Josef Winklers 'Natura Morta'. Literarisches Stillleben und Leitmotive der Novelle


Hausarbeit (Hauptseminar), 2009

18 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I Einleitung

II Sprachliche Auffälligkeiten

III Leitthemen
1. Triebhaftigkeit
2. Religion
3. Tod und Verfall

IV Zusammenfassung

V Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Josef Winkler, der 2008 den begehrten Georg Büchner Preis erhielt, wurde geboren am 3. März des Jahres 1953 in Kamering bei Paternion/ Kärnten und wuchs dort auf dem Bauernhof seiner Eltern auf[1]. Seit 1982 lebt er als freier Schriftsteller in Italien und Kärnten. Sein erster Roman erschien 1979 unter dem Titel Menschenkind, mit dem er schreibend – wie er selbst sagt – seine Kindheit „ermorden“ wollte. Jene Kindheit, die sich

„ zwischen zuckenden blutigen Hahnenköpfen abspielte […] “:

[…] „Ich werde das Kind, das ich war, umbringen, damit einmal, wenn auch erst auf dem Totenbett, meine Kinderseele zur Ruhe kommt.“[2]

Anhand dieses Zitats lässt sich bereits die enge Verbindung zwischen Leben und Werk des Autors erkennen. Auch die Themen seiner 1984 veröffentlichten Romantrilogie Das wilde Kärnten, welche aus den Einzelwerken Menschenkind (`79), Der Ackermann aus Kärnten (`80) und Muttersprache (`82) besteht, sind stark durch die von Winkler gemachten Erfahrungen in Kindheit und Jugend geprägt. Leitthemen sind die Brutalität des Bäuerlichen, der dominante Vater, Verführungskraft und Abart der katholischen Glaubenswelt[3], deren literarischer Realisierung mittels der Motivmischung von Tod, Verfall, obszöner Sexualität, homoerotischer Phantasien und christlicher Symbolik[4] in radikaler Weise Ausdruck verliehen wird.

Dieselben Themen spiegeln sich ebenso in der knapp 20 Jahre später erschienenen Novelle Natura morta wider, in der Winkler eben jene Leitmotive erneut zusammenfügt, um ein Rom der Groteske zu zeichnen. Nicht die klassische Ästhetisierung der Stadt oder die „Verheißung einer Wiedergeburt“[5] sind dabei entscheidend, sondern es sind die Themen des Barock: Religiosität, Erotik und besonders das Nebeneinander von Leben und Tod[6]. In diesem Sinne verweist der Werktitel der Novelle bereits auf die Textkonzeption, nämlich die Übertragung des originär aus den bildenden Künsten stammenden Stilllebens und seiner Topoi in eine literarisch-schriftlich geprägte Kunstform. Mit welchen sprachlichen Mitteln Winkler den Eindruck einer bildhaften Gleichzeitigkeit trotz der Zwangsläufigkeit des Nacheinanders der Sprache schafft, soll im folgenden Kapitel untersucht werden. Anschließend seien in Kapitel III die inhaltlichen Schwerpunkte der Novelle und die Bedeutung der Leitmotive - Triebhaftigkeit, Religion, Tod und Verfall - beschrieben.

II. Sprachliche Auffälligkeiten

Winklers Novelle drängt sich hinsichtlich einer stilistisch-sprachlichen Untersuchung geradezu auf. In der Tat sind die sprachlichen Besonderheiten zahlreich. Zunächst fällt die fast durchgehend vorhandene Aneinanderreihung hypotaktischer Satzstrukturen auf:

„Erschrocken hob die schwarzweiße, im tiefen Gras hockende Katze ihren Kopf und spitzte ihre außen weißen, innen rosaroten Ohren, als sie beinahe von einer Bierflasche getroffen worden wäre, die der Sohn der Feigenverkäuferin, der diesmal einen kleinen orange-farbenen Kunststoffschnuller an seinem linken Ohrläppchen trug, wegwarf, nachdem er sie mit seinem Freund, dem Sohn des Alimentarihändlers, gemeinsam geleert hatte.“[7]

Die konsequente Aneinanderreihung immer gleicher Satzstrukturen über die gesamte Novelle hinweg ist ein Stiltechnik, wie sie in ähnlicher Verwendung schon in Kafkas „Der Jäger Cracchus“ angewandt wurde, wobei Kafka im Unterschied zu Winkler den Anfang seiner Erzählung syntaktisch mit einer Kette von Einfachsätzen (Parataxe) bildete:

Zwei Knaben saßen auf der Quaimauer und spielten Würfel. Ein Mann las eine Zeitung auf den Stufen des Denkmals im Schatten des säbelschwingenden Helden. Ein Mädchen am Brunnen füllte Wasser in ihre Bütte. Ein Obstverkäufer lag neben seiner Ware und blickte auf See hinaus. In der Tiefe einer Kneipe sah man durch die leeren Tür- und Fensterlöcher zwei Männer beim Wein. Der Wirt saß vorn an einem Tisch und schlummerte[8].

