Eine Rezeptionsuntersuchung zur Scripted-Reality-Show "Berlin - Tag & Nacht"


Masterarbeit, 2012

202 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abstract

1 Einleitung
1.1 Einführung und Relevanz
1.2 Forschungsziel
1.3 Aufbau der Arbeit

2 Scripted Reality
2.1 Definition von Scripted Reality
2.2 Einordnung innerhalb des Reality TV
2.3 Scripted Reality im deutschen Fernsehen

3 Forschungsfragen

4 Untersuchungsgegenstand
4.1 „Berlin - Tag & Nacht“
4.2 Begründung der Wahl des Untersuchungsgegenstands

5 Methodisches Vorgehen
5.1 Wahl der Forschungsmethode
5.2 Qualitative Sozialforschung
5.2.1 Das fokussierte Interview
5.3 Kritische Hermeneutik

6 Untersuchung
6.1 Fokussiertes Interview
6.1.1 Entwicklung des Interviewleitfadens
6.1.1.1 Fragebogendramaturgie
6.1.2 Sampling
6.1.3 Durchführung der Interviews
6.1.3.1 Einflüsse und Effekte
6.2 Datenauswertung
6.2.1 Darstellung der Ergebnisse
6.2.2 Auswertung Teil I - Nutzungsmotive
6.2.2.1 Zwischenfazit und Überprüfung der Hypothesen
6.2.3 Auswertung Teil II - Einschätzung der Glaubwürdigkeit
6.2.3.1 Zwischenfazit und Überprüfung der Hypothesen
6.2.4 Geschlechterdifferenzen

7 Fazit und Ausblick

8 Anhang

Abstract

„HartzIV-Fernsehen“, „asozial“, „verdummend“ - das sind nur einige Begrif- fe, die im Zusammenhang mit Scripted Reality fallen. Gut ist das Image von „Familien im Brennpunkt“, „Verdachtsfälle“ und „Mitten im Leben“ also nicht. Dennoch sind die Quoten dauerhaft gut bis sehr gut. Die Zuschauer wollen also diese Fiktionalisierung der Realität im Fernsehen sehen.

Besonders überraschend war der Erfolg von „Berlin - Tag & Nacht“. Zuerst als Lückenfüller für die nächste „Big Brother“-Staffel gedacht, entwickelte sich die Serie rund um das Leben einer Wohngemeinschaft im szenigen Berlin-Kreuzberg schnell zu einem Quotengarant für RTLII und den Produ- zenten filmpool.

Diese Masterarbeit untersucht die Wirkung von Scripted-Reality-Formaten am Beispiel von „Berlin - Tag & Nacht“. Warum ist das Format so beliebt bei den Zuschauern? Ist es der gescriptete Charakter oder sind sie sich dessen gar nicht bewusst? Es herrscht zurzeit eine Forschungslücke in Bezug auf die Wahrnehmung von Scripted Reality, zumal es weder eine einheitliche Bezeichnung, noch eine einheitliche Kennzeichnung der betreffenden For- mate gibt.

Um diese wissenschaftliche Lücke zu schließen, wurde anhand von 16 fo- kussierten Interviews untersucht, warum die Befragten „Berlin - Tag & Nacht“ schauen und ob sie das Format als glaubwürdig oder nicht ein- schätzen.

Als zentrale Ergebnisse kamen heraus, dass die Befragten den gescripteten Charakter des Formats, auch ohne Kennzeichnung, erkennen, allerdings ist ihnen dies nicht wichtig. Vielmehr steht für sie die Nutzung des Formats zur parasozialen Interaktion und zur Orientierung im Vordergrund. Für Frauen bietet „Berlin - Tag & Nacht“ - das vom Aufbau und von der Serialität her große Ähnlichkeit mit Daily Soaps hat - die Möglichkeit, sich selbst mit den Fernsehfiguren zu vergleichen. Männern ist eher die pure Unterhaltung wichtig.

1 Einleitung

1.1 Einführung und Relevanz

Reality TV ist schon lange fester und sehr erfolgreicher Bestandteil des deutschen Fernsehprogramms. Doku- und Reality-Soaps sind beliebt, für den Zuschauer aber nichts Neues mehr. In den letzten Jahren gewann al- lerdings eine neue Gattung des Reality TV zunehmend an Bedeutung: Scripted Reality - also die „geschriebene Realität“. Besonders die Privat- sender füllen große Teile ihres Programms mit Formaten dieses Scripted Reality.

Darunter versteht man Sendungen, die wie echte Dokumentationen wirken, allerdings auf einem Drehbuch basieren und von Laienschauspielern dargestellt werden.

Obwohl diese Sendungen immer mehr - auch in Bezug auf die Quotenentwicklung - an Bedeutung gewinnen, klafft in der wissenschaftlichen Debatte diesbezüglich eine große Lücke;Wie rezipiert der Zuschauer eigentlich Scripted-Reality-Formate?

Die Frage, die die Wissenschaft und auch die Medienlandschaft derzeit spaltet, ist: Durchschaut der Zuschauer das Spiel mit der Inszenierung? Vor allem die Privatsender sind der Meinung, man solle die Zuschauer nicht un- terschätzen, er merke, wann ein Format inszeniert ist. Alle anderen behaup- ten das Gegenteil: Der Zuschauer könne eben nicht mehr zwischen Scripted Reality und z.B. einer Doku-Soap unterscheiden. Ein Grund dafür, und gleichzeitig der größte Vorwurf an Scripted-Reality-Produzenten, ist die mangelnde Kennzeichnung. Bis heute gibt es gewisse Formate wie „Mitten im Leben“, bei denen unklar ist, ob sie gescripted sind oder nicht.

Der Alltag ist voller Medienbotschaften, die überzeugend dargestellt werden - allerdings muss sie der Empfänger selbst erst auf ihren wirklichen Wahr- heitsgehalt überprüfen (vgl. Wick, 2012, S. 207). Frei nach der Lasswell- Formel:

Who says what in which channel to whom with what effect?

In der Panorama-Reportage von 2011 wird das Reality TV als „Lügenfernsehen“ betitelt. Doch wo fängt das Lügen an? Das Problem sind die inszenatorischen Möglichkeiten, die Realität zu verändern, die zu vielfältig sind, um sie, wie Klaudia Wick beschreibt, in einem „Code of Conduct“ zusammenzufassen (vgl. Wick, 2012, S. 210).

Die Relevanz des Themas ergibt sich aus der Tatsache, dass die Anzahl der Scripted-Reality-Formate immer mehr zunimmt. Grund dafür sind die - im Vergleich zu dokumentarischen Formaten - geringen Produktionskosten. In Kombination mit den guten bis sehr guten Quoten ist zurzeit also kein Ende der Scripted-Reality-Welle in Sicht.

1.2 Forschungsziel

Besonders erfolgreich ist das Scripted-Reality-Format „Berlin - Tag & Nacht“, das werktäglich zwischen 19 Uhr und 20 Uhr auf RTLII gesendet wird. Aufgrund der großen Beliebtheit, die sowohl für filmpool, der Produkti- onsfirma, also auch für RTLII sehr unerwartet und überraschend kam, bildet dieses Format den Untersuchungsgegenstand dieser Masterarbeit. Der all- gemeine Erfolg von Scripted-Reality-Formaten ist deshalb so erstaunlich, weil sie ein schlechtes Image haben. Im Zusammenhang mit diesen For- maten kommen nicht selten Begriffe wie „HartzIV-Fernsehen“ oder „asozi- al“ vor.

Deshalb wird in dieser Masterarbeit die Rezeption der Zuschauer von „Ber- lin - Tag & Nacht“ erforscht. Mithilfe von fokussierten Interviews werden die Nutzungsmotive der Zuschauer sowie deren Einschätzung der Glaubwür- digkeit des Formats untersucht.

