Ein Toleranzartikel für die Bundesverfassung der Schweiz?

Darstellung und Bewertung des Vorschlags von J.P. Müller und D. Thürer


Bachelorarbeit, 2010

30 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Materialienverzeichnis

1 Einleitung

2 Ein Toleranzartikel zur Deeskalation religiöser Konflikte
2.1 Entstehungshintergrund des Toleranzartikels – das Minarettverbot
2.2 Religiöse Toleranz und Säkularisierung
2.3 Der Islam als Antithese zur freiheitlichen Gesellschaft?

3 Kritische Würdigung des Vorschlags
3.1 Toleranzbegriff und Auslegungsmethoden
3.2 Bestehende Normen zu Religionsfreiheit und Nichtdiskriminierung
3.3 Inhalt und Auslegung des Toleranzartikels
3.4 Problemkonstellationen bei der Anwendung des Toleranzartikels
3.5 Toleranzartikel statt Minarettverbot?

4 Schlussfolgerungen

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Literaturverzeichnis

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Wehrli, Christoph Paradoxe Rufe nach mehr Staat in der Religion, in: NZZ vom 28.06.2010, zit. Wehrli, Rufe

Derselbe Klares, aber vieldeutiges Nein zu Minaretten, in: NZZ online vom 29.11.2009, abrufbar unter http://www.nzz.ch/nachrichten/schweiz/minarett_initiative_hochrechnung_annahme_1.4079737.html, Stand 02.08.2010, zit. Wehrli, Minarette

Winzeler, Christoph Das Verhältnis von Religionen und Staat in rechtlicher Sicht, in: Könemann, Judith/Vischer, Georg, Interreligiöser Dialog in der Schweiz (Hrsg.), Zürich 2008, zit. Winzeler, Verhältnis

Materialienverzeichnis

Die Bundesversammlung Postulat – Neuer Religionsartikel in der Bundesverfassung http://www.parlament.ch/d/suche/seiten/geschaefte.aspx?gesch_id=20103162, Stand 16.07.2010

1 Einleitung

In dieser Arbeit sollen der Inhalt und die möglichen Auswirkungen der von den Rechtsprofessoren Jörg Paul Müller und Daniel Thürer vorgeschlagenen Auf-nahme eines Toleranzartikels in die Bundesverfassung im Austausch für das Minarettverbot in Art. 72 Abs. 3 BV analysiert werden.[1] Im zweiten Kapitel werden zunächst der unmittelbare Auslöser für den Vorschlag (die Minarettabstimmung) und die gesetzliche Ausprägung der Religions- und Diskriminierungsfreiheit in der Schweiz vor dem Hintergrund offizieller Neutralität und Toleranz kurz geschildert. Da sich das Minarettverbot konkret auf den Islam bezieht, werden die gesellschaftlich-kulturellen Bedingungen, auf die der Islam in Europa trifft, näher beleuchtet.

Im Hauptteil der Arbeit (Kapitel 3) werden die einzelnen Elemente des Artikeltextes mithilfe der juristischen Auslegungsmethoden kritisch analysiert. Dazu werden die davon betroffenen Artikel in der BV bzw. der EMRK hinsichtlich ihrer Schutzbereiche und ihrer Bedeutung anhand von Urteilen des Bundesgerichts und des EGMR detailliert betrachtet. In der BV sind dies vor allem Art. 15 (Glaubens- und Gewissensfreiheit), Art. 8 Abs. 2 (Diskriminierungsverbot), Art. 35 (Verwirklichung der Grundrechte) und Art. 72 (Kirche und Staat); in der EMRK sind Art. 9 (Religionsfreiheit) und Art. 14 (Diskriminierungsverbot) relevant. Es wird untersucht, in welchen Konstellationen die im Toleranzartikel genannten Elemente, wie rituelle Kleidung, Symbole, Kundgebungen und Bauwerke, in der Praxis auftreten und Diskussionsbedarf hervorrufen können und wie bislang damit umgegangen wurde. Dann wird beurteilt, wie eindeutig der Vorschlagstext ist bzw. in wieweit er ausgelegt werden müsste und zu Unklarheiten und Rechtsstreitigkeiten führen könnte. Mögliche Auslegungstendenzen von behördlicher und gerichtlicher Seite werden herausgear-beitet. Anschliessend wird das Verhältnis des Vorschlagstextes zu den bestehenden Artikeln der BV und der EMRK und deren bisherige Auslegung durch das Bundesgericht und den EGMR untersucht. Die Vor- und Nachteile der bestehenden im Vergleich zu den vorgeschlagenen Regelungen werden aus juristischer Sicht aufgezeigt. Auch der Konflikt mit den kantonalen Kompetenzen in den Bereichen Raumplanung und Religion wird thematisiert. Es folgen Überlegungen zur Durchsetzbarkeit des geltenden Minarettverbots auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten und den möglichen Folgen, zum Minderheitenschutz und zum Wesen der Demokratie. Abschliessend findet eine gesamthafte Beurteilung der Sinnhaftigkeit des Toleranzartikels aus juristischer und nichtjuristischer Sicht statt.

