich kommt es zu einem kontinuierlichen Statusubergang. Im Bereich der sozialen Kontakte zu Gleichaltrigen bringen die Aufgaben und Erwartungen an die Jugendphase diese Aspekte mit sich, dass sich einjunger Mensch aus der sozialen Bindung der Familie lost und neue Anspruche und Anforderungen bewaltigt, die andere Bedingun- gen fur die Bildung der Identitat verlangen als die Familienzugehorigkeit. Kennzeichnend fur diese Phase sind die Verselbststandigung der sozialen Kompetenzen und Kontakte und die Anreicherung des sozialen Rollengefuges. Die Ablosung von den Eltern wird aus so- ziologischer Perspektive als der entscheidende Schritt zur eigenstandigen Integration in der Sozialstruktur der Gesamtgesellschaft angesehen.

- Sozial verantwortliches Verhalten erstreben und erreichen

Die typischerweiseverstarkte Orientierung anGleichaltrigen istzugleich einSchritt, den junge Menschen unternehmen, um bei der Bewaltigung der gesellschaftlichen Anforderun­gen, Unterstutzung zu erhalten. Gleichaltrige befinden sich in der gleichen Lebenslage und nehmen eine gemeinsame Bestimmung ihrer Lebenswelt vor, dadurch dass sie sich bei der Losung ihrer biographischen Aufgaben und E motionen gegenseitig unterstutzen konnen. Gleichaltrigengruppen stellen soziale Raume dar, in denen Selbststandigkeit praktisch und in geeignetem Rahmen erlernt werden kann (vgl. Hurrelmann, 2004, S. 33f).

- Werte und ethisches System erlangen, welche als Leitfaden fur Verhalten dienen

Im Unterschied zum Kindesalter erfolgt im Jugendalter zum ersten Mal die selbststandige und eigenstandige Orientierung und Mitgestaltung gesellschaftlich wichtiger, offentlicher Raume, „(...) wobei jeweils Chancen zum Erfolg und zum Versagen gegeben sind“ (vgl. Buchmann, 1983, S.65 zit. nach Hurrelm ann, 1999, S. 41). Die Einflussmoglichkeiten der Eltern sind gegenuber der Zeit der Kindheit nun reduziert, demzufolge ist eine Selbstbe- stimmung des sozialen und des politis chen Status ohne direkten Einflu ss der Eltern not - wendig. Die Vielfaltigkeit von Interaktionsfeld ern und Interaktionsverpflichtungen wachst an und es kommt zu einer Erweiterung des Rollensets (vgl. Buchmann, 1983, S.65in Hur­relmann, 1999, S.41; Hurrelmann, 2004, S. 34).

Der Prozess des Ubergangs vom Status „Kind“ in den Status „Jugendlicher“ ist aus sozio- logischer Sicht aufkeinenbestimmten Zeitpunkt anhand des biologischenAlters festzule- gen, dadieFahigkeiten, mit gesellschaftlichem Anforderungenumzugehen, unterschied- lich entwickelt werden. Sie sind von derje weiligen Entwicklungsaufgabe und von de m Handlungsspielraum abhangig, der dem jungen Menschen von Seiten der Umwelt (z.B. Eltern) entgegengebracht wird.

2.3.2 Abgrenzung Jugendalter - Erwachsenenalter

Der Ubergang vom Jugendstatus in den Erwach senenstatus ist laut Schafers (1982) dann vollzogen, „(...) wenn in den zentralen gesellschaftlichen Positionen die volle Selbststan- digkeit als Gesellschaftsmitglied erreicht ist“ (vgl. Schafers, 1982; zit. nach Hurrelm ann, 2004, S.34).DiewichtigstenTeilbereichede r Erwachsenenkorrespondieren wiederum mit den entsprechenden Entwicklungsaufgaben im Jugendalter, was anhand des folgenden Zitates dargelegt werden soll.

- „(-) die Berufliche Rolle als okonomisch selbststandigHandelnder,
- die Partner- und Familienrolle als verantwortlicher Familiengrunder
- die Konsumentenrolle einschliefilich der Nutzung des Mediensektors und
- die Rolle alspolitischer Burger mit eigener Wertorientierung“ (zit. nach Hurrelmann, 2004, S. 35).

Schulabschluss und Berufseintritt haben in de n industriellen Gesells chaften eine grofie Bedeutung im Prozess des Statusuberganges. „Mit ihnen wird die okonomische Statuszu- weisung im Gefuge sozialstruktureller Arbeitsteilung und Privilegien zu einem ersten, zu- mindest vorlaufigen Abschluss gebracht“ (zit. nach Hurrelm ann, 1999, S. 48). In diesem Sinne werden in der Jugendphase die ents cheidenden Weichen fur die Reproduktion der okonomischen Strukturen einer Gesellschaft gestellt.

Der Austritt aus dem Jugendalter ist dann wirklich erf olgt, wenn der U bergang in diese Teilrollen des Erwachsenenstatus vollzogen ist und ein entsprechender G rad von Autono- mie der Handlungssteuerung erreicht wurde (vgl. Hurrelmann, 1999, S. 42). Laut OLK (1988) werden in den meisten Gesellschaft en Versuche unternommen, den Ubergangspro- zess in das Erwachsenenalter aus soziologischer Sichtweise nach festen Altersvorgaben zu strukturieren (vgl. Olk, 1988 in Hurrelmann, 1999, S. 43). Dabei wird das biologische Al­ter als Kriterium fur eine „Statuszuweisung“ angesehen, wodurch die dam it verbundenen normativen Regelungen von Interaktionen in glei cher Weise als ein solches Kriterium be- trachtet werden. Einige Lebens ereignisse insbesondere Statusubergange sind formal insti- tutionalisier, wie z.B. Schulein tritt und W ahlfahigkeit, andere sind weniger form alisiert, wie z.B.HeiratsalterundBeginnderBe rufslaufbahn. LautGLASERundSTRAUSS (1971) existieren injeder Gesellschaft normative Vorstellungen uber das Alter, in welchem bestimmte Ubergange zu realisieren sind und Erwartungen zur zeitlichen Ordnung der ver- schiedenen Ereignisse feststehen (vgl. Glaser & Strauss, 1971 in Hurrelmann, 1999, S. 43). Die altersbezogene Statuszuschreibung hat di e gesellschaftliche F unktion, die Integration der Gesellschaftsmitglieder zu definieren. In Deutschland sind viele soziale Teilhabechan- cen in vielen Bereichen rechtlich geregelt (vgl. Hurrelmann, 1999, S. 43).

Es kann laut HURRELMANN (2004) konstatiert werden, dass derjunge Mensch eine ei- gene und unverwechselbare Identitat herausbilden sollte, um sich in sein em sozialen Um- feld durch selbststandiges autonomes Verhalten zu behaupten. Der Prozess der Individua­tion steht im Spannungsverhaltnis zur Integration. Integration ist der Entwicklungsgang der Ubernahme verantwortlicher sozialer Rollen. Das Spannungsverhaltnis zwischen Integrati­on und Individuation muss dazu gelost werden, damit der Jugendliche seine eigene Ich- Identitat herausbilden kann. Es mussen somit alle Anforderungen (Entwicklungsaufgaben) erfullt werden, damit Individuation, Integration und Identitatsbildung erfolgreich entwi- ckelt werden konnen (vgl. Hurrelmann, 2004, S. 30).

Die lebenstuchtige Personlichkeit entwickelt sich durch die tagliche Auseinandersetzung mit den Entwicklungsaufgaben im sozialen Kontext von Eltern, Gleichaltrigen, von Freun- den undLehrern(vgl.Fend,2003, S. 210).Die eigeneBelastung sollteim Jugendalter moglichst gering bleiben, um eine Schadigung des Selbstwertgefuhls zu vermeiden (vgl. Hurrelmann, 1989, S.51 inBrundel, 1993, S. 13). Die Jugendzeitbeginntmit derPubertat und istbeendet, „(...) wenn sich das Individuum selbst als autonom und erwachsen defi- niert“ (vgl. Olbrich, 1984; zit. nach Brundel, 1993, S. 13).

2.4 Bewaltigungsprobleme von Entwicklungsaufgaben und Risikoentwicklung im Ju­gendalter

Die Entwicklungjunger Menschen ist m it differenzierten Herausforderungen verbunden, „(...) die auch das Risiko des Scheiterns und des Nichtbewaltigens in sich tragen“ (zit. nach Brundel, 2004, S. 21). Am Beispiel der Entwicklungsaufgaben kann dies besonders gut veranschaulicht werden. Problem e von Jugendlichen konnen als die Schwierigkeit interpretiert werden, die alte rsspezifischen Entwicklungsaufgaben zu bewaltigen (vgl. Fend, 2003, S. 419).