Das Forschungsziel dieser Masterarbeit ist es, herauszufinden, wie bewusst dem Zuschauer der gescriptete Charakter des Formats ist und aus welchen Gründen er „Berlin - Tag & Nacht“ überhaupt einschaltet - obwohl das Image des Formats in der allgemeinen Debatte schlecht ist.

Die entscheidenden Forschungsfragen, die in dieser Masterarbeit untersucht werden, lauten deshalb:

Warum schalten die Zuschauer „Berlin - Tag & Nacht“ ein?

Merken die Zuschauer, dass „Berlin - Tag & Nacht“ gescripted ist?

1.3 Aufbau der Arbeit

Diese Arbeit besteht aus insgesamt sieben Kapiteln. Nachdem in der Einlei- tung das Thema grob skizziert wird, wird im zweiten Kapitel die Gattung der Scripted Reality beschrieben und deren Bedeutung im deutschen Fernse- hen.

In Kapitel 3 folgt dann die Erläuterung der Forschungsfragen. Zusammen mit dem vierten Kapitel, in dem der Untersuchungsgegenstand, das Format „Berlin - Tag & Nacht“, definiert wird, bilden sie somit die Grundlage für die Untersuchung. Das fünfte Kapitel erläutert das methodische Vorgehen, von der Wahl der Methode bis zur Definition des fokussierten Interviews. An- schließend folgt dann in Kapitel 6 die Untersuchung. Das letzte Kapitel fasst die Ergebnisse noch einmal zusammen, enthält das Fazit sowie einen Aus- blick.

2 Scripted Reality

Die Krux am Trend der Scripted-Reality-Formate ist leicht zu erkennen: Ob Produktionsfirma, Sendeverantwortlicher oder Redakteur - alle reden von Scripted Reality. Eine allgemein gültige Definition gibt es allerdings nicht. Genauso vielfältig wie die Verwendungen sind auch die Abwandlungen des Begriffs. Im folgenden Kapitel wird eine für diese Masterarbeit gültige und zugrunde liegende Definition erläutert und der Status Quo der gescripteten Formate im deutschen Fernsehen beschrieben.

2.1 Definition von Scripted Reality

Formate, die auf den ersten Blick wie Dokumentationen wirken, aber ein Drehbuch als Grundlage haben und mithilfe von Laienschauspielern dargestellt werden, nennt man Scripted Reality.

Solche Formate werden auch scripted documentary oder scripted-docu- soap genannt (vgl. Hißnauer, 2011, S. 363).

Weitere Merkmale dieser Formate sind laut Hißnauer, dass sich teilweise dokumentarischer Darstellungskonventionen bedient wird. In Bezug auf „Berlin - Tag & Nacht“ sind damit u.a. die abgesetzten Interviews und die wackelige, lebendige Kamera gemeint.

Scripted-Reality-Formate sind rein fiktive Sendungen ohne realen Hintergrund.1 Sie laufen entweder im Rahmen von Fortsetzungsserien, wie im Fall von „Berlin - Tag & Nacht“ oder auch „Die Abschlussklasse“, die von 2003 bis 2006 auf ProSieben lief, oder aber sie erscheinen als Episodenserie, wie „Familien im Brennpunkt“ oder „Verdachtsfälle“.

In den letzten Jahren wurde allerdings eine markante Veränderung der Scripted-Reality-Formate sichtbar:

„Sie inszenieren sich vermehrt als journalistisch-dokumentarische Sozial- reportagen“ (Hißnauer, 2011, S. 332).

Besonderes Merkmal von Scripted-Reality-Formaten wie „Berlin - Tag & Nacht“, die als Fortsetzungsserien konzipiert ist, ist die Serien-Dramaturgie. Nach Frey-Vor sind die wichtigsten Elemente einer Serie, die auch auf „Ber- lin - Tag & Nacht“ angewendet werden können, zunächst das Konzept auf Endlosigkeit. Konflikte werden nur oberflächlich gelöst und enthalten wie- derum neue Konflikte. Am Schluss jeder Folge gibt es einen Cliffhanger. Charakteristisch ist auch die Zopfdramaturgie, d.h. mehrere Handlungs- stränge sind miteinander verwoben. Die Dialoge dominieren gegenüber der Handlung. Diese Merkmale beziehen sich explizit auf „Berlin - Tag & Nacht“, sind allerdings nicht idealtypisch für alle Scripted-Reality-Formate. Es gibt viele Gemeinsamkeiten, allerdings auch Unterschiede. Die Kameraführung in fiktiven Serien ist meist statisch, in „Berlin - Tag & Nacht“ dagegen domi- niert die living camera (vgl. Frey-Vor, 1996, S. 18ff).

2.2 Einordnung innerhalb des Reality TV

Die Begriffsvielfalt für Scripted Reality und deren Formate ist enorm. Erschwerend hinzu kommt, dass sich selbst Produzenten, Verantwortliche der Sendeanstalten und Forscher uneins über Definitionen sind. Demzufolge gibt es auch keine einheitliche Verwendung.

Allerdings ist dies auch das Charakteristische an der Gattung. Für die in dieser Arbeit enthaltene Untersuchung ist es notwendig, dass der Begriff, die Entwicklung und das Umfeld von Scripted Reality umfassend erläutert wird, um darauf Bezug nehmen zu können.

Am Anfang der Hierarchie steht der Begriff Reality TV. Dies ist der Oberbe- griff für sämtliche Gattungen. Spricht man von Reality TV, muss grundsätz- lich zwischen narrativem und performativem Reality TV unterschieden werden.

Performatives Reality TV zeichnet sich im Gegensatz zum narrativen da- durch aus, dass diese Formate einen realen Hintergrund haben, in dem direkt in die Alltagswelt von Menschen eingegriffen wird (vgl. Lücke, 2002, S.). Um die Unterschiede noch genauer erklären zu können, muss zuerst eine genauere Begriffsbestimmung erfolgen, für die kurz die Entwicklung des Reality TV skizziert werden muss.

Mittlerweile sind Gattungen des Reality TV, also z.B. neben ScriptedReality-Formaten auch Doku-Soaps oder Reality-Soaps, fester Bestandteil des deutschen Fernsehens. Über den genauen Beginn der Entwicklung gibt es verschiedene Ansichten, Grundlage dieser Masterarbeit sind die Schilderungen von Stephanie Lücke und Christian Hißnauer.

Den ersten Boom der Reality-TV-Formate gab es Anfang der 1990er Jahre. Zu diesem Zeitpunkt tauchte der Begriff in der medienwissenschaftlichen Debatte auf und war attraktiv, weil er Authentizität versprach. Konkret han- delte es sich zuerst um sogenannte eyewitness programmes, also u.a. Kompilationen von Augenzeugenberichten, Homevideos oder nachgestellte dramatische Ereignisse anhand von Zeugenaussagen (wie „Bitte lächeln“ oder „Notruf“). Insgesamt sprach man damals von gewaltzentriertem Reali- ty TV, weil der Fokus der Sendungen eben meist auf Unfällen oder Ret- tungsaktionen gerichtet war. Zu dieser Zeit waren Formen des Reality TV ganz klar der Information und nicht der Unterhaltung zugeordnet.

Es folgte ein deutlicher Wandel im Begriffsverständnis, hin zu einem kommerziellen, auf Unterhaltung ausgerichtetem Programmangebot.

Heutzutage versteht man Reality TV als Oberbegriff für verschiedene For- men, die sowohl einen Unterhaltungs- als auch einen Anspruch auf doku- mentarische Wirklichkeitsdarstellung haben (vgl. Lücke, 2002 und Hißnau- er, 2011).

Einige Autoren verwenden synonym den Begriff Factual Entertainment. Die- ser stammt aus der angelsächsischen Literatur und beschreibt die Unter- scheidung bei nonfiktionalen Fernsehformaten zwischen Information (z.B. Nachrichten) und Unterhaltung (z.B. Doku-Soaps) (vgl. Weiß/Ahrens, 2012, S. 65f).