2 Ein Toleranzartikel zur Deeskalation religiöser Konflikte

Religiöser Pluralismus in Europa ist eine Erscheinung nicht erst der letzten Jahrzehnte, sondern der letzten Jahrhunderte. Seit dem Frühen Mittelalter befinden sich die monotheistischen Religionen Christentum und Islam in Konflikten, die von Eroberung, Rückeroberung, zeitweiliger Toleranz und plötzlichen Gewaltausbrüchen gekennzeichnet sind. Beginnend mit der Eroberung Südspaniens im Jahre 711 durch die Araber waren einzelne Regionen Europas gezwungen, sich mit dem Islam als Religion, Kultur und Machthaber auseinander zu setzen.[2] Die Ausbreitung des Osmanischen Reichs, die in der Eroberung von Teilen des Balkans und schliesslich im Fall Konstantinopels 1453 gipfelten, sind weitere Eckpunkte der Geschichte, deren Folgen bis heute andauern (Jugoslawien-Krieg in den 1990er Jahren). Innerhalb des Christentums traten im Nachgang zur Reformation blutige Kriege zwischen den Angehörigen der christlichen Konfessionen auf, die mittels Toleranzedikten bewältigt werden mussten.[3] Die innerchristlichen Konflikte sind in der Schweiz heute beigelegt, die Zuwanderung von Menschen nichtchristlicher Religionen stellt dagegen neue Herausforderungen an Politik und Rechtsprechung. Toleranz und religiöse Neutralität des Staates scheinen daher im Hinblick auf das enge Zusammenleben verschiedener Religionsgemeinschaften in der Schweiz und in Europa ein unerlässliches Mittel, um kriegerische Auseinandersetzungen zu verhindern.

2.1 Entstehungshintergrund des Toleranzartikels – das Minarettverbot

Am 29.11.2009 wurde die Minarettinitiative von Volk und Ständen deutlich angenommen. Die BV wurde daraufhin um Art. 72 Abs. 3 ergänzt, der den Bau neuer Minarette untersagt.[4] Nach der Abstimmung wurde die im Vorfeld geführte kontroverse Diskussion weiterverfolgt. Debattiert wird darüber, ob die Initiative zur Abstimmung hätte zugelassen werden dürfen, welche Bedeutung und Auswirkungen die Annahme haben wird sowie ob das Verbot im Rahmen der verfassungsrechtlichen und völkerrechtlichen Bestimmungen überhaupt umsetzbar ist.[5] Für die Baugesuchsteller bleibt vorerst nur der Weg durch die Instanzen bis zum Bundes-gericht. Anschliessend wäre eine Klageeinreichung beim EGMR möglich.[6] Da bis zur Entscheidungsfindung mehrere Jahre verstreichen könnten, formulierten die Rechtsprofessoren Jörg Paul Müller und Daniel Thürer im Dezember 2009 bereits einen Verfassungstext, der Art. 15 BV ergänzen und Art. 72 Abs. 3 BV ersetzen soll. Den Grund für das unverzügliche Handeln sehen Müller/Thürer in der Verletzung der Religionsfreiheit und der Diskriminierung von Muslimen durch den neuen Verfassungsartikel, der im Widerspruch zu BV und EMRK stünde. Mittels einer neuen Initiative zugunsten ihres sogenannten Toleranzartikels könne das Ansehen der Schweiz im In- und Ausland wieder gesteigert und Schaden abgewandt werden.[7]

