Sprachbiographien und Spracherwerbsprozess


Seminararbeit, 2011

22 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

0. Einleitung

1.0 Entwicklung der Sprachbiographieforschung
1.1 Entwicklungen in der Mehrsprachigkeitsforschung
1.2 Sprecherzentrierte Sprachwissenschaft

2.0 Zum Konzept Sprachbiographie
2.1 Biographische Rekonstruktion
2.2 Formen und Methoden

3.0 Vorzüge und Bedenken

4.0 Analyse von sprachbiographischen Erzählungen
4.1 Wiederkehrende Strukturelemente und Beispiele
4.1.1 Unfokussierter Spracherwerb
4.1.2 Persönliche Bezüge
4.1.3 Emotion
4.1.4 Erzählaufwand und argumentative Sequenzen
4.1.5 Zusammenfassung

5.0 Ausblick

Literaturverzeichnis

0. Einleitung

In Zeiten der Globalisierung und Mobilisierung der Gesellschaft stellt individuelle Mehrsprachigkeit heute keine Ausnahme, sondern vielmehr den Normalfall dar. Doch noch immer löst Multilingualismus Erstaunen aus, insbesondere in ländlichen Gegenden und traditionell monolingualen Staaten wie Deutschland. Multilinguale Sprecher sehen sich mit Fragen nach der konkreten Anzahl ihrer 'beherrschten' Fremdsprachen oder der 'ersten' und 'zweiten' Muttersprache konfrontiert. Aufgrund der unterschiedlichen Bedingungen, die zu Mehrsprachigkeit führen können und dabei von Region zu Region, wenn nicht sogar von Sprecher zu Sprecher variieren können, kann es auf diese Fragen keine eindeutigen Antworten geben. Obgleich Multilingualismus per se keine Besonderheit mehr ist, sind dessen Ausprägungen in ihrer Eigenheit zu betrachten. Im Zusammenspiel der Faktoren wie z.B. sprachliches Umfeld, Status der Sprache, Alter des Spracherwerbs oder Sprachförderung entstehen einzigartige Sprachenportraits, die durch eine externe Perspektive von Wissenschaftlern kaum zu erfassen sind. In den letzten Jahren wurden Forderungen nach einer sprecherzentrierten Sprachwissenschaft laut, die in neuen Ansätzen der Sprachbiographieforschung zum Tragen kommen.

In dieser Arbeit sollen der Mehrwert einer intensiven Beschäftigung mit Sprachbiographien sowie die dadurch neugewonnen Einblicke für den Spracherwerbsprozess beleuchtet werden. Die Erforschung von Sprachbiographien wird dabei von Fragen zum natürlichen Erwerb und zum Erlernen von mehreren Sprachen geleitet: Welche Sprachen wurden in der familiären Umgebung gesprochen? Welche sozialen Bedingungen prägten den Spracherwerb? Mit welchen Sprachen kam man in früher Kindheit in Kontakt, in der Schule, im Freundeskreis? Welche Erinnerungen und Assoziationen werden mit Sprachen verbunden?[1]

Zunächst werden im ersten Abschnitt die Grundzüge der Sprachbiographieforschung und das Erkenntnisinteresse, das deren Entwicklung beeinflusst hat, umrissen. Im zweiten Abschnitt soll das Konzept von Sprachbiographien genauer definiert werden, um anschließend die Formen und Methoden transparent werden zu lassen, die der Verschiedenartigkeit sprachbiographischer Daten gerecht werden. Vor diesem Hintergrund sollen in Abschnitt 3.0 sowohl positive als auch kritische Haltungen zur Sprachbiographieforschung diskutiert werden. Die Analyse sprachbiographischer Erzählungen nimmt ferner einen zentralen Teil der Arbeit ein und dient mit wiederkehrenden Strukturelementen und Beispielen zur Veranschaulichung der Thematik.

1.0 Entwicklung der Sprachbiographieforschung

Die Anfänge der Sprachbiographieforschung, wie sie in dieser Arbeit erörtert werden sollen, liegen schlichtweg in persönlichen Erzählungen, die in den späten 60er und 70er Jahren in den Fokus des aufkommenden interdisziplinären Forschungsfeldes der Erzählwissenschaft traten. Dieses war geprägt von Einflüssen der Entwicklungen in Literaturwissenschaften, kognitiver Psychologie und Soziolinguistik. Im Wechselspiel der Disziplinen eröffnete sich ein Raum, der Erzählungen nicht als bloße literarische Formen, sondern als Ausdruck menschlicher Erlebnisse wahrnahm. Durch das Erzählen wird uns ein umfassendes Bild von Ereignissen und ihren Auswirkungen vermittelt.[2] Die sinnstiftende Eigenschaft von persönlichen Erzählungen, die dem Leben und Erleben Bedeutung verleihen, entspringen dabei unmittelbar aus dem Kern der menschlichen Erfahrung: „we dream in narrative, daydream in narrative, remember, anticipate, hope, despair, plan, revise, criticize, gossip, learn, hate and love by narrative“[3].