Im Laufe dieses Wandels bildeten sich die Merkmale des Reality TV aus: die Vermischung von Fiktion und Non-Fiktion.

Reality TV ist gekennzeichnet von Hybridisierung, d.h. es verknüpft Charakteristika verschiedener Gattungen und formt daraus neue Formate. Zusammen mit einer thematischen Verschiebung, vom Schicksal des Einzelnen hin zum Alltag (obwohl auch dort eher das Spektakuläre im Alltag von Interesse ist) von Menschen.

Der zweite Boom folgte dann 2000 mit der Ausstrahlung der ersten Staffel von „Big Brother“. Damals war von Sittenverfall die Rede, dennoch gilt „Big Brother“ als Start der Real-Life-Soaps bzw. als das Synonym für semidokumentarische Formen.

Unter dem Begriff Real-Life-Soap werden die Gattungen Doku-Soap, Reality-Soap sowie Scripted Reality subsumiert.

Doku-Soaps kennzeichnen das Prinzip, dass Menschen in ihrer gewohnten Umgebung gezeigt werden. Reality-Soaps dagegen sind selbstgenerierte TV-Events, d.h. sie finden nur statt, damit sie im Fernsehen gezeigt werden können. Doku-Soaps unterstellt man grundsätzlich, dass sie echt und do- kumentarischen seien (natürlich mit einem gewissen Grad an Inszenie- rung). Doku-Soaps werden aber immer mehr und immer öfter fiktionalisiert - sodass sie zu Scripted-Reality-Formaten werden.2 An diesem Punkt setzt noch mal die genauere Definition von narrativem und performativem Reality TV an: Bei performativen Showformaten (also Reality-Soap-Formaten) macht das Script die Show bzw. die Sendung und gibt den Handlungsrahmen vor, in dem sich die Akteure bewegen können. Beispiele dafür sind „Big Brother“, „Das perfekte Dinner“ oder „Frauentausch“.

Bei narrativen Erzählformaten verändert das Script die dokumentarische Erzählstruktur komplett und wandelt sich vom Beobachten zum Nachspie- len. Dazu gehören dann sowohl die klassischen Doku-Soap-Formate wie „Goodbye Deutschland“, „Unsere erste gemeinsame Wohnung“ oder „Men- schen, Tiere & Doktoren“ sowie Scripted-Reality-Formate (vgl. Hißnauer, 2011 und Weiß/Ahrens, 2012, S 62f).

2.3 Scripted Reality im deutschen Fernsehen

Die Landesmedienanstalten ordnen den Start der Verbreitung von Scripted- Reality-Formaten in Deutschland in das Jahr 2009 ein. Allerdings war und ist die Umsetzung nicht neu - auch den Daily Talks Ende der 1990er Jahre sowie den Gerichtsshows werden ein Script als Grundlage unterstellt (vgl. Weiß/Ahrens, 2012, S. 59f). Hißnauer geht sogar noch weiter zurück und verortet das Prinzip von Scripted Reality in das Dokumentarspiel der 1960er und 1970er Jahre, in dem Kriminalfälle fiktionalisiert wurden (vgl. Hißnauer, 2011, S. 365).

Die Ursache für die Entwicklung gescripteter Formate in Deutschland war für Markus Brauck ganz eindeutig:

„Das Boom-Genre hat ein Personalproblem“ (Brauck, 2009, S. 87).

Auch für die Landesmedienanstalten sind ökonomische Gründe für diesen Verlauf entscheidend gewesen. Einerseits sind Scripted-Reality-Formate schneller und billiger herzustellen als jedes andere dokumentarische For- mat - auch im Vergleich zu anderen Reality-TV-Formaten - andererseits ist auch die Recherche von echten Geschichten und von Menschen, die ihre echte Geschichte erzählen und sich von der Kamera begleiten lassen, im- mer schwieriger, als sich Geschichten auszudenken und sie dann nachstel- len zu lassen. Hinzu kommt, dass dadurch keine Gefahr mehr besteht, dass Persönlichkeitsrechte o.Ä. verletzt werden.

Nach Angaben der Produktionsfirmen filmpool und Norddeich werden die Kosten für eine 45minütige gescriptete Folge laut eines NDR-Papiers auf 40.000 € beziffert (vgl. Weiß/Ahrens, 2012, 2012, S. 61). Eine Folge „Gute Zeiten Schlechte Zeiten“ kostet im Vergleich 70.000 bis 80.000 € (vgl. Hein, 2012).

Sparzwänge - diese haben laut Christian Hißnauer nach dem Einbruch der Werbeeinnahmen entscheidenden Einfluss auf die Programmgestaltung. Laiendarsteller sind billig - und für einige scheint es zum Hobby geworden zu sein, von einem Scripted-Reality-Format zum anderen zu tingeln. Dieses Phänomen ist aber nicht neu, bereits zur Daily-Talk-Ära in den 1990er Jahren gab es die sogenannten „Talk-Show-Hopper“. Im Grunde hat die Entwicklung bei den Talkshows die Entwicklung der Scripted Reality vorweg genommen (vgl. Hißnauer, 2011, S. 366).

Markus Brauck sieht auch eine Veränderung in der Funktion der Darsteller:

Zunächst gab es nur Profi-Laien, also TV-Anfänger, die für alle mögliche Sujets und Storys ihr Gesicht vermieten. Nun gibt es Laien-Profis, also Schauspieler, die für einen Hauch von Realität in vermeintlich authentische Existenzen schlüpfen (Brauck, 2009, S. 88).

Die schauspielerischen Fähigkeiten der einzelnen Darsteller werden meist eher negativ bewertet. Das Paradoxe ist allerdings, dass gerade dies die Attraktivität vieler Formate ausmacht (vgl. Holst, 2009), denn erst durch den von Brauck angesprochenen Wechsel wurden die Formate auch in Bezug auf die Quoten erfolgreich.

Authentizität fasziniert offenbar umso mehr, je künstlicher sie ist. [...] Eine permanent ausgestellte Aggressivität wirkt glaubhaft, gerade weil sie so unfassbar laienhaft dargestellt wird. Das unbeholfene Spiel, das hilflose Grimassieren, das Aufsagen alberner Sätze, alles erhöht para- doxerweise die Glaubwürdigkeit: Wer so mies spielt, muss „echt“ sein (Kissler, 2009).

Inwiefern die schauspielerische Leistung der Darsteller Einfluss auf die Glaubwürdigkeit explizit von „Berlin - Tag & Nacht“ hat, wird in der Auswertung im Kapitel 6.1.5 noch hinreichend beschrieben.

Interessant ist nun, welche Formate des Reality TV wie umfangreich im deutschen Fernsehprogramm vertreten sind. Als Grundlage dient dazu der „Programmbericht 2011 - Fernsehen in Deutschland“, der von der Arbeits- gemeinschaft der Landesmedienanstalten in der Bundesrepublik Deutsch- land herausgegeben wird. Hans-Jürgen Weiß und Annabelle Ahrens haben dazu eine Programmstudie durchgeführt, die sich nicht nur, aber haupt- sächlich auf Scripted-Reality-Formate konzentriert.

Die Problematiken bei der korrekten Zuordnung sind schon im Umgang mit anderen Reality-TV-Formaten bekannt: Einerseits mangelt es an allgemeingültigen Definitionen der einzelnen Gattungen, andererseits ist besonders in Bezug auf gescriptete Formate schwer nachzuvollziehen, welche Sendung nun das Label „gescriptet“ trägt, welche nicht und welche nachträglich fiktionalisiert wurden.

Die korrekte Einstufung hängt dabei vor allem von der Bereitschaft der Produktionsfirmen ab, diesen Sachverhalt preiszugeben. Einige Sendungen haben in der Regel im Abspann den Hinweis auf die Fiktionalisierung3 (vgl. Ahrens/Schwotzer/Weiß, 2012, S. 252f).