Gemeinsam haben die Texte beider Autoren, dass die Aneinanderreihung immer gleicher Syntax, die den konventionellen Stilerwartungen wiederspricht, „nicht bloß etwas Starrendes, sondern entschieden etwas Unheilstarrendes“[9] an sich hat. Bewusst oder unbewusst erwarte der Leser, so Stephan Wackwitz, einen Aufbruch dieser apathisch-starren Struktur und weil es „so doch nicht weitergehen kann“[10], werde in ihm eine Erwartungshaltung an Veränderung provoziert, die im Falle von Natura morta jedoch weniger durch eine Abkehr der Reihen-Hypotaxe, als vielmehr auf inhaltlicher Ebene mit dem plötzlichen Tod des Piccoletto ihren Endpunkt findet.

Die hypotaktisch aneinandergereihten Sätze in Natura morta sind vom Autor aber auch gewählt, um eine Korrelation der Sprache mit dem beschrieben Inhalt herzustellen. Somit passt die Sprache derart zum Textinhalt, als dass die Satzstruktur ebenso unübersichtlich und verworren ist, wie das Treiben auf dem Piazza Vittorio, das Winkler beschreibt: Es ist dort schmutzig, ekelhaft und vor allem durcheinander. Die erschwerte Orientierung in diesem Touristen-Moloch wird durch die Satzstruktur wesentlich mitbestimmt.

Das Rom, das Winkler zeichnet, ist weiterhin angehäuft mit einer äußerst heterogenen Menschenmasse, die nicht minder zur Unübersichtlichkeit der Gesamtsituation beiträgt: Mit Reichen, Bettlern, Indern, Zigeunern, Drogenabhängigen, alkoholisierten Bettlern, „Nazi-Skin“, Deformierten und Prostituierten seien hier nur einige genannt. Viele Figuren fallen dabei durch anomales und perverses Verhalten auf (Vgl. Kapitel III.1).

Wie in einem Stillleben aus dem bildlich-künstlerischen Bereich vermitteln auch die einzelnen Szenen aus Winklers Natura morta den Eindruck eines einzigen, „eingefrorenen“ Moments, was in der Novelle sprachlich durch die Gleichzeitigkeit der Handlungen gewährleistet wird. Grammatikalisch erreicht wird dies durch den stark gehäuften Einsatz des Partizip Präsens Aktiv[11] in satzwertigen Partizipialphrasen:

1. „Mit den blutigen Messern gestikulierend und sich gegenseitig animierend, riefen die Fleischhändler grinsend […]
2. […] und zeigte ihn [den Plastiknegerkopf], immer wieder ein paar Schritte vor- und zurücklaufend, […] den zurückweichenden Pilgern.“

Zwar wäre eine Gleichzeitigkeit der Handlung auch durch entsprechende Nebensätze mit Konjunktion und finitem Verb möglich, doch gliche der Satz „Sie riefen die Fleischhändler, indem sie mit blutigen Messern gestikulierten und sich gegenseitig animierten“ mehr einer gewöhnlichen Erzählung als einer bildlichen Beschreibung, sodass festgehalten werden kann, dass durch die Verwendung des satzwertigen Partizip Präsens Aktiv dem Eindruck eines literarischen Stilllebens stärker Ausdruck verleihen kann.

Zur Schaffung des durch die Novelle erweckten Stilllebens zählt insbesondere auch die Fülle an Detailbeschreibungen und eine damit verbundene stark deskriptive Sprache. Nahezu jede vorkommende Person und Sache wird durch Attribute, die sich jedoch praktisch ausschließlich auf Äußerlichkeiten beziehen, näher beschrieben. Diese auf reine Oberflächlichkeit bezogenen Attribute sind in Natura morta grammatisch meist folgender Art:

1. Adjektivattribute: ein halbwüchsiger, spanischer Junge; sein nackter, rechter Oberschenkel
2. Partizipialattribute (zumeist PPA): eine glitzernde Sonnenbrille tragende und einen schwarzen Fächer schwenkende Großmutter
3. Attributive Nebensätze (Relativsätze): Der […] sechszehnjährige Junge, der lange, fast seine Wangen berührende Wimpern hatte […]
4. Durch Parenthesen: ein Mann […] – sein Gesicht war vom graumelierten Bart halb versteckt – […];
5. Durch Appositionen: Ein paar Fischschuppen fielen beim Fischeputzen der Kundin, einer Negerin, auf den schwarzen Handrücken.