2.2 Religiöse Toleranz und Säkularisierung

Im Zuge von Reformation, Aufklärung und wissenschaftlich-technischer Entwicklung wurde der Einfluss der christlichen Kirchen auf Staat und Gesellschaft in den vergangenen Jahrhunderten in Europa immer weiter zurückgedrängt. Religiosität wurde weitgehend zur Privatsache.[8] In der Schweiz verpflichtet sich der Staat zu religiöser und weltanschaulicher Neutralität. Es muss der gleiche Massstab für alle Religionsgemeinschaften angewandt werden. Begründet wird dies mit Art. 8 Abs. 2 (Diskriminierungsfreiheit) und Art. 15 (Glaubens- und Gewissensfreiheit) der BV sowie der Religions- und Diskriminierungsfreiheit in Art. 9 bzw. 14 der EMRK.[9] Das Neutralitätsgebot gilt jedoch nicht absolut. So beginnt die Präambel der BV mit „Im Namen Gottes des Allmächtigen“. Die christliche Symbolik muss nicht aus allen Wappen, Fahnen oder Strassennamen entfernt werden. Auch darf der Staat einigen Religionsgemeinschaften die öffentlich-rechtliche Anerkennung gewähren, aber eine Gleichsetzung des Staates mit einer Religion ist nicht gestattet.[10] Eine Volksinitiative zur vollständigen Trennung von Kirche und Staat auf Bundesebene wurde 1980 abgelehnt. Nur in Genf und Neuenburg sind Kirche und Staat weitgehend getrennt, in den übrigen Kantonen geniessen die christlichen Konfessionen deutliche Privilegien.[11] Die infolge der Minarettabstimmung eingesetzte Diskussion um Religion, Werte und Toleranz hat Ansätze zur Lösung des Konflikts von christlichen Parteien, Organisationen und Verbänden hervorgebracht. Die EVP plante die Lancierung einer Volksinitiative, verzichtete aber nach der Vernehmlassung darauf.[12] Auch die CVP brachte ein Postulat in den Nationalrat ein, einen Religionsartikel zu formulieren, der die Regelungen zur Religionsfreiheit präzisieren und Art. 72 BV ersetzen solle.[13] Daran wird deutlich, dass kein gesellschaftlicher Konsens darüber besteht, welche Rolle die christliche Religion künftig spielen soll, ob eine weitere Säkularisierung zu befürworten ist oder das Christentum Leitkultur bleiben soll. Unbekannt ist dabei oft, dass viele positiv wahrgenommene Aspekte des modernen Lebens der frühchristlichen Tradition entspringen, so z.B. die Trennung von Kirche und Staat, die Armen- und Krankenfürsorge (Caritas) unabhängig von Stand und Religion und die Konsensehe. Ebenso ist der Vorrang staatlichen Rechts für die christlichen Kirchen selbstverständlich. Diese Grundsätze sind dem Islam wesensfremd. Andererseits muss ein säkularer Staat kein religionsloser Staat sein, wie man am Beispiel der USA sieht, wo die verschiedenen Kirchen gesellschaftlich stark organisiert sind und auch politisch Einfluss nehmen.[14]