Weiß und Ahrens haben alle Reality-TV-Formate, die im Frühjahr 2011 im deutschen Fernsehen liefen, systematisiert und einmal die Anzahl der verschiedenen Formate, sowie in einem zweiten Schritt deren Sendezeitvolumen gemessen. Sie haben dabei unterschieden in

Gescriptete Doku-Soaps

Damit sind alle Formate gemeint, die in dieser Masterarbeit unter ScriptedReality-Formate subsumiert sind.

Gescriptete Gerichts- und Personal-Help-Shows

Insbesondere Gerichtsshows sind ein gutes Beispiel dafür, dass es schon einmal eine Welle der Fiktionalisierung gab. Sie sind allerdings nur noch bei Sat.1 von Bedeutung und nehmen auch dort aufgrund der Absetzung von „Richterin Barbara Salesch“ weiter ab.

Script-affine Formate

Diese Kategorie ist die vermutlich interessanteste, denn damit sind alle Formate gemeint, bei denen keine klare Zuordnung in dokumentarisch oder gescriptet möglich ist. Definiert man nun einen klaren Hinweis auf das Scripten innerhalb der Sendung als manifestes Unterscheidungskriterium, dann heißt es trotzdem nicht, dass alle Sendungen, die keinen Hinweis tragen, automatisch dokumentarisch und echt sind.

Realityshow-Formate

Damit werden alle Reality-Soap-Formate zusammengefasst.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Anzahl der Formate in der Untersuchungswoche (Weiß/Ahrens, 2012, S. 77)

In Bezug auf die Anzahl verschiedener Formate ist in allen Kategorien auf- fällig, dass Formate des Reality TV vor allem für die RTL Group von großer Bedeutung sind. Im Frühjahr 2011 wurden insgesamt 53 Formate identifi- ziert, von denen 40 auf RTL, VOX oder RTLII liefen. Das macht einen Ge- samtanteil von 75%.

Insgesamt dominieren Doku-Soaps - sowohl die als eindeutig gescriptet gekennzeichneten als auch die script-affinen - das deutsche Reality TV.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Zeitumfang der Formate in der Untersuchungswoche (Weiß/Ahrens, 2012, S. 78)

Auffällig ist, dass im Frühjahr 2011 vier Programme gescriptete Doku- Soaps ausgestrahlt haben. Die von RTL hatten die umfangreichste Sende- zeit. Werbeunterbrechungen, Programmtrailer, Sendungshinweise etc. nicht mitgerechnet, waren es knapp 25 Stunden Nettosendezeit pro Woche.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Reality-TV-Gattungen im Gesamtprogramm (Weiß/Ahrens, 2012, S. 80)

Betrachtet man nun den Anteil von Scripted-Reality-Formaten am Gesamt- programm, wird der hohe Stellenwert dieser Gattung noch deutlicher. Grundsätzlich bestehen fast 40% eines durchschnittlichen Sendetags mit 24 Stunden aus Reality-TV-Formaten. Die rein gescripteten Sendungen machen bei RTL etwas über 15% aus. Auf dem ersten Platz ist allerdings Sat.1 mit einem Anteil von rund einem Viertel des täglichen Programms, da die Gerichts- und Personal-Help-Shows eine große Menge des Sendevolumens einnehmen. Diese Zahlen würden sich sicherlich ändern, würde man die Dunkelziffer der bis dato noch als script-affin geltenden DokuSoaps dazurechnen (vgl. Weiß/Ahrens, 2012, S. 66ff).

Da „Berlin - Tag & Nacht“ erst im September 2011 startete, fehlt das Format in der vorgestellten Studie, dennoch zeigt sie eindeutig den Stellenwert von gescripteten Formaten im deutschen Fernsehen.

3 Forschungsfragen

Nachdem nun in Kapitel 2 der theoretische Rahmen erläutert wurde, werden in diesem Kapitel die Forschungsfragen vorgestellt und aus eben jenem theoretischen Rahmen abgeleitet.

Diese Masterarbeit konzentriert sich auf die Rezeption des gescripteten Formats „Berlin - Tag & Nacht“. Ein Fokus der Untersuchung liegt dabei auf den Nutzungsmotiven der Zuschauer, deshalb lautet die erste zentrale For- schungsfrage:

Warum schalten die Zuschauer ‚Berlin - Tag & Nacht’ ein?

Der andere Aspekt in der Rezeption der Zuschauer ist die Wahrnehmung und anschließende Zuordnung des Formats und des Inhalts in „echt“ bzw. „gespielt“. Daraus ergibt sich ebenfalls eine Forschungsfrage:

Merken die Zuschauer, dass „Berlin - Tag & Nacht“ gescripted ist?

Es gibt keine wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse darüber, allerdings viele Thesen und Vermutungen. Die Forschungsfragen werden durch folgende Untersuchungsfragen präzisiert:

- Woran liegt es, wenn die Zuschauer nicht merken, dass „Berlin - Tag & Nacht“ gescripted ist?
- Wenn die Zuschauer merken, dass „Berlin - Tag & Nacht“ gescripted ist, warum schalten sie trotzdem ein?
- Ist der große Erfolg von „Berlin - Tag & Nacht“ ein Indiz dafür, dass die Zuschauer die Inszenierung nicht durchschauen?

Für die Rezeption von Scripted-Reality-Formaten gibt es explizit zwar keine wissenschaftlichen Erkenntnisse - abgesehen von Teil-Erkenntnissen, die z.B. aus der Ipsos-Studie4 stammen - allerdings für die Rezeption von Reality-TV-Formaten im Allgemeinen.

Außerdem zieht er einen Zusammenhang zwischen Sehgewohnheiten und Einstellungen. Schaut jemand gerne Scripted-Reality-Formate und hält sie für glaubwürdig, dann tendiert er eher dazu - in Bezug auf „Die Schulermitt- ler“ - mehr solcher Schulermittler zu fordern. Fraglich ist, ob Weiß mit „ger- ne sehen“ gleichzeitig auch eine häufige Rezeption solcher Formate verbin- det (vgl. NDR Presse und Information, 2011). Maya Götz hat in ihrer Untersuchung festgestellt, dass vor allem Wenigseher die Sendung viel häufiger als dokumentarisch eingestuft haben bzw. glauben, dass wahre Begebenheiten nachgestellt wurden (vgl. Götz et al., 2012).

Abgeleitet von diesen Erkenntnissen lässt sich folgende Hypothese spezifi- zieren:

H1: Für den Zuschauer ist das Geschehen in „Berlin - Tag & Nacht“ eine Orientierungshilfe für sein eigenes Leben.

Fritz Wolf hat bereits im Jahr 2000, als der zweite Reality-TV-Boom gerade startete, Vermutungen darüber angestellt, warum die Zuschauer so ein großes Interesse an Reality-TV-Formaten haben. Der Grund sei der „flexible Mensch“, der durch den individualisierten Kapitalismus entstanden sei. Die Welt entzieht sich dem Einzelnen immer mehr, der zunehmend Wechsel in Job und Lebensstil zu verkraften hat. Da wird der Wunsch nach Vergleich mit anderen größer:

Der individualisierte Kapitalismus erzeugt den ‚flexiblen Menschen’ [...] einen Menschen, den der Wunsch nach Selbstversicherung umtreibt. Der vielleicht mehr als je zuvor sich vergleichen muss und etwas wis- sen will davon, wie andere leben und wie sie mit all dem fertig werden. Das wäre das Interesse am Alltag. Aber: es muss so aussehen wie im Fernsehen (Wolf, 2000).