Ein ProblemistnachDORNER(1976)danngegeben, „(-) wenn eine Person ein be-

stimmtes Ziel erreichen will, jedoch nicht weifi, wie sie zu diesem Ziel gelangen kann, d.h. nicht auf allgemein bekannte Operationen und spezifische Techniken zuruckzugreifen ver- mag“ (vgl. Dorner, 1976, S. 10; zit. nach Liepmann & Stiksrud, 1985, S. 2). Probleme werden in der Jugendphase starker als in der Kindheit kognitiv analysiert und eigene Hand- lungsmoglichkeiten abgeleitet. Es scheinen si ch dabei Bewaltigungsstrategien abzuzeich- nen, welche auch fur weitere Lebensphasen bedeutsam sind. Zur Beschreibung des indivi- duellen Bewaltigungsverhaltens wird haufig der englische Begriff „coping“ benutzt. Co­ping umfasst alle Bemuhungen, mit denen eine Person auf eine Beeintrachtigung, eine Be- drohung oder Herausforderung reagiert, wenn fr uhere oder automatische Reaktionen nicht zurVerfugung stehen (vgl. Rosch Inglehart, 1988, S. 16).

RESCH (1996)hatdenEntwicklungsaufgab en korrespondierendeRisikengegenuberge- stellt (vgl. Resch, 1996, S. 232 in Fend, 2003, S. 419). Er verw endet hierzu den Begriff „Krise“, welcher schon den Aspekt der Belastung und damit auch die personliche Betrof- fenheit der Person und die emotionale Zuspitzung ausdruckt (vgl. Brundel, 1993, S. 73).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(vgl. Resch, 1996, S. 232 in Fend, 2003, S.419)

NISSEN (1986) deutetPubertatsk onflikte alsubersteigertes Ausleben normaler Konflikte des Jugendalters, dies etwa im Ausdruck folgender Krisen:

1. „Autoritatskrisen: Hasserfullte affektive Ausbruche gegen den Vater, abweichend, storrisch; dranghaftes Weglaufen von Zuhause;
2. Identitatskrisen: Absonderung, gleichgultig gegenuber dem Leben, handlungs- schwach;
3. Sexualitatskrisen: Fixierung auf Autoerotik - Schuldgefuhle, Homosexualitatsangst
4. Vertrauens- und Kommunikationskrisen: Verlassensein, Verlorensein, Vorstellun- gen der eigenen Wertlosigkeit, Einsamkeit“

(vgl. Nissen, 1986; zit. nach Fend, 2003, S. 419).

Den Ausgangspunkt bildet hier die Vorste llung von der Nor malentwicklung. Eine Star- kung der Person durch steigende Kompetenzen, eine gelunge ne Individuation und eine gelungene soziale Integration sind, wie in de n vorangegangenen Punkten geschildert, inei- nander greifendeTeilprozesse,dieeinepr oduktive Entwicklung ersterm oglichen (vgl. Fend, 2003, S. 420).

Werden diese Teilprozesse gefahrdet, so kann man von einer Risikoentwicklung sprechen. Es lassen sich nach FE ND (2003) hierzu zwei grofie Klassen der Risikoentwicklung aus- machen.

- „Die Individuation ist dann gefahrdet, wenn die Person nicht auf dem Weg der Entfal- tung und Produktivitat ist, sondern auf dem Weg in die Selbstablehnung, auf einem Weg, immer kleiner und unscheinbarer zu werden. Die Handlungskompetenzen werden dadurch nicht erweitert, sondern bleiben unterhalb der objektiven Moglichkeiten.“
- „Die soziale Integration ist dann gefahrdet, wenn die Person die sozialen Lebenszu- sammenhange nicht mitgestaltet, sondern stort und wenn sie andere zerstort. In antiso- zialem Verhalten wird Ko-Regulation aufgekundigt und Gemeinschaft geschadigt“ (zit. nach Fend, 2003, S. 420).

Beide Verhaltensrichtungen haben laut ADLER (1966) etwas Zerstorerisches an sich. Die eine ist selbstschadigend, besteht im Ruckzug und in der S elbstreduktion, die andere scha- digt andere Menschen, aufiert sich im Angriff und in der Zerstorung bzw. Schadigung der anderen (vgl. Adler, 1966 in Fend, 2003, S.420) . Die am starksten ausgepragte Ruckzug- reaktion liegt beim Suizid vor (vgl. Rosch Inglehart, 1988, S. 17).

Heute wird laut ACHENBACH und EDELBROCK (1978) auf analoge Weise von interna- lisierenden und externalisierenden P roblembewaltigungen gesprochen (vgl. Achenbach & Edelbrock, 1978 in Fend, 2003, S. 420). Zur internalisierenden Problembewaltigung zahlen nach ACHENBACH (1982) die folgenden vier Symptomgruppen:

- „(...) angstlich-zwanghafte Belastungen,
- somatische Beschwerden
- schizoide Storungen,
- depressiver Ruckzug“,

die alle im Suizid munden konnen (vgl. Achenbach, 1982; zit. nach Fend, 2003, S.421; vgl. Althaus & Hegerl, 2004, S. 1123f).

Zur Gruppe des externa lisierenden Problemverhaltens zahlen aggressives, delinquentes Verhalten, der Gebrauch von legalen und illegalen Drogen sowie Risikov erhalten z.B.im StraBenverkehr (vgl.Fend,2003,S.421).Dasvorsatzliche „Hochrisikoverhalten“, wie z.B. das so genannte S-Bahn-Surfen oder die hochdosierte Einnahme von Drogen, schlie- Ben auch suizidale Tendenzen ein, wobei hier der Tod eher unbewusst in Kauf genommen wird (vgl. Volkamer, 2000, S.41; vgl. A lthaus & Hegerl, 2004, S. 1124). Auf die Gruppe des externalisierenden Problemverhaltens gehe ich in meiner Diplomarbeit allerdings nicht naher ein, da diese nicht Gegenstand der vorliegenden Aufgabenstellung sind.

Es ist laut OFFER (1984) und OLBRICH (1985) anzumerken, dass sich ein GroBteil der Jugendlichen konstruktiv mit den Anforderungen der Jugendzeit auseinandersetzt, d.h. dass die meisten jungen Menschen den Losungsprozess aktiv vorantreiben wurden, Freude a m Leben hatten, zumeist glucklich seien und uberw iegend positive Gefuhle den Eltern gege - nuberhaben (vgl. Offer, 1984; Olbrich, 1985, S. 23 in Brundel, 2004, S. 20).

Laut der DEUTSCHEN SHELL STUDIE (2006) werden die Einstellungen Jugendlicher, ihre Anspruche, Verhaltensweisen und ihre Selbstkonzepte uberwiegend als stabil angese- hen. Doch der Druck auf Jugendliche wachst heute zunehm end an, „(...) durch eine Zu- nahme kultureller und sozialer Spannungsfelder, einer standig wachsenden Zahl Jugendli­cher, die von relativer Armut betroffen sind und die zugleich hohen gesellschaftlichen Er- wartungen an Leistung und Qualifikationen“ (zit. nach Deutsche Shell Jugendstudie, 2006 in Internet 1). Ausgehend von den Ergebni ssen der Studie ist zu er warten, dass sich die genannten Faktoren zukunftig weiter negativ auf die Gesundheit und das Gesundheitsver- halten von Jugendlichen auswirken werden.

2.5 Zusammenfassung und Resumee

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Lebensphase „Jugend“ aus psycho- logischer und soziologischer Sichtweise eine Zeit hochster Anforderungen ist, da Jugendli­che verschiedene Entwicklungsaufgaben bzw. Statusubergange bewaltig en mussen, um ihre eigene Identitat herausbilden zu konnen. Es besteht ein Spannungsverhaltnis zwischen der Person und ihrer Umwelt, welches gelost werden muss. Die Identitatsbildung ist einer- seits von der biologischen, kognitiven, em otionalen und sozialen Entwicklung desjungen Menschen abhangig, andererseits von dem Handlungsspielraum, der dem Jugendlichen von Seiten seiner Umweltbzw. der Gesellschaft entgegengebracht wird. Die Ubergange vo m Kindheitsalter uber das Jugenda lter hin zum Erwachsenenalter sind flieBend und konnen daher nicht immer eindeutig definiert werde n. Doch in den m eisten Gesellschaften, wie auch in Deutschland, wird die Ubergansphase „Jugend“ zeitlich strukturiert, um die Integ­ration der G esellschaftsmitglieder zu definieren. Dabei gilt da s biologische Alter als be - stimmendes Kriterium. Die Ablosung vom Elternhaus, der Schulabschluss und der Eintritt ins Berufsleben sind besonders charakteristisch dafur, dass der Austritt aus der Jugendpha - se vollzogen und der S tatus des Erwachsenen, d.h. die volle Autonomie als Gesellschafts- mitglied, erreicht wurde.