Mit der Hervorhebung des Erzählens als typische Form des sozialen Lebens, dem sogenannten narrative turn, der in den 70er Jahren in den Geistes- und Sozialwissenschaften einsetzte, etablierten sich persönliche Erzählungen in zahlreichen Wissenschaften zum Gegenstand von Untersuchungen sowie zu einem anerkannten Forschungsinstrument im Rahmen von mündlichen Befragungen.

Auch in der Sprachwissenschaft erlangte das Mittel des Erzählens, insbesondere in autobiographischer Form, allmählich Bedeutung. Dies gilt auch für die Fremdsprachenerwerbsforschung, allerdings dauerte das Hervortreten von Sprachbiographien bis in die 90er Jahre. Untersuchungen beschäftigten sich zunächst mit Tagebüchern, die von Lernern einer zweiten Fremdsprache verfasst und im Hinblick auf entscheidende Einflüsse auf den Lernprozess analysiert worden sind. Später wurden diese Lerntagebücher durch veröffentlichte language learning memoirs und autobiographische Interviews ergänzt. Alle Formen hatten im Sinne des narrative turn das Ziel, die persönlichen Erfahrungen mit dem Erlernen einer Fremdsprache und deren Bedeutungen im sozialen sowie individuellen Kontext zu erfassen.[4]

Mit diesen Entwicklungen veränderte sich die Vorstellung eines eindimensionalen und linearen Spracherwerbs zu Gunsten einer vielseitigen Berücksichtigung der sozialen und ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Eigenheiten und Emotionen der Lerner. Demgemäß entstanden in der Sprachwissenschaft neue theoretische Rahmen für die Erforschung des Zweitsprachenerwerbs, die sich nicht nur mit den Ergebnissen und (Miss-)Erfolgen, sondern auch mit Ängsten, Konkurrenzdenken, Gefühlen und Wirkungspotentialen beschäftigen.[5] Damit wurde den reichen Erfahrungen von mehrsprachigen bzw. zweisprachigen Sprechern, ihrer Kreativität und ihrem spielerischen Umgang mit Erst­und Fremdsprache nach lange vorherrschenden Vorurteilen seitens monolingualer Sprecher Rechnung getragen.

1.1 Entwicklungen in der Mehrsprachigkeitsforschung

Leider haben Studien zum Zweitsprachenerwerb und Bilingualismus voraus- und weitergehende Lernerfahrungen über lange Zeit vernachlässigt. So konzentrierte man sich im Wesentlichen auf den Erwerb und die Verwendung einer zweiten Sprache, bzw. auf die kognitiven Ergebnisse von Bilingualität und die Kompetenzen in zwei Sprachen. Allerdings blieben die möglichen Effekte von zusätzlichen Sprachen und sprachliche Interaktionen dadurch unberücksichtigt.[6]

In den letzten Jahren fanden in der Mehrsprachigkeitsforschung erhebliche Fortschritte statt, indem man über die Erforschung des Zweitsprachenerwerbs und Bilingualismus hinaustrat und nun auch den Erwerb und die Verwendung von drei und mehr Sprachen sowie deren Wechselspiel ganzheitlich betrachtet. Diese Weiterentwicklung wurde durch die neuen Herangehensweisen in der Erforschung des Spracherwerbs und der Sprachentwicklung bestärkt.

Einer der neuen Ansätze liegt in der Complexity Theory (CT), die holistische Modelle umfasst und einen dynamischen, non-linearen Lernprozess beschreibt, der von Ausgangsbedingungen bestimmt wird. Innerhalb der Complexity Theory ist außerdem das Dynamic Model of Multilingualism zu nennen, das die psycholinguistischen Potenziale von Multilingualismus gegenüber Monolingualismus erforscht. Ferner untersuchen mehr und mehr Studien die Einflüsse von bilingualen und multilingualen Kompetenzen auf das Erlernen neuer Fremdsprachen. Welche Vorteile haben mehrsprachige Sprecher gegenüber einsprachigen Sprechern? Wie signifikant sind die Auswirkungen von Bilingualität auf den Erwerb einer zusätzlichen Sprache? Um sich Fragen wie diesen zu nähern, widmet sich das Forschungsfeld der cross- linguistic influence (CLI) dem Erwerb von dritten und weiteren Sprachen unter Gesichtspunkten wie Sprachstatus, Kontext und Aktualität der sich beeinflussenden Sprachen. Ein weiterer Aspekt, der in den vergangen Jahren enormes Interesse erlangte, ist das Verhältnis von Sprachentwicklung und Emotion.[7] Pavlenko unterscheidet dabei drei Dimensionen: die Sprache der emotionalen Erfahrungen, die bevorzugte Umgangssprache und die Differenzen im Ausdruck gleicher Emotionen in verschiedenen Sprachen.[8]