Jörn Krieger sieht Reality TV ebenfalls als Orientierungshilfe für die Zuschauer. Sie haben das Bedürfnis, Anhaltspunkte zu finden, um über ihr eigenes Leben reflektieren zu können, d.h. um herausfinden zu können, was richtig oder falsch ist. Wie auch schon Fritz Wolf angesprochen hat, fehle heutzutage der verbindliche Rahmen traditioneller Lebensformen. Krieger beschreibt Reality TV als Identitätsmarkt, auf dem der Zuschauer Identitätsmasken aus dem gesellschaftlichen Bestand nehmen - oder auch ablehnen könne (vgl. Krieger, 2002, S. 160ff).

Die über 25 Charaktere bei „Berlin - Tag & Nacht“5 verkörpern diesen „Identitätsmarkt“ durch ihre Vielfalt sehr gut. Somit liegt die Übertragung des geschilderten Phänomens - die Identifikation der Zuschauer mit den Charakteren - auf gescriptete Formate nahe.

Aus der ersten Hypothese lässt sich die zweite folgern, die den Umgang der Zuschauer mit den Charakteren spezifiziert:

H2: Für den Zuschauer ist bei der Rezeption von „Berlin - Tag & Nacht“ vor allem die Möglichkeit der parasozialen Interaktion mit den Darstellern wichtig.

Das Phänomen der parasozialen Interaktion mit Charakteren einer Fern- sehserie ist nicht neu. Angela Keppler charakterisiert parasoziale Interakti- on durch mittelbare und einseitige Kommunikation. Der Rezipient verglei- che sein eigenes Leben mit dem Leben der Serienfiguren, beurteile deren Handlungen und ziehe Konsequenzen für seine eigenen, d.h. er erweitere sein Handlungsrepertoire. Grundlage für den Abgleich mit den Serienfiguren sei immer die individuelle soziale Perspektive und Lebenserfahrung (vgl. Keppler, 1996, S. 12f).

Auch Christian Hißnauer beschreibt den konkreten Nutzen für den Zu- schauer aus der Möglichkeit der parasozialen Interaktion. Er könne sich und seinen sozialen Status vergleichen und habe gleichzeitig Vorbilder für die Bewältigung eigener Probleme. Dadurch wiederum entstehe die Illusion ei- ner face-to-face-Beziehung mit der oder den Serienfigur/en (vgl. Hißnauer, 2011).

Grundlage für die Möglichkeit der parasozialen Interaktion ist die Serialität eines Formats. „Berlin - Tag & Nacht“ ist so ein serielles Format, was aber nicht zwingend charakteristisch für gescriptete Sendungen ist. „Familien im Brennpunkt“ z.B. ist eine gescriptete Episodenserie. Aus dieser speziellen Charakteristik von „Berlin - Tag & Nacht“ ergibt sich die nächste Hypothese:

H3: Der feste Cast und der serielle Charakter von „Berlin - Tag & Nacht“ fördern die Identifikation des Zuschauers mit den Darstellern und unterstützen so deren Wahrnehmung als echtes, dokumentarisches Format.

„Berlin - Tag & Nacht“ lässt sich somit im Aufbau sehr gut mit Daily Soaps vergleichen. Vermutlich auch in der Wirkung.

Im Mai 2012 lief die 5000. Folge „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ - eine der wenigen Serien im deutschen Fernsehen, die schon so lange läuft und für die Zuschauer eine wichtige Konstante bildet. Auch bei „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ stellen die Charaktere einen Querschnitt der Gesellschaft dar, in dem es aber auch immer wieder Exoten gibt. Die Inhalte dieser Daily Soap liegen nah an der Lebenswirklichkeit der Zuschauer und bieten somit ein großes Identifikationspotential (vgl. Hein, 2012). Dies lässt sich auch auf

„Berlin - Tag & Nacht“ übertragen und somit liegt auch die Vermutung nahe, dass die ähnlichen Charakteristika auch ähnliche Wirkungen beim Zuschauer haben.

Der wohl größte Kritikpunkt an Scripted-Reality-Formaten ist die (fehlende) Etikettierung als fiktionales, erfundenes Programm. Jo Groebel hält eine Kennzeichnung grundsätzlich für wichtig, bezieht sich dabei aber auf Werbung als Vergleichsmaßstab, denn

„beim Werbefernsehen haben wir auch das Problem gehabt, dass Werbung nicht hinreichend gekennzeichnet wurde“ (Drozdowski, 2011).

Groebel glaubt aber, dass die Zuschauer sowieso einschätzen könnten, wenn es sich um gescriptete Formate handle und das Zuschauerinteresse grundsätzlich nicht beeinträchtigt werden würde (vgl. Drozdowski, 2011).

Allerdings ist eben noch nicht hinreichend geklärt, ob die Einschätzung der Zuschauer wirklich immer richtig ist, daher lautet eine weitere Hypothese:

H4: Die Zuschauer halten „Berlin - Tag & Nacht“ für ein echtes, dokumentarisches Format, weil eine eindeutige Etikettierung als Scripted Reality fehlt.

In der „Panorama“-Sendung über das „Lügenfernsehen“ wurde bemängelt, dass nicht alle Sender fragliche Sendungen als Scripted Reality kennzeich- nen (vgl. „Wie wirkt Scripted Reality? “, 2011). Eine besondere Stellung nimmt hierbei scheinbar das Format „Mitten im Leben“ ein, denn dies war am Anfang der Ausstrahlung6 noch dokumentarisch und wurde erst im Laufe der Zeit gescriptet. Eine klare Kennzeichnung fehlt allerdings (vgl. Kissler, 2009).

Nicht nur den Zuschauern, selbst den Landesmedienanstalten fällt es scheinbar schwer, Scripted-Reality-Formate richtig einzuordnen. Erst seit kurzem fallen diese Formate unter die Kategorie „Unterhaltung“. Vorrausetzung ist allerdings eine Kennzeichnung - „Mitten im Leben“ hat keine und fällt somit weiterhin unter die Kategorie „Publizistik“.

Die (Nicht-)Etikettierung ist sogar Thema in der Politik, so fordert der ehe- malige Bundesminister Christian Schwarz-Schilling eine klare Kennzeich- nung von Fiktion im Informationsprogramm (vgl. „Wie wirkt ’Scripted Reali- ty’?“, 2011).

Die Produzenten von Scripted-Reality-Formaten behaupten entweder, et- waige Hinweistafeln am Anfang oder Ende jeder Sendung würden ausrei- chen (vgl. NDR Presse und Information, 2011), oder sie halten eine Kenn- zeichnung für völlig unnötig (vgl. Günther, 2011). RTL-Pressesprecher Chri- stian Körner sagt:

Wir jedenfalls weisen unsere Nachrichten als Information aus, unser Nachmittagsprogramm als Unterhaltung. Ein Blick in die Programmlisten der AGF7 hätte genügt (Weiß/Ahrens, 2012, S. 81).

Ein Blick in die Programmstatistik der AGF zeigt allerdings, dass bis dato alle Scripted-Reality-Formate als Information ausgewiesen werden (vgl. Weiß/Ahrens, 2012, S. 81).

„Berlin - Tag & Nacht“ trägt einen Hinweis, dass die Inhalte gescriptet sind. Im Abspann steht (Min. 59 auf der im Anhang beigefügten DVD):

„Alle handelnden Personen sind frei erfunden“

Allerdings läuft parallel dazu, also auf der anderen Seite des Splitscreens, die Vorschau der nächsten Folge. Fraglich ist, auf welchen Teil des Bildes sich der Zuschauer konzentriert und für wie eindeutig sie diese Etikettierung halten.

Die fünfte Hypothese geht auf eine Entwicklung ein, die Thomas Lückerath als „besorgniserregend“ beschreibt, eine „neue Form der Gleichgültigkeit gegenüber dem, was Medien, Marken und Kommunikation versprechen“ (Lückerath, 2011).

H5: Den meisten Zuschauern ist es egal, dass „Berlin - Tag & Nacht“ gescripted ist.