Fur die meisten jungen Menschen ist die Lebensphase „Jugend“ eine positive Zeit und die Entwicklungsaufgaben werden ohne groBere Problem e bewaltigt. Doch fur einige ist sie

mit personlichen, familiaren und aufierfamiliaren Problemen verbunden. Die Bewaltigung der einzelnen Entwicklungsaufgaben kann da nn mit Schwierigkeiten einhergehen, wenn die Teilprozesse der Individuation und Integr ation gefahrdet werden. Z u der extremsten Form derinternalisierenden Problembewaltigung gehoren Suizidversuche undvollzogene Suizide. Sie sind eine n ach . .)innengerichtete, ruckzugsorientierte und zugleich selbst- aggressive Reaktion auf Problemkonstellationen der Entwicklungsaufgaben" (zit. nach Hurrelmann, 2004, S. 182).

Diese Jugendlichen, die die einzige Losung ih rer Probleme im Suizid bzw. Suizidversuch sehen, sollen im Mittelpunkt m einer Ausfuhrungen stehen. Ich m ochte mich deshalb im nachsten Kapitel meiner Arbeit m it den f olgenden Fragen beschaf tigen: Wie kommt es dazu, dass einige Jugendliche nicht m ehr leben wollen? Was geht in ihnen vor? Welche psychische Entwicklung durchlaufen sie, bis sie keinen Mut mehr haben zu leben?

II. Kapitel

3. Suizidalitat, Suizidmodelle und ausgewahlte Theorien zur Erklarung von suizidalem Verhalten im Jugendalter

„Immer enger wird mein Denken, immer blinder mein Blick, mehr und mehr erfullt sich taglich mein entsetzliches Geschick.“

(vgl. Ringel, 1986, S.81; zit. nach Brundel, 2004, S. 95)

Im Jahr 2002 starben in De utschland 11.163junge Menschen in der Altersgruppe bis 25 Jahre durch Suizid und Selbstschadigung (s. Anhang D) (vgl. Statistisches Bundesam t, 2002 in Schnell, 2005, S. 458). Statistiken weisen aber eine hohe Dunkelziffer auf, weil viele Suizide als Unfall inszeniert werden und di e Suizidversuche nicht in die Statistik m it einfliefien, da nur ein Teil de r Suizidversuche in Krankenh ausern behandelt und erfasst wird. Untersuchungen zur Erfassung von Suizidve rsuchen kommen zu dem Ergebnis, dass die Anzahl der Suizidversuche uber alle Alters klassen hinweg zehnmal haufiger ist als die Anzahl derSuizide.NachAuswertungen von SCHMIDTKE(1998)liegtfurm annliche Jugendliche bis 20 Jahren das Verhaltnis Suizid vs. Suizidversuch bei durchschnittlich 1:12 und furweibliche Jugendlichebei 1:39 (vgl. Schmidtke u. Hafner, 1986; Schm idtke u. Weinacker, 1994; Schmidtke et al. 1998 in Schnell; 2005, S. 457; Zumpe, 1959; Healing von Lanzenauer, 1971;in Brundel, 1993, S. 27) . Abdem fruhen Jugendalter uberwiegen die Madchen hinsichtlich eines Suizidversuc hs gegenuber den Jungen in einem Verhaltnis von 3:1 bis 9:1 (vgl. Nevermann & Reicher, 2001, S.79).

Nach DORING und WITTE (2000) lasst sich uber die letzten dreifiig Jahre fur die Bundes- republik ein leichter Ruckgang von Selbsttotungenjunger Menschen (Altersgruppen 10 bis 25 Jahre) feststellen (vgl. Doring & Witte, 2000 in Schnell, 2005, S. 458). Es ist aber laut SCHMIDTKE (1998) anzunehmen, dass „(...) sich unter den Drogentoten ein nicht uner- heblicher Anteil von Suiziden versteckt und dies aufgrund der Alters- und Geschlechtsver- teilung der Drogentoten insbesondere die jungen Manner betrifft“ (vgl. Schmidtke, 1998, S. 44 zit. nach Schnell, 2005, S. 458). Die sogenannten. „harten“ Methoden, wie Erdros- seln, Erschiefien gefolgt vom Sprung aus der H ohe und Bahnsuizide, stehen zahlenm afiig an der Spitze, wenn es um den vollendeten Suizid geht. Bei den Suizidversuchen dominie- ren hingegen uberwiegend die „weichen“ Methoden, wie die Vergiftung m it Medikamen- ten und illegalen Drogen (vgl. Schmidtke et al. 1998 in Schnell, 2005, S. 458-459, Pajonk, et al., 2002; Schmidtke et al., 1996 in Wunderlich, 2004, S.12).

Wie schon im ersten K apitel erwahnt, bewal tigen nicht alle Jugendlichen die Entwick- lungsaufgaben aktiv und erfolgreich. Der Suizid ist dann die extremste Form der Problem- bewaltigung, die in Erwagung gezogen wird, wenn andere Losungsmechanism en nicht wahrgenommen werden oder in den Augen des Jugendlichen keinen Erfolg versprechen.

In diesem Kapitel meiner Arbeit ist es von zentralem Interesse, wie sich suizidales Verhal­ten im Jugendalter entwickelt. Es w ird vorerst der Begriff „Suizidalitat“ geklart und die Begriffe „Suizididee“, „Suizidversuch“ und „Suizid“ werdenvoneinanderabgegrenzt, bevor ich zwei Suizidmodelle und ausgewahlte Theorien vorstelle, welche suizidales Ver- halten erklaren wollen.

3.1 Begriffsbestimmung Suizidalitat

Es erweist sich als schwierig, Suizidalitat zu definieren, „(...) weil es Grenzuberschreitun- gen zu nicht-suizidalen Risikoverhaltensweisen und nicht suizidalem autodestruktiven Ver- halten gibt (...)“ (s. Kap. I), dass gerade im Jugendalter haufig anzutreffen ist (vgl. Faust und Wolfersdorf, 1984; FelberundReim er, 1991; zit. nachBrundel, 2004, S. 35). Be im autodestruktiven Verhaltenschneiden,verbre nnen, schlagenoderverstumm eln sichJu- gendliche selbst, wobei der Suizid als bewu sstes Anstreben des Todes nicht in Betracht gezogenwird (vgl. Volkamer, 2000, S. 41).

Nach KIND (1992)wirdzwischenbasalerund aktueller Suizidalitat unterschieden. Die basale Suizidalitat stellt das suizidale Grundr isiko dar, welches in Form von psyc hiatri- schen Grunderkrankungen, familienbedingten Lebenskrisen, zuruckliegenden Suizidversu- chen und in Form von legalem oder illegalem Drogenmissbrauch bestehen kann. Eine ba­sale Suizidalitat kann in eine aktuelle m unden, wenn auslosende Faktoren wie der Verlust einer geliebten Person oder schwere Selb stwertverletzungen durch Krankung oder Blofi- stellung hinzukommen (vgl. Kind, 1992 in Brundel, 2004, S. 36).

In meiner Diplomarbeit werden das autodest ruktive Verhalten sowie das Risikoverhalten nicht behandelt, weil hier der W ille zum Sterben nicht bewusst in die Praxis um gesetzt wird. Inm einer Arbeitgeht esvielmehr um das aktuelle Suizidgeschehen vonJugendli- chen, d.h. um das spontane, im pulsive und aus dem Augenblick heraus geschehene Ereig- nis, wobei der Tod bewusst in Erwagung gezogen wird.

Suizidalitat an sich ist ein Symptom und keine Diagnose, trittjedoch haufig in Verbindung mit psychischen Storungen auf. Todeswunsche und Suizidideen konnen in einer belasten- den Lebenssituation, aber auch bei einem psychisch und korperlich gesunden Menschen auftreten (vgl. Wolfersdorf, 2000 in Wolfersdorf & Franke, 2006, S. 400-419; Althaus & Hegerl, 2004, S. 1124f).

Suizidalitat istderSam melbegriff furalle Formen suizidalenErlebensundVerhaltens, worunter sowohl Suizidideen, Suizidversuche als auch der vollendete Suizid fallen. Fur die Begriffe „Suizidversuch “ und „Suizid“ gibt es keine einheitliche Definition. In der Litera- tur wird diskutiert, ob ein qualitativer Unters chied oder eher ein quantitativer Unterschied zwischen beiden Begriffen be steht, da betrachtliche Uber schneidungen existieren und die Grenzen zwischen Suizidversuchund Suizid fliefiend sind (vgl. W underlich, 2004, S. 9; Nissen, 1971, 1975;NissenundTrott, 1989;Wellhofer, 1981;Ringel, 1989; Orbach, 1990 in Brundel, 2004, S. 45).

3.1.1 Die Suizididee

Die Suizididee ist das Nachdenken uber den eigenen Tod. Der Begriff umfasst sowohl den Wunsch zu sterben, als auch konkrete Suizid plane bzw. die Vorstellung von der Suizid- handlung (vgl. Wunderlich, 2004, S. 9).