Die Entwicklungen in der Mehrsprachigkeitsforschung, mit besonderem Augenmerk auf Emotionen, zeugen nicht nur von einem komplexeren theoretischen Kontext, sondern schöpfen auch aus einem Reichtum an unterschiedlichen Daten, die durch jeweils angepasste Methoden erfasst werden. Neben ethnographic data aus direkten Beobachtungen, performance data aus mündlichen Erzählungen und Interviews ist vor allem introspective data aus persönlichen Berichten und sprachlichen Autobiographien hervorzuheben.[9]

1.2 Sprecherzentrierte Sprachwissenschaft

Mitte der 90er Jahre wurden Forderungen laut, den mehrsprachigen Sprechern selbst, ihren Erfahrungen und individuellen Sichtweisen einen offenen Raum zu geben. Die Innenperspektive der ersten Person, des Erzählers selbst, soll die Außenperspektive der dritten Person, des distanzierten Beobachters, ersetzen bzw. ergänzen. Nur mit Hilfe dieser individuellen Ebene können Spracherwerbsprozesse und Ausprägungen von Mehrsprachigkeit ganzheitlich erforscht werden.[10] Durch Methoden wie autobiographische Erzählungen oder sprachbiographische Interviews (s. Abschnitt 2.1) offenbaren sich einzigartige Sprachbiographien, die persönliche Erfahrungen und Emotionen von Lernern und Sprechern einer Sprache greifbar machen.

Wie zu Beginn des Abschnitts erwähnt, besteht das Interesse an Autobiographien aller Art sowie die Wertschätzung der autobiographischen Erzählform bereits seit Jahrzenten. Das ausgeprägte Interesse an Sprachbiographieforschung ist somit als Pendant zum Interesse der Öffentlichkeit an biographischen Darstellungen generell zu sehen.[11]

Rita Franceschini stieß in der Vorbereitung eines Forschungsprojekts zum Thema „Sprachbiographien“ zwar auf umfangreiche Literatur zu Migranten- , Frauen- , Kriminellen-, oder Kriegsbiographien, doch schien Sprache als Gegenstand der Autobiographie nie konkretes und zentrales Thema zu sein. Im Rahmen des von Franceschini geführten Basel-Prag-Projekts entstanden folglich im Zeitraum von 1995 bis 1997 50 sprachbiographische Interviews von mehrsprachigen Sprechern aus der Tschechischen Republik, der Schweiz, Österreich und Deutschland. Untersucht wurden sowohl die unterschiedlichen Aspekte des Spracherwerbs und Umgangs mit zwei oder mehr Sprachen, als auch die narrativen und interaktiven Aspekte der Autobiographie im Zusammenhang mit den einzelnen Lernprozessen. Im Zuge des Projekts und darüber hinaus konnte sich der Begriff der Sprachbiographien und deren Erforschung etablieren.[12]

Das Thema Sprachbiographien wird außerdem gestärkt durch die Einführung des sogenannten europäischen Sprachen-Portfolios. Demnach soll jede/r Lernende festhalten, wie sich das persönliche Sprachenportrait entwickelt. Es handelt sich dabei um eine bestimmte Form der Sprachbiographie, in der Lernerfahrungen in schriftlicher Kurzform abgefasst werden.[13]

[...]


[1] vgl. Franceschini (2004), S. VII. In: Franceschini/Miecznikowski (Hrsg.).

[2] vgl. Pavlenko (2007), S. 163f.

[3] Hardy (1968), zitiert in Pavlenko (2007).

[4] vgl. Pavlenko (2007), S. 163f.

[5] vgl. Pavlenko (2007)

[6] vgl. TODEVA/CENOZ (2009), S. 2-4.

[7] vgl. Todeva/Cenoz (2009), S. 4 - 11.

[8] vgl. Pavlenko (2006), zitiert in Todeva/Cenoz (2009), S. 10.

[9] vgl. Todeva/Cenoz (2009), S. 4 - 11.

[10] vgl. ebenda, S. 11.

[11] vgl. Fix (2010), S. 10-28. In: Franceschini/Bethge (Hrsg.).

[12] vgl. Franceschini (2004), S. 125 - 128. In: Franceschini/Miecznikowski (Hrsg.).

[13] vgl. Franceschini (2004), S. XI. In: Franceschini/Miecznikowski (Hrsg.). siehe auch: Portfoliobeschreibung des Europarates: http://www.coe.int/t/dg4/portfolio/default.asp?l=e&m=/main pages/welcome.html siehe auch: Informationen und Arbeitsblätter zum deutschlandweiten Europäischen Sprachenportfolio für Erwachsene: http://www.sprachenportfolio-deutschland.de/

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Sprachbiographien und Spracherwerbsprozess
Hochschule
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt  (Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät)
Veranstaltung
Sprachliche Relativität und Mehrsprachigkeit
Note
1,0
Autor
Jahr
2011
Seiten
22
Katalognummer
V212322
ISBN (eBook)
9783656399124
Dateigröße
1182 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sprachbiographie, Multilingualismus, Mehrsprachigkeit
Arbeit zitieren
B.A. European Studies Franziska Caesar (Autor:in), 2011, Sprachbiographien und Spracherwerbsprozess, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/212322

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