Lückerath bezieht sich in seinem Artikel explizit auf „Berlin - Tag & Nacht“ und wundert sich über die Gruppe von Fans, „die wissen, dass hier alles in- szeniert ist und trotzdem großen Spaß an der Sendung haben“ (Lückerath, 2011).

Die Überprüfung der siebten Hypothese soll zeigen, ob den Zuschauern der Grad der Inszenierung tatsächlich egal ist oder nicht. Falls ja, wirft dies ein völlig anderes Licht auf die Forderung nach der Kennzeichnung gescripteter Formate.

Die Vermutung liegt nahe, dass Zuschauer, die gerne „Berlin - Tag & Nacht“ sehen, auch gerne andere Scripted-Reality-Formate einschalten. Darauf bezieht sich die sechste und letzte Hypothese.

H6: Menschen, die regelmäßig „Berlin - Tag & Nacht“ einschal- ten, sehen auch grundsätzlich viele Scripted-Reality-Formate.

Analysiert man die Nutzungsmotive und Rezeption der Zuschauer, muss man immer auch deren Umfeld im Hinterkopf haben. Jedes Sinus Milieu hat auch andere Sehgewohnheiten

Die Fallzahl dieser Masterarbeit ist allerdings nicht hoch genug, um einen Zusammenhang zwischen Sinus Milieu, Sehgewohnheiten und Nutzungs- motiven in Bezug auf Scripted-Reality-Formate aufzeigen zu können. Den- noch sollte im Folgenden kurz die Ipsos-Studie dargestellt werden, um ei- nen vollständigen Überblick über den momentanen Stand der Forschung geben zu können.

Die Studie des Marktforschungsinstituts Ipsos hat im Auftrag von der Redaktion von „Panorama“ und für deren Sendung über das „Lügenfernsehen“ eine repräsentative Online-Umfrage durchgeführt. Im Rahmen dieser Untersuchung wurden 1000 Zuschauern Ausschnitte aus „Die Schulermittler“ gezeigt, ohne zu kennzeichnen, dass das Format gescriptet ist.

Die Befragten fanden die Ausschnitte grundsätzlich realistisch und glaubwürdig, denn 49 % stimmten folgender Aussage zu:

„Situationen, wie sie im Beitrag gezeigt werden, passieren fast jeden Tag an deutschen Schulen.“

Die Mehrheit war sich zwar sicher, dass das Format gescriptet ist, dennoch waren immerhin 39 % unentschieden. 16 % glaubten, das Gezeigte sei dokumentarisch. Auffällig war außerdem, dass Zuschauer mit Hauptschulabschluss „Die Schulermittler“ viel eher als glaubwürdig und realistisch einschätzten (vgl. Ipsos-Studie, 2011).

Eine weitere interessante Studie hat Maya Götz in Kooperation mit der Ge- sellschaft zur Förderung des internationalen Jugend- und Bildungsfernse- hens e.V. und der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen durchge- führt.

Den Fokus ihrer Studie hat Maya Götz auf Kinder und Jugendliche gelegt. Sie hat insgesamt 861 Kindern und Jugendlichen zwischen sechs und 18 Jahren eine vollständige Sendung von „Familien im Brennpunkt“ gezeigt. In diesem Format wird zu Beginn und am Ende jeder Folge ein Hinweis eingeblendet, der die Sendung als Scripted Reality kennzeichnet.

Grundsätzlich nutzen Kinder und Jugendliche die Inhalte von „Familien im Brennpunkt“, um sie mit ihrer eigenen Erfahrungswelt abzugleichen. Den gescripteten Charakter der Sendung erkennen viele, aber nicht alle.

48 % glauben, das Format ist eine die Realität widerspiegelnde Sendung („Es spielen Schauspieler die Geschichten nach, die anderen schon passiert sind.“), 30 % glauben, die Realität werde dokumentiert („Es werden Familien im ganz normalen Alltag gefilmt.“) und insgesamt nur 22 % glauben, dass die Sendung komplett erdacht ist („Es denken sich die Leute vom Fernsehen diese Geschichten aus.“).

Wirklich verlässlich erkennen, dass es sich um ein gescriptetes Format handelt, können erst die älteren Jugendlichen - in dieser Untersuchung sind es die Oberstufenschüler/innen.

Maya Götz konnte insgesamt eine statistische Tendenz ausmachen: Jungen glauben häufiger als Mädchen, dass „Familien im Brennpunkt“ gescriptet ist und Jugendliche mit höherer Schulbildung erkennen dies häufiger als Schüler der Hauptschule (vgl. Götz et al., 2012).

Insgesamt lässt sich festhalten, dass es durchaus Unterschiede in der Ein- schätzung der Glaubwürdigkeit von Scripted-Reality-Formaten zwischen Geschlechtern, Altersklassen und Bildungsniveaus gibt. Dieser Umstand sollte bei der Auswertung der Antworten der Befragten dieser Abschlussar- beit bedacht werden.

4 Untersuchungsgegenstand

4.1 „Berlin - Tag & Nacht“

„Berlin - Tag & Nacht“ ist das derzeit beliebteste Scripted-Reality-Format im deutschen Fernsehen. Die Produktionsfirma filmpool produziert die Sendung, die werktags von 19 Uhr bis 20 Uhr auf RTLII ausgestrahlt wird.

RTLII selbst beschreibt die Sendung als „Realtainment“. Inhaltlich geht es in „Berlin - Tag & Nacht“ um folgendes:

„Berlin - Tag & Nacht" zeigt die aufregenden und spannenden Geschichten einer Wohngemeinschaft im szenigen Berlin.

Sie sind jung, sie lieben Berlin und sie wohnen in der coolsten WG der Hauptstadt. Zusammen erleben die WG-Bewohner Freude, Leid, Kummer & Glück. Immer neue und spannende Geschichten ranken sich um das Leben und die Träume der Wahl-Berliner.8

Die erste Folge von „Berlin - Tag & Nacht“ wurde am 12. September 2011 ausgestrahlt. Anfangs mit eher schwachen Quoten, steigerten sie sich von Folge zu Folge (vgl. Krei, 2012).

4.2 Begründung der Wahl des Untersuchungsgegen- stands

Die Wahl des Untersuchungsgegenstands fiel sehr schnell auf das Format „Berlin - Tag & Nacht“, weil es sich von anderen gescripteten Formaten un- terscheidet. Was sich für RTLII anfangs als Flop darstellte, entwickelte sich dann rasch zu einem Überraschungserfolg. Zu Beginn der Ausstrahlung im September 2011 erreichte die Serie lediglich einen Zuschaueranteil von 4,4 %. Der Juli 2012 ist bis jetzt mit 15,4 % Marktanteil der erfolgreichste Monat überhaupt (vgl. Mantel, 2012).9

Die Besonderheit von „Berlin - Tag & Nacht“, die sie von anderen Formaten wie „Familien im Brennpunkt“ unterscheiden, ist die Improvisation. Es gibt zwar vorgegebenen Szenen und Handlungen, aber es gibt kein exaktes Drehbuch (vgl. Pollmer, 2012 und Schader, 2012).

Als Grundlage für die Leitfaden-Interviews dient die Folge 160, die am zweiten Mai 2012 ausgestrahlt wurde. In dieser Folge sind drei Handlungsstränge miteinander verwoben. Ceylan ist aus Spanien zurückgekehrt, um Marcel wieder für sich zu gewinnen. Allerdings ist der nun mit Meike zusammen und macht Ceylan klar, dass sie nur Freunde sein können. Dann kommt es in einer Disco aber zu einem Kuss.

Joe beschließt, seiner Freundin Peggy einen außergewöhnlichen Heiratsan- trag zu machen.

Hanna ist nach wie vor in Tyler verliebt. Nachdem er sie aber abgelehnt hat, will sie sich beim Schlittschuhlaufen ablenken. Dann taucht Tyler aber mit seiner Verabredung auf.