3.1.2 Per Suizidversuch

Bei dem Begriff „Suizidversuch“ gehen dieMeinungen uber eine Pefinitiondieses Be- griffs zum Teil auseinander. „Jeder versuchte Suizid, der nicht todlich endet, ist ein Sui- zidversuch“ (zit. nach Internet 2). STENGEL (1969) nimmt an, dass „(...) der Suizidver­such vor allem einen Appell an die Umwelt und somit eher eine Zuwendung zur Gemein- schaft darstellt“. Er pragte deshalb den Begriff „Parasuizid“ fur Suizidhandlungen, die nicht mit dem Tod enden. Er glaubt, im Vordergrund steht dabei nicht der Wunsch zu ster- ben, sondern das Bestreben, Hilfe zu erhalten (vgl. Stengel, 1969, S. 109ff; zit. nach Brun- del, 1993, S. 41). Nach MALCHAU ( 1987) ist der todliche Ausgang „(...) in der Regel eine zwar mitgedachte, aber nicht immer gewunschte (...) “ Handlungsfolge (vgl. Malchau, 1987, S.11 zit. nach Brundel, 2004, S. 45). TO LLE (1988) sieht den Suizidversuch hinge- gen als allerletztes Mittel an, um eine Anderung der eigenen Situation zu erreichen. Ande- rerseits kann der Wunsch zum Sterben auch deshalb bestehen, um aus einer als aus weglos empfundenen Situation zu entfliehen (vgl. To lle, 1988 in Rausch, 1991, S. 30 in Brundel, 1993, S. 42).

3.1.3 Per Suizid

Per wissenschaftliche Begriff „Suizid“ (lat. sui caedere (sich toten) und suicidium (Selbst- totung)) enthaltkeineWertung,ab er eswerdenoftBegriffe wieSelbstm ord, Freitod, Selbstvernichtung oder Selbstzerstorung gebraucht (vgl. Pohlmeier, 1995, S. 42; Brundel, 2004, S. 37f). Per Suizid ist nach STENGEL (1969) eine entschlossene Abkehr vom Le- ben und der feste Entschluss, aus der Gem einschaft auszuscheiden (vgl. Stengel, 1969, S. 109ffin Brundel, 1993, S. 42).

Allgemein kanngesagt werden, „(...) der Suizid ist die Beendigung des eigenen Lebens durch eine eigene Handlung oder durch das Unterlassen einer Handlung (z.B. Nichtein- nahme lebenswichtiger Medikamente bzw. Nahrungsmittel und/oder Flussigkeiten), bei der sich die selbst totende Person der todlichen Konsequenzen bewusst ist‘ (zit. nach Internet 3). Per Ausgang einer suizidalen Handlung is t haufig vom Zufall abhangig, d.h. ein nicht ernst gemeinter Suizid kann t odlich ausgehen oder ein ernst gemeinter Selbsttotungsver- such uberlebt werden (vgl. Brundel, 1993, S. 43) . Suizidales Verhalten kann als ein Konti- nuum beschrieben werden, das von dem Wunsch nach Ruhe, einer Unterbrechung des Le­bens uber T odeswunsche, Suizidideen und Su izidplane bis hin zu m vollendeten Suizid reicht (vgl. Holtkamp & Herpertz-Pahlmann, 2001, S. 718).

3.2 Suizidmodelle

Suizidales Verhalten entsteht immer im Kontext von biologischen, psychischen und sozio- logischen Ausgangsbedingungen, „(...) die bei den betreffenden Jugendlichen zu einer bestimmten lebensgeschichtlichen Entwicklung fuhren“ (vgl. Wolfersdorf, 2004, S. 1027; zit. nach Brundel, 2004, S. 95). Laut KAS LER-HEIPE (2003) wird der entscheidende Grundstein zu suizidalem Verha lten schon in der Kindheit gelegt. „ Oft stehen lang an- dauernde Probleme im Hintergrund, die von fruhester Kindheit an bestehen und bis ins Jugendalterfortwirken“ (zit. nach Kasler-Heide, 2003, S. 373). Es gibt bis heute keinum - fassendes Modell zur Entstehung von suizidalem Verhalten bei Jugendlichen, dafur aber zwei Modelle, die zur Erklarung von Suizidalitat herangezogen werden konnen.

Es wird laut W OLFERSDORF (2004) zwischen dem Krisen- und dem Krankheitsmodell unterschieden, welcheim Folgenden vorgestelltwerden(v gl. Wolfersdorf, 2004, S. 1027 in Brundel, 2004, S. 95).

3.2.1 Das Krisenmodell

Krisen gehorenzum Leben undzeigen,dassMe nschen inNotlagensind.Andererseits konnen Krisen auch Wendepunkte zu intensiver Wandlung und innerem Wachstum sein, d. h. sie konnen auch als Chancen angesehen we rden (vgl. Sonneck, 2000, S. 439). Krisen verlangen einen verstarkten Einsatz von Energi en und neuen Perspektiven, gewahren aber auch neue Erfahrungen und bieten so eine Vo raussetzung fur das Erarbeiten neuer Verhal- tensmoglichkeiten (vgl. Caplan, 1964 in Filipp, 1995, S. 133).

Dieses Krisenmodell wird als psychodynamische Zuspitzung einer durch eine Krise ausge- losten belastenden Situation angesehen (s. Anhang E) (vgl. Wolfersdorf, 2004 in Brundel, 2004, S. 95 ). NachSONNECKun d ETZERSDORFER (1991) liegteinepsychosoziale Krise dann vor, wenn das psychische Glei chgewicht erheblich gestort ist, d.h. „ (...) wenn der Jugendliche mit Ereignissen und Lebensumstanden konfrontiert wird, die er im Augen- blick nicht bewaltigen kann, wenn er sich uberfordert und allein gelassen fuhlt und keine adaquaten Losungsmoglichkeiten sieht (vgl. Sonneck &Etzersdorfer,1991;zit.nach Brundel, 2004, S. 95). Der Jugendliche erlebt sich als machtlos und gefangen und sieht das Problem als schwerwiegend, bedrohlich undunlosbar. Einst erfolgreiche Losungsversuche erweisen sich nun als untauglich und fuhren zu keiner Veranderung der Situation (vgl. Althaus & Hegerl, 2004, S. 1123).

Nach ULRICH et al. (1985) nimmt eine Krise ihren Ausgangspunkt an situativen Ereignis­sen, ergreift die ganze Person und beeinflusst im starken Mafie ihre emotionale Befindlich- keit. Der Betroffene erlebt einen unertra glichen Spannungszustand, der von Angst, Panik, Wut, Entfremdungsgefuhlen und starker Hilflosigkeit gepragt sein kann, begleitet von kor- perlicher Unruhe, Niedergeschlagenheit und Schlafstorungen. Die Grundstimmung schwankt zwischenHoffnungundVerzweiflu ng (vgl. Ulrich, 1985 inBrundel, 1993, S. 77; vgl. Wolfersdorf, 2004, S. 1028 in Brundel, 2004, S. 96; vgl. Althaus & Hegerl, 2004, S. 1123). Die radikalste und endgultigste Losung fur die ansonsten nicht zu bewaltigende Situation scheint dann der eigene Tod zu sein (vgl. Althaus & Hegerl, 2004, S. 1123).

Als relationaleReizegeltenz.B.kritische Lebensereignisse undMikr ostressoren (daily hassles). BeidenkritischenLebensereigni ssen handeltessich nach FILIPP(1981)und FILIPP und AYMANNS (1987) meist um Ereignisse wie Tod, Trennung, Umzug, erlittene Gewalt, Missbrauch etc. (vgl. Fillip, 1981; Filipp & Aymanns, 1987 in Brundel, 2004, S. 121 u. S. 98). Laut ROSCH INGLEHART (1988) konnen aber auch po sitive und neutrale Ereignisse, wie die Geburt eines Geschwisterkindes oder Ferien, als kritische Lebensereig­nisse bezeichnetwerden (vgl. Rosch Inglehart, 1988, S. 14).

Dagegen sindmit „ daily hassles “ kleine,immerwiederkehre nde alltagliche Argemisse gemeint, wie beispielsw eise kleine Ni ederlagen und Krankungen, Enttauschungen, Mei- nungsverschiedenheiten, Streitigkeiten etc. (vgl. Miller et al. 1985 in Brundel, 2004, S. 122). EntsprechendROWLISONundFELNER( 1988) stellenkritischeLebensereignisse und „ daily hassles “ zwar unterschiedlicheBelastungsfaktoren dar,welchejedochnicht unabhangig voneinander wirken. In Zeiten al lgemeiner erhohter Anspannung oder be im Auftreten kritischer Lebensereignisse kann fastjedes beliebige Ereignis zu einem „hassle“ werden und das psychophysische Wohlbefinden stark herabsetzen (vgl. Rowlison & Fel- ner, 1988, S. 441 inBrundel, 2004, S. 122).

Es wirdweiterzwischentraum atischen Krisen undVeranderungskrisenunterschieden. Traumatische Krisen bestehen in plotzlichen Verlusterl ebnissen wie Tod, Krankheit oder Trennung der Eltern. Veranderungskrisen treten im Kontext m it lebensbedeutsamen Ver- anderungen auf, wie Pubertat, Verlassen des Elternhauses, Lehre oder Studium und Schul- wechsel (vgl. Goll & Sonneck, 1991 in Brundel, 2004, S. 95).