2.3 Der Islam als Antithese zur freiheitlichen Gesellschaft?

Der Islam, wie er heute in vielen Ländern praktiziert wird, enthält aus europäischer Sicht vieles, was dem Gleichheitsgebot und der Religionsfreiheit wie sie in BV und EMRK geregelt sind, widerspricht. Da sich die Ausbreitung des Islam in Nordafrika und Teilen Südeuropas in relativ kurzer Zeit vollzog und eine zentrale Instanz wie z.B. der Papst fehlt, ist die Bandbreite, wie der Islam gelebt wird, sehr gross. Zudem ist die islamische Kultur angreifbar für sogenannte Fundamentalisten oder Rechtgläubige, wodurch bei vielen Europäern Ängste geschürt werden. Viele Muslime befinden sich auf Identitätssuche zwischen Orient und Okzident. Einerseits möchten sie Teil der modernen europäischen Gesellschaft sein, andererseits gelingt es vielen aufgrund ihrer Ausbildung oder kulturellen Einbindung nicht. Ein entstandenes Minderwertig-keitsgefühl wird mittels der Berufung auf den reinen Islam überkompensiert, wodurch es in ein Überlegenheitsgefühl umschlagen kann. Aggressivität kann entstehen, wenn die tatsächlichen Lebensumstände diesem nicht standhalten. Aus Sicht der schweizerischen Gesellschaft bietet die islamische Kultur auf den ersten Blick wenig Impulse zur gesellschaftlichen Erneuerung. Am meisten Anstoss erregen wohl die Rolle der Frau, der Aufruf zum Heiligen Krieg (Djihad) und eventuell noch die Tierschutzproblematik (Schächten).

Zwar kann man auch in der Schweiz Probleme wie Werteverlust, Materialismus, Drogenkonsum beklagen, aber hierfür hat der Islam keine adäquaten Lösungs-ansätze. Der Begriff Toleranz drückt die Beziehung zwischen christlicher/atheistischer Bevölkerung und Muslimen daher grundsätzlich gut aus, da tolerieren bedeutet, aus Nützlichkeitserwägungen oder humanitären Gründen etwas hinzunehmen, was man nicht gutheisst.[15]

3 Kritische Würdigung des Vorschlags

Im Kommentar zu ihrem Vorschlag nehmen Müller/Thürer hinsichtlich ihrer Motivation deutlichen Bezug auf die Minarettabstimmung. Der Artikeltext selbst verzichtet auf die Erwähnung von speziell muslimischen Bräuchen und Sitten und vermeidet damit die Diskriminierung einer Religionsgemeinschaft. Eine allgemeine, auf das Grundsätzliche ausgerichtete Norm wäre nach Ansicht von Müller/Thürer auch formell verfassungstauglicher als das klare und unmissverständliche Minarett-verbot. Die Aufhebung des Verbots mittels einer neue Initiative wäre aus Sicht der Verfasser wegen der zeitlichen Nähe zur Abstimmung inadäquat. Stattdessen solle das Minarettverbot durch den von ihnen vorgeschlagenen Toleranzartikel ersetzt werden, da dieser den Befürchtungen der Befürworter der Initiative ausreichend Rechnung trage.[16] Auf welchem Weg dieser Austausch von Verfassungsartikeln ohne Volksabstimmung stattfinden könnte, lassen die Autoren allerdings offen. Die Rechtfertigung für einen Ersatz der rechtsgültig zustande gekommenen Verfassungsänderung ziehen Müller/Thürer daraus, dass auch demokratische Entscheide fehlerhaft sein können und daher korrigiert werden müssen, um Verstösse gegen die Menschenrechte zu verhindern.[17]

3.1 Toleranzbegriff und Auslegungsmethoden

Der Begriff der Toleranz zeichnet sich im Allgemeinen durch mehrere Kriterien aus. Zum einen muss das tolerierte Verhalten als schlecht oder schädlich angesehen werden, Gleichgültigkeit oder Anerkennung widersprechen dem Sinn von Toleranz. Zweitens werden die Verhaltensweisen zwar als negativ beurteilt, aber nicht als so negativ, dass sie vollkommen inakzeptabel sind. Drittens muss es eine definierte Grenze des Tolerierbaren geben.[18] Tolerant sein kann man nur gegenüber einer nicht-existenziellen Bedrohung. Sie ist eine freiwillig erbrachte Leistung, für die Dankbarkeit erwartet wird und die bei Ausbleiben des Wohlverhaltens entzogen werden kann.[19] In Gesetzestexten wird der Begriff der Toleranz sparsam verwandt, da er keinen konkreten Anspruch des Einzelnen gegenüber dem Staat oder anderen Privaten darstellt. In der BV und der EMRK taucht er nicht auf.