5 Methodisches Vorgehen

Im folgenden Kapitel soll das methodische Vorgehen beschrieben werden. Dies beinhaltet einerseits die Wahl der Forschungsmethode sowie die Zielsetzung dieser ausgewählten Methode.

5.1 Wahl der Forschungsmethode

Diese Masterarbeit konzentriert sich auf die Rezeption der Zuschauer des Scripted-Reality-Formats „Berlin - Tag & Nacht“. Betrachtet bzw. abgefragt wurden Einschätzungen und Meinungen zweier Themenbereiche: Einerseits die Nutzungsmotive und andererseits die Einschätzung der Glaubwürdigkeit des Formats. Um die aufgestellten Forschungshypothesen belegen oder widerlegen zu können, wurden fokussierte Interviews innerhalb der qualitativen Sozialforschung durchgeführt.

Die Zuschauer wurden mithilfe eines Leitfadens in fokussierten Interviews zur Rezeption des Scripted-Reality-Formats „Berlin - Tag & Nacht“ befragt. Der Leitfaden wurde anhand theoretischer Grundlagen sowie bereits aufgestellter Forschungsfragen und -hypothesen entwickelt.

5.2 Qualitative Sozialforschung

Diese Masterarbeit basiert auf den Grundlagen der qualitativen Sozialforschung. Die quantitative Sozialforschung wurde bewusst nicht gewählt, da sie in der methodischen Vorgehensweise zu starr ist, um den Untersuchungsgegenstand bzw. die Rezeption der Zuschauer tief genug durchdringen zu können (vgl. Lamnek, 1995, S. 40f).

Siegfried Lamneks Beschreibungen folgend, will die Sozialforschung die soziale Wirklichkeit so unverfälscht wie möglich erfassen. Basis für diese Forschung, wie auch Basis für diese Masterarbeit, sind dabei Hypothesen und Forschungsfragen, die es zu klären gilt. Das Problem dabei: dadurch wird der quantitativen Methodologie gefolgt. Dieses Vorgehen wird durch den Vorwurf begleitet, dass Forscher weniger an der Wirklichkeit der Betrof- fenen interessiert seien, als an der bloßen Überprüfung der im Voraus auf- gestellten Hypothesen. Konkret heißt das, dass die - in Bezug auf diese Ab- schlussarbeit - Befragten keine Möglichkeiten hatten, auf die Fragen des Leitfadens Einfluss zu nehmen und dadurch eine andere, vermutlich reali- tätsnähere Richtung einzuschlagen. Damit Hypothesen dem Ziel der Sozi- alforschung so gerecht wie möglich werden können, müsste gewährleistet sein, dass die Vorkenntnisse des Forschers vollständig und realitätsgerecht sind. Um diese Distanz zu verringern, muss der Forscher seinen For- schungsprozess wie eine „zweite Sozialisation“ (Lamnek, 1995, S. 97) ge- stalten, in dem er die zu untersuchende Welt so kennenlernt, wie er seine eigene Welt erfahren hat. In diesem konkreten Fall heißt das, dass die For- scherin im Vorfeld ihrer Recherchen viele Folgen „Berlin - Tag & Nacht“ ge- sehen hat, um mit der Geschichte und den Charakteren vertraut zu werden (vgl. Lamnek, 1995, S. 96ff).

Die qualitative Sozialforschung eignet sich für die Zielsetzung dieser Ma- sterarbeit ohne Zweifel besser als die quantitative, beinhaltet aber auch Schwierigkeiten. Heterogene Vorgehensweisen sind für die qualitative Sozi- alforschung charakteristisch, die Methoden, die es gibt, liegen einerseits auf unterschiedliche Ebenen, andererseits zeigt jede von ihnen einen jeweils spezifischen Ausschnitt aus der Realität (vgl. Lamnek, 1995, S. 39).

Dennoch überwiegen die Vorteile gegenüber der quantitativen Sozialfor- schung: Soziales Leben läuft nicht nach bestimmten Regelmäßigkeiten ab, der Mensch ist nicht bloß zu untersuchendes Objekt und seine sozialen Handlungen lassen sich auch nicht vollständig durch quantitative und damit standardisierte Methoden erfassen.

Ziel, sowohl der qualitativen Sozialforschung, als auch dieser Masterarbeit, ist die Erforschung des subjektiv gemeinten Sinns von Handlungen (vgl. Lamnek, 1995, S. 40).

Um soziales Handeln als sinnhaftes Handeln zu erforschen, müssen die Bedeutungen der verwendeten Symbole (und insbesondere der Sprache als dem wichtigsten Symbolsystem) bekannt sein, die ganz wesentlich vom jeweiligen situativen Kontext (Indexikalität) abhängen (Lamnek, 1995, S. 40).

Das bedeutet also, dass Reflexivität ein wichtiger Bestandteil des Forschungsprozesses ist, der den Sinn von Handlungen und ihren Kontext verständlich macht. Dies wiederum ist für die Auswertung und Interpretation der Ergebnisse wichtig, da der Kontext Antworten erst verständlich macht (vgl. Lamnek, 1995, S. 25).

5.2.1 Das fokussierte Interview

Das fokussierte Interview ist eine Form des qualitativen Interviews und wird von Armin Scholl auf einer Ebene mit dem problemzentrierten Interview be- schrieben. Grundlage für das fokussierte Interview ist ein Leitfaden, der mit einer offenen Narration kombiniert wird. Anders als bei einem rein narrati- ven Interview können Einstellungen, Meinungen und Motive abgefragt wer- den.

Scholl beschreibt das wichtigste Alleinstellungsmerkmal wie folgt:

Das von Merton und Kendall 1946/47 für die Kommunikationsforschung und Propagandaanalyse entwickelte fokussierte Interview benutzt ebenfalls eine offene Interviewform, stellt aber der eigentlichen Befragung einen vorab bestimmten Gesprächsgegenstand oder Gesprächsanreiz voran (Scholl, 2009, S. 74).

In diesem Fall besteht der Gesprächsanreiz aus einer bestimmten Folge von „Berlin - Tag & Nacht“, auf die sich das folgende Interview dann unter anderem bezieht. Das Interview selbst besteht aus offenen gerichteten Fra- gen, die den Erzählstrang unterstützen sollen. Komplett durchstrukturiert soll das fokussierte Interview allerdings nicht sein, der Interviewer soll und muss selbst entscheiden, wann er interveniert und den Befragten z.B. dar- um bittet, mehr in die Tiefe zu gehen. Scholl rät, neue Themen erst anzu- sprechen, wenn der Befragte den aktuellen Aspekt erschöpfend behandelt hat, denn es besteht die Gefahr, dass der Erzählfluss bei einer zu frühen In- tervention gehemmt wird, oder andererseits der richtige Zeitpunkt dafür verpasst wird (vgl. Scholl, 2009, S. 74ff).

Nach Merton/Kendall gibt es vier Kriterien für die Durchführung fokussierter Interviews:

Nichtbeeinflussung der Interviewpartner, Spezifität der Sichtweise und Situationsdefinition aus deren Sicht, Erfassung eines breiten Spektrums der Bedeutung des Stimulus sowie Tiefgründigkeit und personaler Bezugsrahmen aufseiten des Interviewten (vgl. Merton/ Kendall, 1979, S. 178, zit. in Flick, 2002, S. 118).

Die Vorteile des fokussierten Interviews, also die Kombination aus Offenheit und gleichzeitiger Fokussierung, entsprechen den Grundlagen der qualitativen Sozialforschung. Damit eignet sich das fokussierte Interview als Methode am besten für diese Masterarbeit.

Zusammengefasst soll die Methode des fokussierten Interviews garantie- ren, dass der Befragte ausführlich antworten und Gründe für seine Ansich- ten und Meinungen und somit seinen Kontext erläutern kann (vgl. Scholl, 2009, S. 75f).