Wie Krisen von Jugendlichen bewaltigt werden , dies ist abhangig von ihren psychischen, biologischen und sozialen Ausgangsbedingungen und damit auch von ihrer biographischen Entwicklung. Jugendliche sind dann gefahrdet, „ (...) wenn sie einen destruktiven Konflikt- bewaltigungsstil aufweisen, verbunden mit einem depressiven Attributionsstil und einer Neigung zur Selbstentwertung“ (zit. nach Brundel, 2004, S. 95). Nach ISHERWOOD et al. (1982, S. 371) stellenKrisen haufig die auslosenden Ereignisse fur Suizid und Suizidver- suche dar (vgl. Isherwood et al., 1982, S. 371 in Brundel, 1993, S. 77). BRUNDEL (2004) unterscheidet zwischen einer stresstheoretischen und einer psychodynamischen Sichtweise, die im Folgenden beide genauer beschrieben werden.

a) stresstheoretische Aspekte

In der life-event-Forschung, auf der das Kris enmodell basiert, werden bei Jugendlichen insbesondere die lebensverandernden Ereignisse untersucht, die Suizidalitat nach sich zie­hen konnen,wie „broken-home“ (gestortes familiares Milieu), Verlust einer wichtigen Bezugsperson, Schulprobleme etc.Essollve rsucht werden,suizidalesVerhaltendurch eine Aufsummierung von Lebensereignissen vorherzusagen (vgl. Poldinger, 1968 in Brun­del, 2004, S. 97; vgl. F ilipp & Aymanns, 1987; Compas, 1987a, b; Compas et al. 1988 in Brundel, 2004, S. 97).

Die generelle Hypothese nach LAZARUS (1966, 1981, 1982) und LAZARUS et al. (1974, 1978, 1981, 1984, 1985)besagt, ,,(...) dass eine Person einerseits umso eher zu inadaqua- ten Bewaltigungsstrategien greift und damit u. U. suizidales Verhalten zeigt, je hoher die Anzahl stresshafter biographischer Ereignisse ist, aber andererseits die subjektive Ein- schatzung der belastenden Situation auch von grofier Bedeutung ist, dass also nicht unbe- dingt jedes biographische stressreiche Ereignis jene Folgen haben muss“ (vgl. L azarus, 1966, 1981, 1982 & Lazarus et al. 1974, 1978, 1981, 1984, 1985; zit. nach Brundel, 2004, S. 97).

Die Feststellungen von LAZARU S (o. g.) und LAZARUS et al . (o. g.) bezuglich eines sogenannten „transaktionalen Prozesses“ zwischen der Person und der Bedrohungssituati- on sind richtungweisend fur weitere Forschungen geworden, denn sie heben die Bedeutung der subjektivenWahmehmung und Beurteilung der Betroffenen und der sich daraus erge- benden Bewaltigungsstrategie hervor. Die Re sultate der F orschungsgruppe um Lazarus verdeutlichen, dass es nicht ausreicht, Bedr ohungs-, Deprivations- oder Verlusterlebnisse zu untersuchen, sondern es vielm ehr notwendig ist, die Einsch atzungs- und Bewertungs- prozesse der Person und die inte rvenierenden Faktoren zu berucksichtigen, die in der Per­son selbst oder in ihren vorhandenen sozialen Ressourcen liegen (vgl. Lazarus, 1966, 1981, 1982 & Lazarus et al.19 74, 1978, 1981, 1984, 1985; Brundel, 1993 in Brundel, 2004, S. 97; vgl. Rosch Inglehart, 1988, S. 30).

HOUSTEN (1987)setztpsyc hologischen Stressmit „negativen Gefuhlen“ einerPerson gleich. Eine Situation w ird dann als stresse nd erlebt, wenn sie nega tive Gefuhle auslost. Damit deutet er an, „(...) dass nur die Person selbst entscheiden kann, ob etwas fur sie belastend oder stressend ist“ (vgl. Housten, 1987, S. 376; zit. nachBrundel, 1993, S. 73) Laut HOUSTEN (1987) muss die Belastung nicht unbedingt objektiv gegeben sein, kann jedoch als solche em pfunden werden und sich daher als B elastung aufiern. Es sei sogar moglich, dass die Belastungen von anderen gar nicht bemerkt werden und trotz allem un- verhofft und unbem erkt bei Jugendlichen suiz idale Handlungen auslosen (vgl. Housten, 1987 in Brundel, 2004, S. 99).

Auch WOLFERSDORF (1998) ist der Mei nung, dass die Bedeutung von belastenden Ereignissen und Situationen durch die subjektive W ahrnehmung und Bewertung von Ju­gendlichen eine grofie Rolle spielt. „Die betroffenen Jugendlichen gelten meist lange Zeit als gesund, zeigen keine psychiatrischen Auffalligkeiten, leiden jedoch unter Gedanken der eigenen Wertlosigkeit und unter Gefuhlen, nicht geliebt zu werden, unter Veranderungen ihres Aktivitatsniveaus, unter negativen Gedanken sowie unter psychosomatischen Be- schwerden und allgemeiner Lustlosigkeit und Mudigkeit“ (vgl. Wolfersdorf, 1998 zit. nach Brundel, 2004, S. 99).

Belastende Ereignisse werden von Jugendlichen somit ganz unterschiedlich bewaltigt. Die meisten Jugendlichen bewaltigen Probleme undbelastende Lebensereignisse ohne beson- dere Schwierigkeitenodernehm en kurzfristigexterneHilf e, z.B.vonFreunden,Eltern oder Bekannten, in Anspruch. Andere wiederum konnen,je nach psychischer Stabilitat und sozialen Ressourcen, durch belastende Ereigni sse in e ine suizidale Krise ge raten (vgl. Brundel, 2004,S.97f).HURRE LMANN (1988, 1990,1999)undMANSE L und HURRELMANN (1991) sehen eine Vielfalt moglicher Belastungen in der Familie, die u.a. durch den Ablosungsprozess der Jugendliche n von den Eltern bedingt sein konnen und daher ein „(...) hohes Verunsicherungs- und Risikopotential (...) “ mit sich bringen - dies eben durch kumulative Haufung von Faktoren wie emotionale Spannungen, soziale Konf- likte und unzureichende Integration in die Glei chaltrigengruppe, Isolation, Aufienseitertum und ungunstigesowieabgebrocheneBildungs karrieren (vgl.Hurrelm ann, 1988,1990, 1999; Mansel & Hurrelmann, 1991, S. 146 zit. nach Brundel, 2004, S. 98).

b) psychodynamische Aspekte

Die psychodynamische Sichtweise weist darauf hin, dass es nicht allein der auslosende Faktor ist, der zu einer Kr ise fuhrt, sondern die psychol ogische und psychopathologische Wechselbeziehung mit den Personlichkeitsmerkmalen der betreffenden Jugendlichen muss in den Fokus der Betrachtung geruckt werde n. FREUD (1914) fuhrte den Narzissm usbeg- riff in die psychoanalytische Theorie ein und HENSELER (1984) pragte den Begriff der „narzisstischen Krise“, „(...) in die ein Mensch durch Handlungen oder Worte anderer oder auch durch Ereignisse gesturzt werden kann“ (vgl. Freud, 1914; Henseler, 1984 zit. nach Brundel, 2004, S. 99). Unter „Narzissmus“ wird die affektive Einstellung des Men- schen zu sich selbst gesehen. Eine narzisstische Storung kann sich entweder in einem uber- triebenen Selbstwertgefuhl oder in starken Minderwertigkeitsgefuhlen aufiern.

HENSELER (1984)siehtsu izidales Verhaltenals „(...) Labilisierung des narzisstischen Regulationssystems und die Suizidhandlung als krisenhaften Versuch, das gefahrdete Selbstwertgefuhl zu retten“ (vgl. Henseler, 1984, S. 11; zit. nachBrundel, 2004, S. 99). Eine narzisstische Krise geht m it massiven Krankungen und einem bedrohten Selbstwert­gefuhl einher. Da ein narzis stisch gekrankter Mensch ube r keine adaquaten Kompensati- ons- undAbwehrmechanismen verfugtund eine Realitatsprufung nicht gelingt, „(...) ver- leugnet er eigene Mangel, reagiert mit Idealisierungsversuchen der eigenen Person und wehrt auf diese Weise Hilflosigkeits- und Ohnmachtsgefuhle ab “ (vgl. Henseler, et al., 1983, S. 34; zit. nach Brundel, 2004, S. 99).