Da der Artikeltext unbestimmte Rechtsbegriffe verwendet, bedarf er der Auslegung. Die Auslegung von Normen kann notwendig werden, wenn die Bedeutung einer Formulierung nicht unmissverständlich klar ist. Dann müssen Sinn und Zweck einer Norm erst durch Auslegung ermittelt werden. Gerade das Verfassungsrecht bedarf aufgrund seiner Abstraktheit und Grundsätzlichkeit der Konkretisierung. Die Auslegung ist dabei ein Instrument zur Rechtsfortbildung.[20]

Ausgangspunkt jeder Auslegung ist der Wortlaut einer Bestimmung (grammatikalische Auslegung). Falls der Text nicht eindeutig und auf verschiedene Arten interpretierbar ist, muss unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente und -regeln nach dem wahren Rechtssinn gesucht werden. Heranzuziehen sind dabei in erster Linie die Entstehungsgeschichte der Norm, ihr Sinn und Zweck sowie die Bedeutung, die der Norm im Kontext mit anderen Bestimmungen zukommt. Die Gesetzesmaterialien können dabei als Hilfsmittel dienen, um den Sinn der Norm zu erkennen.[21]

Die systematische Auslegung ist Ausdruck der Vorstellung, dass die Rechtsordnung im Ganzen sinnvoll und systematisch aufgebaut und widerspruchsfrei ist.[22] Eine besondere Bedeutung kommt dabei der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen aller Stufen[23] sowie der völkerrechtskonformen Auslegung des Landes-rechts zu. Die schweizerische Rechtsprechung muss sich an den Bestimmungen des Völkerrechts, vor allem an der EMRK, ausrichten, auch wenn diese im Widerspruch zum Landesrecht steht.[24]

Die teleologische Auslegung stellt die Bedeutung einer Norm nach ihrem Ziel, also ihrem Sinn und Zweck fest. Die Norm wird in Zusammenhang mit den objektivierten Zielvorstellungen des Gesetzgebers gebracht, wobei der zeitgemässe Zweck vom historischen Zweck abweichen kann, es kann demnach eine Weiterentwicklung stattfinden. Zentraler Anknüpfungspunkt bleibt jedoch der Wortlaut des Gesetzes-textes, von dem nur in eng begrenzten Ausnahmefällen abgewichen werden darf.[25] Es besteht keine Vorrangigkeit einer Methode, sondern die Methoden werden nebeneinander berücksichtigt, um zu einem vernünftigen und praktikablen Ergebnis zu kommen.[26]

3.2 Bestehende Normen zu Religionsfreiheit und Nichtdiskriminierung

In seiner bisherigen Form garantiert Art. 15 BV die Glaubens- und Gewissensfreiheit, auch Religionsfreiheit genannt. Diese „schützt das Recht, eine religiöse Überzeugung zu haben, zu äussern, zu verbreiten oder zu praktizieren oder gemäss einer religiösen Überzeugung zu handeln. Dazu gehört auch das Recht, einer bestimmten Konfession oder Religionsgemeinschaft anzugehören oder nicht anzugehören, ebenso die Freiheit, die Konfession oder Religionsgemeinschaft zu wechseln.“[27] Die Religions-freiheit beinhaltet demnach die innere Freiheit, zu glauben und die äussere Freiheit, sein Leben nach seinen religiösen Überzeugungen zu gestalten.[28] „Davon erfasst werden grundsätzlich alle Arten von Vorstellungen über die Beziehung des Menschen zum Göttlichen beziehungsweise zum Transzendenten. Das Glaubensbekenntnis muss allerdings eine gewisse grundsätzliche, weltanschauliche Bedeutung erlangen, somit einer Gesamtsicht der Welt entsprechen; das heisst, dass mit dem Glaubensbekenntnis eine religiös fundierte, zusammenhängende Sicht grundlegender Probleme zum Ausdruck zu gelangen hat.“[29]