Nach Siegfried Lamnek ist der Sinn der Methode des fokussierten Inter- views - anders als in der strengen qualitativen Sozialforschung - nicht die Generierung von Hypothesen, sondern deren Falsifikation. Das Ziel der Me- thode in Bezug auf die Hypothesen soll deshalb sein, sie neu zu betrachten:

„Die formulierten Hypothesen sollen in Konfrontation mit der sozialen Reali- tät getestet werden“ (Lamnek, 200, S. 369).

Als Resultat aus diesem Test an der Wirklichkeit müssen die Hypothesen ggf. verworfen oder modifiziert werden (vgl. Lamnek, 2005, S. 369f).

Lamnek bietet auch ein allgemeines Schema zur Auswertung qualitativer Interviews. In vier Phasen soll sich dem Material genähert werden.

Phase 1: Transkription

Das Material, das mittels eines Audiogeräts aufgezeichnet wurde, muss verschriftlicht, also transkribiert werden. Wichtig dabei und nicht vergessen werden dürfen nonverbale Aspekte wie Lachen, sich räuspern, kurze oder lange Pausen. Ebenfalls wichtig in dieser ersten Phase ist die Aufnahme der sozialstatistischen Daten.

Phase 2: Einzelanalyse

Das sehr umfangreiche Material muss in dieser Phase konzentriert werden. Dafür werden zentrale Passagen hervorgehoben und die wichtigsten Textteile berücksichtigt, um nachher einen komprimierten Text als Grundlage für die weitere Auswertung zu haben.

Phase 3: Generalisierende Analyse

In der dritten Phase ist das Ziel, anhand der Suche nach Gemeinsamkeiten zu allgemeinen Erkenntnissen zu gelangen. Allerdings geht es nicht um eine Homogenität der Erkenntnisse, die Differenzen sind genauso wichtig und müssen analysiert werden.

Phase 4: Kontrollphase

Die Reduktion des Materials im zweiten Auswertungsschritt ist fehleranfäl- lig, deswegen empfiehlt sich als letzten Schritt eine Kontrollphase (vgl. Lamnek, 2005, S. 402ff).

5.3 Kritische Hermeneutik

Hermeneutik - die „Kunstlehre des Verstehens“ (Hauff, 1971, S. 7) - dient in dieser Masterarbeit sowohl als Forschungsansatz, als auch als Methode.

Der Begriff Hermeneutik leitet sich ab vom griechischen ‚hermeneu- ein’ (= aussagen, auslegen, übersehen) und gibt einen Hinweis darauf, dass es sich um eine Wissenschaft handelt, die sich mit der Ausle- gung (z.B. von Texten) befasst, ohne darauf beschränkt zu sein (Lam- nek, 1995, S. 71).

Laut Siegfried Lamnek ist das Verstehen selbst der Untersuchungsgegen- stand in der Hermeneutik. Dies bezieht sich auf das Erfassen menschlicher Verhaltensäußerungen und Produkte. In diesem Fall wird das Scripted- Reality-Format „Berlin - Tag & Nacht“ bzw. die Rezeption dieses Formats - in Form von Antworten innerhalb des fokussierten Interviews - als im her- meneutischen Sinne menschliche Verhaltensäußerung verstanden.

Hermeneutik als Forschungsansatz bezieht sich in dieser Arbeit auch auf das Verständnis von Schleiermacher, dem Begründer der Hermeneutik, der zwei Formen des Verstehens unterscheidet:

1. grammatisches Verstehen - die unmittelbare sprachliche Interpreta- tion
2. psychologisches Verstehen - die Identifikation mit dem Anderen, um aus dessen Sicht das Verstehende zu erfassen

Durch diese beiden Formen des Verstehens soll laut Schleiermacher die hermeneutische Differenz überwunden werden. Sie beschreibt die Differenz zwischen dem Gesagten und dem Verstandenen.

Die Hermeneutik als Methode wird durch die Anwendung des hermeneutischen Zirkels verstanden, der als Hilfe beim Verstehen dient.

Um sich einem Untersuchungsgegenstand und einer Problematik über- haupt sinnvoll nähern und diese durchdringen zu können, muss man sich des eigenen Vorverständnisses gewahr werden. Dies ist die Voraussetzung, um einen Text überhaupt verstehen zu können.

Durch das Verstehen des Textes wird das Vorverständnis erweitert, sodass mit dem erweiterten Vorverständnis der Text besser verstanden werden kann. Dieser Zirkel wird so lange fortgeführt, bis die Differenz so gering wie möglich ist. Eine vollkommene Übereinstimmung zwischen dem Verste- henden und dem vom Autor Gemeinten ist aber kaum möglich (vgl. Lam- nek, 1995, S. 71ff).

6 Untersuchung

6.1 Fokussiertes Interview

Das Zentrum dieser Arbeit bildet das fokussierte Interview. Die Zuschauerrezeption des Scripted-Reality-Formats „Berlin - Tag & Nacht“ wurde mittels fokussierter Interviews untersucht. Dazu wurde ein Leitfaden erstellt, der zwei Themenbereiche abdeckt: Die Nutzungsmotive der Zuschauer sowie deren Einschätzung der Glaubwürdigkeit des Formats. In den nächsten Kapiteln werden die einzelnen Forschungsschritte beschrieben, von der Entwicklung des Leitfadens, über die Auswahl der Befragten bis zur Auswertung und Zusammenfassung der Ergebnisse.

6.1.1 Entwicklung des Interviewleitfadens

Die Fragen, die im Fragebogen vorkommen, gleichen niemals den Forschungsfragen. Der Schritt, der zwischen den Forschungsfragen und der Formulierung von Fragen für den Leitfaden steht, ist die Operationalisierung, d.h. theoretische Konzepte müssen in empirische Instrumente übersetzt werden (vgl. Scholl, 2009, S. 145).

[...]


1 Angeblich basiert die Sendung „Die Schulermittler“ auf RTL auf wahren Begebenheiten (vgl. Hißnauer, 2011, S. 365).

2 Bestes Beispiel ist hier „Mitten im Leben“: Zu Beginn war das Format eine Doku-Soap, mittlerweile wird dem Format eine zunehmende Fiktionalisierung unterstellt. Eine Kenn- zeichnung, ob es sich nun um echte oder gespielte Geschichten handelt, gibt es nicht. Vgl. auch Kapitel 3.

3 So auch „Berlin - Tag & Nacht“.

4 Die Ipsos-Studie zeigt, dass die Befragten teilweise Probleme haben, Scripted-Reality- Formate (in der Studie war es „Die Schulermittler“) als gespielt zu identifizieren. Die meisten halten die Handlungen zumindest für realistisch.

5 In der Serie herrscht eine große Fluktuation. Viele Charaktere - wie Ceylan - verschwinden für einige Zeit, tauchen dann aber wieder für ein paar Folgen auf.

6 Das Format läuft seit 2008 im Nachmittagsprogramm von RTL.

7 Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung

8 http://www.rtl2.de/83646.html, abgerufen am 30.06.2012

9 Stand: 06.07.2012

Ende der Leseprobe aus 202 Seiten

Details

Titel
Eine Rezeptionsuntersuchung zur Scripted-Reality-Show "Berlin - Tag & Nacht"
Hochschule
Hochschule Hannover
Veranstaltung
Fernsehjournalismus
Note
1,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
202
Katalognummer
V211809
ISBN (eBook)
9783656395423
ISBN (Buch)
9783656396451
Dateigröße
1152 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
alle, personen, eine, rezeptionsuntersuchung, scripted-reality-formaten, beispiel, berlin, nacht
Arbeit zitieren
Maximiliane Plöger (Autor:in), 2012, Eine Rezeptionsuntersuchung zur Scripted-Reality-Show "Berlin - Tag & Nacht", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/211809

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