Ist das Selbstwertgefuhl nicht m ehr durch die eben genannten Mechanismen zu schutzen, kann eine Suizidhandlung erfolgen, welche fur den Betroffenen so etwas wie eine „Ehren- rettung“ darstellt. Gerade bei Jugendlichen zeigt sich haufig ein labiles Selbstwertgefuhl. Wird dieses durch belastende Ereignisse noch weiter gefahr det, dann kann eine S uizid- handlung einen Abwehrversuch darstellen, um dem vollstandigen Identitatsverlust zu ent- gehen (vgl. Dromann, 1983 inBrundel, 2004, S. 100). AuchHURREL MANN (1989) hat darauf hingewiesen, dass die Jugendlichen ihre Konflikte fur sichjeweils so losen sollten, dass ihre eigene Belastung moglichst gering bleibt, um eine Schadigung des Selbstw ertge- fuhls zuvermeiden (s. Kap. I) (vgl. Hurrelmann, 1989, S. 51 in Brundel, 1993, S. 13). Die Verunsicherung der eigenen Person in der Adoleszenz ist grofi und entsprechend grofi ist auch die narzisstische Krankbarkeit, denn die Aufmerksamkeit ist im Jugendalter in hohem Mafie auf die eigene Person gerichtet. Das Se lbstwertgefuhl wechselt von Grofienfantasien zu Minderwertigkeitsgefuhlen und Angst. Konflikte mit den Eltern oder mit Gleichaltrigen sowie die Trennung einer Liebesbeziehung konnen grundsatzlich so krankend wirken, dass sich die Person als unw ert, zerstort und unwichtig empfindet (vgl. Schnell, 2005, S. 100f; vgl. Brundel, 2004, S. 100).

Wie eine Krise verlauft und ob sie sich zu einer suizidalen Krise zuspitzt, ist abhangig von den Personlichkeitsmerkmalen des Jugendlichen, seiner familiaren Situation und seinem sozialen Umfeld (vgl. Sonneck, 2000, S. 439). Die eben genannten Problem e, wie Tren­nung, Konflikte, Angst und Minderwertigkeitsgefuhl e, sind die haufigsten Krisen, die Ju- gendliche bewaltigen mussen. Sie stellen som it auch die haufigsten Anlasse von Suizid- handlungen dar, insbesondere bei mangelnde n Ressourcen bzw. wenn keine oder nur we - nig soziale Unterstutzung vorhanden ist.

3.2.2 Das Krankheitsmodell

Bei der Entstehung von Suizidalitat spielen au ch Krankheiten und psychiatrische Auffal - ligkeiten sowie Depressionen eine grofie Rolle . Sind fur die Jugendlichen die aufieren und inneren Bedingungen und Anforderungen des Lebe ns zu instabil oder auch zu unflexibel und festgefahren, so kann sich die E ntwicklungskrise zu einer Krise ausweiten, welche die psychische undphysische Gesundheitbedroht (s. Anhang. F) (vgl. Erikson, 1980; Wunder­lich, 2004 in Schnell, 2005, S. 461; Brundel, 2004, S. 100).

BRONISCH, FELBER und WOLFERSDORF (2001) beschaftigten sich mit der Frage, ob Suizidalitat eineeigeneKrankheitsf orm darstellt. Siehabenalle neubiologischenErkenn- tnisse zusammengetragen, die auf dem Gebiet der Neurophysiologie, der Molekulargenetik und der Biochemie gewonnen worden sind. S ie fuhrten Einzeluntersuchungen des B lutes, des Lipidstoffwechsels usw. durch und dennoc h mussten sie die Frage letztlich unbeant- wortet lassen, „(...) da neurobiologische Erkenntnisse allein Suizidalitat nicht erklaren konnen (...)“ und die psychosoziale S ituation des einzelnen Menschen immer mit beruck- sichtigt werden muss (vgl. Bronisch, Felber & Wolfersdorf, 2001; zit. nach Brundel, 2004, S. 101).

RINGEL (1953, 1969, 1986) und T HOMAS (1964, 1970) sehen den Suizid als „(...) Ab- schluss einer langen krankhaften Entwicklung (...) “, welche fast i mmer in der Kindheit beginnt (vgl. Ringel, 1953, 1969, 1986 & Thomas, 1964, 1970; zit. nach Brundel, 2004, S. 101). MiteinerkrankhaftenEn twicklung istdasVorliegen einer psychischenoderpsy- chiatrischen Krankheitgemeint, wie Schizophrenie, drogeninduzierte Psychosen, schwere Personlichkeitsstorungen (Borderline-Storung), Angststorungen und Depressionen. Sie zeigen sich durch psychopathologische Sym ptome wie tiefe Traurigkeit, Niederges chla- genheit, Hoffnungslosigkeit, W ahnvorstellungen, Angst usw. W ie beim Krisenmodell ge- lten ebenso beim Krankheitsmodell psychische, soziologische und bi ologische Ausgangs- bedingungen (vgl. Brundel, 2004, S. 100). W underlich (2004) stellte in ihrer Studie fest, dass 90 % aller untersuchten Suizidenten mindestens eine psychiatrische Diagnose aufwie- sen, wobei die Mehrheit m it 78,7% unter komo rbiden bis multimorbiden Storungen litt (vgl. Wunderlich, 2004, S. 102).

Suizidalitat von Jugendlichen wird haufig in den Zusa mmenhang von Depressionen ge- stellt. Sie stehen injungeren Forschungsarbeiten immer noch im Mittelpunkt des Interesses und sind ein Teil des Krankheitsmodells. Es ist aber zu bemerken, dass nicht injedem Fall suizidales Verhalten durch eine Depression ausgelostwird, „(...) aber das Vorliegen einer depressiven Storung, bedeutet [fur betroffene Jugendliche, S. B.] eine besonders hohe Ge- fahrdung, suizidal zu werden “ (zit. nachNevermann & Reicher, 2001, S. 76). Ausgehend von MCLEAN (1990) weisen viele Jugendliche depressive Storungen auf, dennoch konnen nur wenige von ihnen als suiz idgefahrdet bezeichnet werd en. Die Beziehung zwischen Depressivitat und Suizidalitat ist vom Diagnosekriterium der Depression abhangig. Es muss zwischen der Verwendung des Begriffs „Depression“ im Sinne eines Sym ptoms, quasi alsgegenwartigerStimm ungszustand[1] undder „ Depression als klinisch definierte Storung“, die eine bestimm te Anzahl von Einzel symptomen beinhaltet, unterschieden werden (vgl. McLean, 1990, S. 45 in Brundel, 2004, S. 1004; Essau, 2002, S. 17).

Insgesamt kannmit STEINHAUSEN (2002)gesagtwerden,dassSym ptome, dieim Ju- gendalter auf Suizidalitat hinweisen, fast immer mit depressiven Stimmungen einhergehen, wie Freudlosigkeit, tiefe Traurigkeit, Selb stentwertung, Schlaflosigkeit und Konzentrati- onsstorungen. Dies sind Befindlichkeiten, die nicht absolut pathologisch sein mussen, son- dern Varianten, die im Jugendalter normales Verhalten darstellen konnen und deshalb die Diagnostik erschweren (vgl. Steinhausen, 2002 inBrundel, 2004, S. 104). W ie auchim Krisenmodell bedarf es im Krankheitsmodell fast immer eines Auslosers, um die suizidale Handlung in Bewegung zu setzen. Auch hier spielen belastende Lebensereignisse und daily hassles eine wesentliche Rolle (vgl. Brundel, 2004, S. 105).

3.3 Ausgewahlte Theorien zur Erklarung von Suizidalitat im Jugendalter

Es gibt eine Vielzahl von Theorien, die suiz idales Verhalten aus verschiedenen Perspekti- ven beschreiben und zu erklaren versuchen. Es werden vor allem zwei unterschiedliche Ansatze in der Ursachenforschung bet ont. Nach ABRAM, BERKMEI ER und KLUGE (1980) habensicheinerseits die soziologischorientierte, deduktiveVorgehensweiseund andererseits diepsychoanalyti sch orientierte, induktive VorgehensweiseausderMasse hervorgehoben (vgl. Abram, Berkmeier & Kluge, 1980 in Brundel, 1993, S. 44). In der alteren und neueren Literatur zum Suizidverhalten zeigt sich die Suizidthematik als komp- lexes Geschehen psychologischer und soziologischer Faktoren, d.h. sie wird als multifakto- rielles Geschehen angesehen. Die einzelnen Fa ktoren sind vielleicht in ihrer Gewichtung unterschiedlich, konnenjedochals „untereinander abhangig“ angesehenwerden(vgl. Brundel, 1993, S. 44; Brundel, 2004, S. 106).

Im Folgendenmochte ich einige Grundzuge de r wichtigstentheoretischen Erklarungsan- satze beschreiben, aus denen sich das Suiz idverhalten Jugendlicher zusammensetzt. Die unterschiedlichen Theorien werden aus syst ematischen Grunden nicht in ihrer ganzen Komplexitat und Ausfuhrlichkeit, sondern nur selektiv angesprochen.