Freiheitsrechtseinschränkungen sind bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 36 BV zulässig. Diese sind eine gesetzliche Grundlage, ein öffentliches Interesse oder der Schutz von Grundrechten Dritter und Verhältnismässigkeit. Der Kerngehalt der Grundrechte ist unantastbar. Das Bestehen eines öffentlichen Interesses ist dabei das am wenigsten objektivierbare Kriterium. Dieses umfasst polizeiliche Interessen, wie die Herstellung von Ruhe, Sicherheit und Ordnung, aber auch Umweltschutz.[30]

Damit in Zusammenhang steht Art 8 Abs. 2 BV, der im Rahmen des Rechtsgleichheitsgebots die Diskriminierung, namentlich wegen Herkunft, Rasse, Geschlecht, Alter, Sprache, sozialer Stellung, Lebensform, religiöser, weltanschau-licher oder politischer Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung verbietet. Dies betrifft die Rechtssetzung und Rechtsanwendung.[31] Diskriminierung ist die rechtsungleiche Behandlung eines Menschen wegen des Vorhandenseins eines der genannten Merkmale. Die Anknüpfung an ein Merkmal ist jedoch zulässig, um Schutz- und Förderungs-massnahmen für bestimmte Gruppen zu ergreifen. Dabei sind Benachteiligungen wegen des Alters oder der Sprache unter bestimmten Umständen zu rechtfertigen, die Andersbehandlung wegen der Rasse dagegen völlig unzulässig.[32] Das Rechtsgleichheitsgebot ist die Grundlage zur Verwirklichung der Freiheitsrechte und der Demokratie.[33]

Auch auf europäischer Ebene bestehen Regelungen zu Religions- und Diskriminie-rungsfreiheit. Art. 9 Abs. 1 EMRK gewährleistet die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Diese beinhaltet das Recht, seine Religion oder Weltanschauung frei zu wählen, zu wechseln und zusammen mit anderen auszuüben. Nur die Ausübungs-freiheit darf staatlicherseits beschränkt werden, wenn die Einschränkungen gesetzlich vorgesehen sind, einen der in Abs. 2 genannten Zwecke (öffentliche Sicherheit und Ordnung, Gesundheit und Moral, Schutz der Rechte und Freiheiten anderer) erfüllen und wenn sie in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind. Die Abwägung, ob eine Massnahme notwendig ist, kann von Staat zu Staat unterschiedlich sein, der EGMR prüft bei Anrufung jedoch Notwendigkeit und Verhältnismässigkeit der staatlichen Massnahmen daraufhin, ob der gegebene Spielraum nicht überschritten wurde.[34] Die Etablierung einer Staats- oder Landeskirche sind laut EGMR zulässig, auch wenn die Zugehörigkeit dazu nicht vorgeschrieben werden darf.[35] Eine theologische Auseinandersetzung mit den Inhalten einer Religion findet in Bezug auf die Auslegung der Religionsfreiheit nicht statt, da sich ein Gericht nicht anmassen darf, über den Wahrheitsgehalt transzendenter Inhalte zu entscheiden. Es ist daher auch unerheblich, ob z.B. Minarette im Koran erwähnt werden, lediglich das Bedürfnis der Gläubigen nach einem religiösen Gebäude oder Symbol ist entscheidend.[36]