Tatsächlich nutzt Winkler sämtliche dem Deutschen zur Verfügung stehende Möglichkeiten der Informationsverdichtung. Die dargestellte Informationsfülle, um nicht zu sagen -flut, lässt sich gerade auch durch (Determinativ-) Kompositionen als Wortneubildungen erzielen: Lammschädelkinnspitze, Truthahnetikette, Trainingsanzugsjacke, Vatikanpilger, Vollkornhostie, Heiligenkitschladen, Kunststoffjesukind, Elfenbeinjesus, Eingeweidenverkäuferin.

Die Wortzusammensetzungen wirken schon allein aufgrund ihrer Mehrgliedrigkeit auffällig. Ihre Funktion im Text ist dabei die nähere Beschreibung einer Sache, also die Attributisierung (siehe oben).

Zusätzlich entbehren etwa die Kompositionen „Vollkornhostie“, „Kunststoffjesukind“ oder „Elfenbeinjesus“ nicht nur einer gewissen Komik, sondern sind darüber hinaus auch bezeichnend für das von Winkler gezeichnete Bild der Stadt Rom, in dem alles oberflächlich bleibt, was nun gerade auch für das Thema der Religiosität gilt (vgl. Kapitel III.2).

Neben der Fülle an Detailbeschreibungen sind für die Schaffung des Stilllebens in Natura morta auch erzähltheoretische Elemente im Bereich des Modus ausschlaggebend. Hierzu zählt zunächst die externe Fokalisierung mit neutraler Erzählperspektive, die einer rein deskriptiven Erzählweise entspricht. Einblicke in die innere Gefühlswelt der Figuren werden gänzlich vermieden, ein Figurenbewusstsein bleibt aus, womit die vom Autor angestrebte Oberflächlichkeit, um nicht zu sagen „Seelenlosigkeit“, aller in der Novelle vorkommenden Personen gewahrt bleibt. Wie konsequent dies umgesetzt ist, lässt sich beispielsweise auf Seite 10 erkennen. Hier liest die Figur des Piccoletto an einer Wand die Zeilen „Luisa ama Remo. Ti voglio bene da morire![12] Allein deshalb, weil er dies in expliziter Erwähnung durch Winkler „laut“[13] tut, erfährt der Leser überhaupt erst von dieser Figurenhandlung.

[...]


[1] Vgl. Pfoser-Schewig: Winkler, Josef, in: Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, S. 353.

[2] Vgl. Winkler: Menschenkind, S. 148.

[3] Ebd..

[4] Ebd..

[5] Zit. nach Wilke: Rom als barockes Stillleben in Josef Winkler Natura morta, S. 74.

[6] Ebd., S. 75.

[7] Vgl. Winkler: Natura morta, S. 54.

[8] http://gutenberg.spiegel.de/?id=5&xid=1353&kapitel=17&cHash=60edaf8b08gracchus#gb_found

[9] Zit. nach Wackwitz, Stephan: Die Früchte und die Körper.

[10] Zit. nach ebd..

[11] In Bezug auf die Handlung des Satzes drückt der Einsatz des Partizips Präsens Aktiv als satzwertige Konstruktion Gleichzeitigkeit aus.

[12] Vgl. Winkler: Natura morta, S. 10; zur Bedeutung dieser Textstelle vgl. Kapitel II.3.

[13] Ebd., S. 10.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Josef Winklers 'Natura Morta'. Literarisches Stillleben und Leitmotive der Novelle
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Germanistisches Seminar)
Veranstaltung
Hauptseminar
Autor
Jahr
2009
Seiten
18
Katalognummer
V212421
ISBN (eBook)
9783656402497
ISBN (Buch)
9783656403425
Dateigröße
543 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
josef, winklers, natura, morta, literarisches, stillleben, leitmotive, novelle, winkler, Interpretation, Analyse
Arbeit zitieren
Stefan Engelbert Heller (Autor:in), 2009, Josef Winklers 'Natura Morta'. Literarisches Stillleben und Leitmotive der Novelle, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/212421

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