3.3.1 Die soziologische Theorie nach E. Durkheim

Im Wesentlichen macht die soziologische Forschung gesellschaftliche, d.h. uberindividuel- le, Faktoren fur den Suizid verantw ortlich und untersucht Beziehunge n zwischen Suizid- handlungen und aufieren Bedingungen wi e Alter, Geschlecht, Beruf, soziale Situation und Lebensumstande. Dabei steht im Mittelpunkt der soziologischen Interessen „(...) eher die Gesamtheit aller Suizide der Gesellschaft, als die Suizidhandlungen einzelner Individuen“ (vgl. Durkheim, 1897, 1987; zit. nach Brundel, 1993, S. 44; Brundel, 2004, S. 106).

Die erste grofie und bedeutende Monogra phie hat EMIL DURKHEI M (1897/1987) zum Thema „Selbstmord“ verfasst. Laut DURKHEIM (1897/1987) ist das Suizidverhaltenvor allem Folge einer gestorten Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft. Er interpre- tiert das Suizidgeschehen im Rahmen seiner Integrations- und Anomietheorie, die besagt, „(...) dass der Grad der Integration eines Individuums in die Gesellschaft und die Akzep- tanz ihrer Normen und Regeln als ein Mafi fur das Suizidrisiko anzusehen ist“ (vgl. Durk- heim, 1897, 1987; zit. nach Brundel, 1993, S. 45; Brundel, 2004, S. 106). DURKHEIM (1897/1987) unterscheidet drei Gruppen von Selb stmorden, die er durch unterschiedliche soziale Ursachen begrundet und unter den Ge sichtspunkten der sozial en Integration und der sozialen Regulation betrachtet.

Der „anomische Suizid“ ist Ausdruck dafur, dass das Individuum an der Regel- und Gren- zenlosigkeit seines Handelns leidet und ihm die Gesellschaft keine regulative Kraft entge- gensetzt, wiez.B. inZeitenwir tschaftlicher oder politischer Veranderungen (vgl. Durk- heim, 1897, 1987 inBrundel, 1993, S. 45; Br undel, 2004, S. 107; W underlich, 2004, S. 14). Dies konnte auf diejenigen Jugendliche n zutreffen, welche ziellos sind und dennoch erhebliche, unerfullte Bedurfnisse h aben. Familie und Schule als Sozialisations instanzen geben ihnen keine Unterstutzung und keine Sich erheit. Die Gesellscha ft erscheint ihnen unwirklich und nicht fassbar. Es konnte sich um die Jugendlichen handeln, die f ur sich keine Perspektive undkeine Zuku nftsaussichten sehen, Jugendliche mitmultiplen Versa- gens- und Frustrationserlebnissen aus broken-home-Familien sowie Jugendliche ohne Bil- dungsabschluss und ohne Ausbildungsstelle (vgl. Brundel, 2004, S. 107).

Laut der SHELL JUGENDSTUDIE (2006) sind von 2.500 befragten Jugendlichen im Al­ter von 12 bis 25 Jahren 69 % deutlich starker besorgt als im Jahr 2002 (55%), ihren Ar- beitsplatz zu verlieren bzw. keine Beschaf tigung zu finden. Des W eiteren nahm vom Jahr 2002 bis zum Jahr 2006 die Angst vor schlechter wirtschaftlicher Lage und steigender Ar- mut von 62 % auf 66 % um vier Prozent zu. Die Sicht auf die Zukunft wurde im Jahr 2002 von 56 % der Jugendlichen als zuv ersichtlich beurteilt, im Jahr 2006 waren es noch 50 % der Jugendlichen, die zuversichtliche Vorstellungen von der eigenen Zukunft hatten. Damit ging ein Ruckgang des Ve rtrauens inpolitische Parteien einher (vgl. Deutsche Shell Ju- gendstudie, 2006inInternet1).F END (2003)schreibt: „Arbeitslosigkeit zerstort ein Kernelement der Individuation (...) “, es zerstort „(...) die Verselbststandigung des Men- schen auf der Grundlage eines eigenen Einkommens. Dies hat psychologische Folgen, die weit uber das Okonomische hinausreichen“ (zit. nach Fend, 2003, S. 171).

Der „egoistische Suizid“ folgt dann, wenn das Individuum die Gruppenphantasien mit den anderen nicht mehr teilen kann und seine sozi ale Einbindung verliert, d.h. er vereinsam t, entfremdet sichund es erfolgt eine Iso lierung des Individuums (vgl. Durkheim,1897/1987 in Brundel, 1993, S. 45, Brundel, 2004, S. 106; Wunderlich, 2004, S. 14). Es kann sich dabei um Jugendliche handeln, die sich bewusst ausgrenzen, „(...) ihren eigenen Weg ge- hen wollen, Gruppenaktivitaten meiden und lieberfur sich sein wollen (...)“. Es sind damit die Einzelganger,Aufiensei ter undEigenbrodler,diezum „egoistischen Suizid“ neigen (zit. nach Brundel, 2004, S. 106). Laut FEND (2003) orientieren sich die am wenigsten sozial eingebundenen Jugendlichen eher an Erwachsenen und weniger an Gleichaltrigen. Sie haben ein schwaches Selbstbewusstsein und trauen sich wenig zu, was sich au ch auf die weitere schulische und berufliche Laufbahn auswirkt (vgl. Fend, 2003, S. 324).

Im Gegensatz zum egoistischen Selbstmord steht der „altruistische Suizid“. Bei ihm wird das Leben des Einzelnen dem Wohle der Gruppe geopfert. Er „(...) ist Ausdruck einer zu starken Abhangigkeit von der Gesellschaft und einer zu geringen Individuality “ (vgl. Durkheim, 1897/1987, S. 162ff, S. 242ff, zit. nach Brundel, 1993, S.45; Brundel, 2004, S. 107; Pohlmeier, 1995, S. 33; Wunderlich, 2004, S. 14). Einen altruistischen Suizidkonnen Jugendliche veruben, die ihren Sinn des Lebe ns nur im Leben von anderen sehen. Es sind Jugendliche, welche von ihrer Clique abhangi g sind und ohne die Gleichaltrigen nicht le­ben konnen. Sie haben ein instabiles Selbstwertgefuhl und die Neigung, sich Gruppennor- men und Werten zu beugen und Frem deinflussen zu unterliegen (vgl. Brundel, 2004, S. 107). Hierunter zahlen sogenannte „Mitlaufer“, welche sich z.B. haufig in rechtsextrem en Gruppen finden und sich den negativen Einflu ssen einer Gruppe nicht entziehen konnen. Gruppenabhangige Jugendlichestehen oftim Widerspruch zugesellschaftlichen Normen und Werten und werden dadurch mehrfach in kriminelle Handlungen verwickelt. Naturlich kann diese Beobachtung nicht verallgem einert werden, da gruppenabhangige Jugendliche nicht generell als delinquent bezeichnet werden konnen.

Sowohl DURKHEIM( 1897/1987) alsauch HALBWACHS (1930)schreiben,dassder Suizid eines Individuums abhangig von der Fahigkeit der Gese llschaft zur Integration und Regulation ist. Er und HALBWACHS (1930) haben festgestellt, „(...) dass Selbstmordra- ten auch Raten gesellschaftlicher Pathologie sind“ (vgl.Durkheim, 1897, 1987,Halb- wachs, 1930; zit. nachP ohlmeier, 1995, S. 35). Eine zu geringe Integration in die Gruppe wie auch eine zu hohe Identifizierung mit der Gruppe konnen zu einem suizidalen Verhal- ten fuhren

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Suizidtendenzen Jugendlicher von den gesellschaftlichen Veranderungenbzw. Zukunf tsperspektiven undvon der Integrationin die Gruppe bzw. Gesellschaft abhangig sind. Auf die Folgen von gefahrdeter Individuation und sozialer Integration wurde schon i m ersten Kapitel hingewiesen. Durch die Anerken- nung, die Ubereinstimmung von Interessen und No rmen, gemeinsame Ziele, Akzeptanz, Geborgenheit und Sicherheit in den Gleicha ltrigengruppen und der Familie konnen Krisen und Enttauschungen besser uberstanden werd en und somit suizidhemmende Wirkung ha­ben. Die Integrations- und Anomietheorie von DURKHEIM hat auch heute noch Gultig- keit und ist weiterhin Gegenstand der Diskussion und Forschung in der Soziologie.

3.3.2 Die psvchoanalvtische Theorie nach S. Freud

Die psvchoanalvtische Forschung befasst sich mit den psvchischen, d.h. inneren Faktoren des Suizidgeschehens. Sie hat sich im Vergleich zur soziologischen Wissenschaft erst rela- tiv spat mit der Suizidproblematik auseinandergesetzt. Im Mittelpunkt der Forschung ste - hen individuelle Faktoren wie psvchische Entwicklung, Personlichkeit, Konflikte, Krisen und Motive (vgl. Adler, 1910; Freud; 1917 in Brundel, 1993, S. 44; Brundel, 2004, S. 108). Die Suizidtheorie von FREUD (1917/1946) wurde in seiner Arbeit uber „Trauer und Me- lancholie“ entwickelt undmuss im Kontextmitse iner LibidotheorieundNeuroselehre gesehen werden (vgl. Brundel, 1993, S. 44ff; Brundel, 2004, S. 108).