Die EMRK enthält darüber hinaus in Art. 14 ein allgemeines Diskriminierungsverbot in Bezug auf die in der Konvention und den Zusatzprotokollen gewährten Rechte und Freiheiten. Die darin aufgeführten Merkmale sind beispielhaft und können um weitere persönliche Eigenschaften ergänzt werden, die die Zugehörigkeit zu einer Personengruppe ausdrücken. Die Ungleichbehandlung muss gemäss den in den Mitgliedstaaten üblichen Grundsätzen sachlich gerechtfertigt und verhältnismässig sein.[37] Um den Anforderungen von Art. 9 Abs. 2 EMRK zu genügen, müsste das Minarettverbot zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung beitragen. Da der Zusammenhang zwischen der Radikalisierung von Moslems und dem Vorhandensein von Minaretten unbewiesen ist, ist Art. 72 Abs. 3 BV keine zielführende und daher keine notwendige Massnahme, um den eventuellen Umsturz des rechtsstaatlichen Systems zu verhindern. Sie stellt daher einen Verstoss gegen Art. 9 EMRK dar. Ausserdem liegt eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung einer Religionsgemeinschaft vor, da Art. 72 Abs. 3 BV sich ausschliesslich gegen ein Symbol des Islam richtet.[38]

[...]


[1] Der Artikeltext befindet sich auf S. 9.

[2] Riché, Karolinger, S. 64 - 66.

[3] Salewski, Europa, S. 12 - 24.

[4] Cirigliano, Umsetzungsszenarien, Rz 1.

[5] Wehrli, Minarette, S. 1.

[6] Müller, Bundesgericht, Rz 1.

[7] Schoch, Gegenstrategie, S. 1.

[8] Beck, Friedensfähigkeit, S. 34 - 35.

[9] Müller/Schefer, Grundrechte, S. 269.

[10] Biaggini, BV-Kommentar, N 15 zu Art. 15 BV.

[11] Hafelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, Nr. 443 - 444.

[12] EVP, Volksinitiative, S. 1.

[13] CVP, Religionsartikel, S. 1.

[14] Leggewie, Religionen, S. 329 - 330.

[15] Salewski, Europa, S. 15

[16] Müller/Thürer, Vorschlag, S. 1 - 2.

[17] Müller/Thürer, Vorschlag, S. 3 - 4.

[18] Forst, Toleranz, S. 79.

[19] Salewski, Europa, S. 14 - 15.

[20] Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, Nr. 75 - 85.

[21] BGE 131 II 697 (702 f.), E 4.1.

[22] Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, Nr. 97 - 98.

[23] Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, Nr. 148 - 151.

[24] Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, Nr. 162 - 163.

[25] Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, Nr. 120 - 126.

[26] Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, Nr. 130 - 136.

[27] BGE 125 I 347 (354), E. 3a.

[28] BGE 119 Ia 178 (184), E. 4c.

[29] BGE 119 Ia 178 (183), E. 4b.

[30] Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, Nr. 315 - 316. Siehe auch Art. 10 Abs. 2 EMRK.

[31] Biaggini, BV-Kommentar, N 9 zu Art. 8 BV.

[32] Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, Nr. 774 - 776.

[33] Häfelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, Nr. 744 - 746.

[34] Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, N 13 Vorbemerkungen zu Art. 8 - 11 EMRK.

[35] Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, N 2 zu Art. 9 EMRK. Religionsfreiheit garantiert auch UNO-Pakt II vom 16.12.1966 (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Recht) in Art. 18, siehe Müller/Schfer, Grundrechte, S. 251.

[36] Müller/Schefer, Grundrechte, S. 269 u. Kley/Schaer, Minarett, Rz 11.

[37] Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, N 12 – 13 zu Art. 14 EMRK.

[38] Cirigliano, Umsetzungsszenarien, Rz 18 - 19.

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Details

Titel
Ein Toleranzartikel für die Bundesverfassung der Schweiz?
Untertitel
Darstellung und Bewertung des Vorschlags von J.P. Müller und D. Thürer
Hochschule
Fernfachhochschule Schweiz  (Universitäre Fernstudien Schweiz - Juristische Fakultät)
Veranstaltung
Öffentliches Recht
Autor
Jahr
2010
Seiten
30
Katalognummer
V211779
ISBN (eBook)
9783656396611
ISBN (Buch)
9783656396901
Dateigröße
531 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
toleranzartikel, bundesverfassung, darstellung, bewertung, vorschlags, müller, thürer
Arbeit zitieren
Bettina Gronau (Autor:in), 2010, Ein Toleranzartikel für die Bundesverfassung der Schweiz?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/211779

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