Auf eine umfangreiche Erklar ung seiner Theorie m uss im Rahmen meiner Arbeit aller- dings aus Grander des begrenzten Umfangs verz ichtet werden. Gegenwartig sollen nur die wichtigsten Ansichten zum Verstandnis von Suizidhandlungen erlautert werden. Die klas- sische Psychoanalyse hat den Suizid als Wendung von Aggressionen gegen die eigene Per­son charakterisiert (Pohlmeier, 1995, S.41) . Das ist ein zentraler Gedanke von FREUD und wird seither als integraler Best and einerjeden Suizidhandlung gesehen. „Freud sieht den Suizid nicht nur als letzte Konsequenz einer depressiven Dynamik, sondern als Losung eines Aggressionskonfliktes “ (vgl. Freud, 1917, 1946; zit. nach Brundel, 1993, S. 47, Brundel, 2004, S. 109). Die Aggressionen de r Suizidhandlung durch Enttauschung oder Krankung gelten bei vielen Menschen eigentlich einer anderen Person, die er/sie fruher so geliebt und die ihn/sie nun enttauscht hat. Dabei handelt es sich oft um die Mutter oder den Vater (Libidoobjekt). Wenn sich die Aggression nicht gegen das Objekt richten darf (zu hohes Uber-Ich = schlechtes Gewissen und Schulgefuhle) und es auch nicht getotet werden kann, weil der Jugendliche sich m it dem Objekt identifiziert (Introjektion), wird die Agg­ression gegen das eigene Ich ge richtet. Er totet das Libidoobjekt sozusagen fiktiv in sich selbst gleich mit. Damitwird dererlitteneOb jektverlust ineinenIchv erlust verwandelt (vgl. Freud, 1917, 1946 in Pohlmeier, 1995, S. 42; Wunderlich, 2004, S. 22; Brundel, 2004, S.108f).

In der Literatur wird haufig vom „aggressiven Suizid“ gesprochen. Vielfach lassen Suizid­handlungen deutlich sichtbare Aggressionen er kennen, z.B. wenn m an an die harten Me- thoden wie Erschiefien, Erhangen oder den Sturz aus dem Fenster denkt. Dass mit der Agg­ression auch andere Menschen gemeint sein konnen, zeigen die Doppelselbstmorde und die „erweiterten Suizide“, bei denen vorher andere Menschen mitgetotet werden (vgl. Freud, 1917, 1946 in Pohlmeier, 1995, S. 42). Ein Beispiel dafur ist der „Amoklauf von Erfurt“, der sicham 26.04.2002 ereignete. Der 19-jahrige Ex-Schuler Robert Steinhauser sturmt mit einer Pistole bewaffnet in das Erfurt er Gutenberg-Gymnasium. Er erschoss 16 Men­schen und danach sich selbst (vgl. nach Internet 4).

Nach FREUD (1917/1946) entsteht die Aggressi on aus enttauschterL iebe heraus, welche schon in den ersten Lebensjahren aus unter schiedlichen Grunden, oft aus m angelnder Zu- wendung der Bezugsperson, erfahren wird (vgl. Freud, 1917, 1946 in Pohlm eier, 1995, S. 43). ADLER (1910) unterstreicht ausdrucklich: „Niemand totet sich selbst, der nicht einen anderen toten wollte oder zumindest einem anderen den Todgewunscht hatte“ (vgl. Adler, 1910, S. 33; zit. nach Brundel, 1993, S. 47; Brundel, 2004, S. 109).

Das Hauptmerkmal der Suizidtheorie von FRE UD liegt auf der nach innen gerichteten Aggression. Des Weitern sieht FREUD eine n Zusammenhang zwischen dem Suizid und einer depressiven Dynamik. Dazu kannjedoch heute gesagt werden, dass nichtjedem Sui­zid eine Depression vorangeht und nichtjeder Depression ein Su izid folgt. Auch die Be- hauptung, Enttauschungs- undVerlusterlebnisse wahrend dererstenL ebensjahre wurden sich immer negativ auf die spatere Entwicklung auswirken, ist heute sehr um stritten, denn man schreibt Sauglingen gegenwartig m ehr Kompetenzen in der Entwicklung zum Klein- kind zu als es zu Lebzeiten FREUDs der Fa ll war. Dass der Suizid aggressiv e Anteile enthalt, kann in verschiedenen Zusammenhangen beobachtet werden, insbesondere dann, wenn andere mit getotet werden.

3.3.3 Die psvchodvnamische Theorie nach E. Ringel

Der Gedanke FREUDs zum Suizidgeschehen als nach innen gerichtete Aggression wurde spater von RINGEL (1989) immer wieder aufg egriffen. RINGEL pragte den Begriff de s „prasuizidalen Syndroms", welcher seitdem fester Bestandteil der Suizidlite ratur wurde (vgl. Brundel, 1993, S. 48; Brundel, 2004, S. 109).

Das „prasuizidale Syndrom" ist nach RINGEL (1953) eine der Suizidhandlung vorausge- hende Befindlichkeit. RINGEL sah den Suizid als „Abschluss einer krankhaften psychi- schen Entwicklung", revidiertejedoch spater (1969) diese Auffassung und erkannte, dass nicht jede S uizidhandlung Ausdruck einer Krankheit ist (vgl. Ri ngel, 1953 in Brundel , 1993, S. 48; Ringel, 1969 in Brundel, 2004, S.113) . Es werden von ihm drei Phasen i m Verlauf einer solchen Entwicklung unterschieden. Die erste Ph ase ist das Stadium der Er- wagung, die zweite Phase ist dasjenige der Ambivalenz und die dritte Phase beschreibt das Stadium des Entschlusses (vgl. Ringel, 1953 in Poldinger, 1968 u. Heue r, 1979; in Brun­del, 1993, S. 48; inBrundel, 2004, S. 110).

RINGEL (1981) stellte in einerUntersuchung er wachsener Patienten drei Svmptome ihrer psvchischen Verfassungfest,dieunterHi nzunahme psvchosomatischer Storungenwie Bauch- und Kopfschmerzen, Schwindelgefuhl, Mudigkeit und Schlaflosigkeit ebenso fur Jugendliche gelten (vgl. Lochel, 1981 in Br undel, 1993, S. 49; Ringel, 1981 in Brundel, 2004, S. 109f). Es sind die Svm ptome der Einengung durch externe soziale Faktoren wie soziale Note oder Arbeitslosigkeit, der Aggression, gehemmt oder gegen sich selbst ge- richtet, und der Suizidphantasien. Diese umfassen Vorstellungen oder Plane mit indirek- ten oder direkten Ankundigungen. Im Folgenden mochte ich die drei Svm ptome genauer beleuchten (vgl. Brundel, 2004, S. 110; Wunderlich, 2004, S. 23).

a) Die Einengung

Sie zeigt sich darin, dass si ch prasuizidale Jugendliche eingeengt, bedroht und von den an sie gestellten Anforderungen er druckt fuhlen. Sie sehen sow ohl ihre Gegenwart als auch ihre Zukunft duster und au ssichtslos. Ihre Kindheit nehm en sie als traurig und leer wahr. Ihre Grundstimmung ist depressiv, grublerisch und selbst-beschuldigend. Sie kommen sich vor, als hatten sie nie gelebt. Sie brechen Fr eundschaften und Freizeitaktivitaten ab, ziehen sich zuruck, verachten und entwerten sich selb st. Einerseits fuhlen sie sich alleingelassen, andererseits suchen sie die Einsamkeit und befinden sich dadurch im Prozess der progres- siven Isolierung.

b) Die Aggression

Das zweite Svmptom ist die ge hemmte und gegen sich selbst gerichtete Aggression, die, wie FREUD in seiner psvchoanalv tischen Suizidtheorie aufgezeigt hat, Bestandteil einer jeden Suizidhandlung ist. Sie ist die Folge der Entwicklung eines ubermachtigen Aggressi- onsobjekts, welches bei Jugendlichen haufig die Eltern, eine andere Autoritatsperson oder ein/e ehemals geliebte/r Freund/indarstellt.

[...]


[1] Jugendliche bemerken manchmal umgangssprachlich „Ich hab mal wieder eine „Depri-Phase“ Sie meinen damit, sie seien lustlos, ihnen geht es nicht so gut, sie fuhlen sich mude und matt etc.

Ende der Leseprobe aus 124 Seiten

Details

Titel
Suizidalität im Jugendalter – Angst ein Risikofaktor?
Hochschule
Ernst-Abbe-Hochschule Jena, ehem. Fachhochschule Jena
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
124
Katalognummer
V212879
ISBN (eBook)
9783656407652
ISBN (Buch)
9783656408376
Dateigröße
841 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
suizidalität, jugendalter, angst, risikofaktor
Arbeit zitieren
Sandy Brunner (Autor:in), 2008, Suizidalität im Jugendalter – Angst ein Risikofaktor?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/212879

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