Die Gabe in der epischen Literatur des Mittelalters


Examensarbeit, 2011

73 Seiten, Note: 1,5

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Etymologische Betrachtungen zur Gabe

3. Die Gabe in der Kulturwissenschaft
3.1. Die Gabe bei Marcel Mauss
3.1.1. Der Kula in Melanesien
3.1.2. Der Potlatsch inNordwestamerika
3.2. Die Rezeption von Mauss
3.3. Alain Caillés Interpretation - Aufbruch zu einem neuen Paradigma der Sozialwissenschaften
3.4. Die Gabe bei Maurice Godelier - von den Dingen, die behalten werden
3.5. Die Gabe bei Marcel Hénaff- die Zäsur des sozialen Bandes
3.6. Die Gabe bei Peter M. Blau - ökonomischer versus sozialer Tausch
3.7. Die Gabe bei Marshall D. Sahlins - die Typen der Reziprozität
3.8. Die Gabe bei Georg Simmel - das stärkste Bindemittel der Gesellschaft
3.9. Die Gabe bei Alvin W. Gouldner - die Gabe der Wohltätigkeit
3.10. Die Gabe bei Pierre Bourdieu - symbolisches Kapital gewinnen
3.11. Die Gabe bei Claude Lévi-Strauss - Frauen als höchste Gaben
3.12. Die Gabe in der Mediävistik

4. Die Gabentheorien und die möglichen Fragestellungen für die Epik des Mittelalters

5. Gaben in der Literatur des Mittelalters

6. Kudrun
6.1. Die Gaben im Hagenteil
6.2. Die Gaben im Hagenteil im Lichte der Gabentheorien
6.3. Die Gaben im Hildeteil
6.4. Die Gaben im Hildeteil im Lichte der Gabentheorien
6.5. Die Gaben im Kudrunteil
6.6. Die Gaben im Kudrunteil und im gesamten Werk im Lichte der Gabentheorien

7. Das Nibelungenlied
7.1. Das Nibelungenlied - Gunther und Siegfried zwischen Geben und Nehmen
7.2. Gunther und Siegfried im Spiegel der Gabentheorien
7.3. Der Nibelungenhort - das Nehmen und Geben wollen eines Ungebbaren
7.4. Geben und Nehmen des Nibelungenhorts im Spiegel der Gabentheorien

8. Schlussfolgerung

Literaturverzeichnis

Quellen

Fachliteratur

Ich versichere, die vorliegende Arbeit selbständig verfasst und alle von mir benutzten Hilfsmittel und Quellen angegeben zu haben. Ich bin mir bewusst, dass ein nachgewiesener Täuschungsversuch rechtliche Konsequenzen haben kann.

1. Einleitung

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit dem Phänomen der Gabe in der Epik des Mittelalters. Grundsätzliches zur Gabe hat die moderne Ethnologie, aber auch die Soziologie erforscht. Insbesondere die Arbeit von Marcel Mauss ist in diesem Feld als grundlegend zu erachten. Geben, Schenken und Nehmen sind auch für jüngere Ethnologen immer wieder Anlass zu in­tensiven Forschungen gewesen. Daher soll hier zuerst die ethnologische und soziologische Gaben-Forschung betrachtet werden, wobei selbstverständlich auch Erkenntnisse der moder­nen Mediävistik und kulturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen betrachtet werden. Da die Ethnologie, oder wie einige Wissenschaftler bevorzugen, die Kulturanthropologie, das Allgemein-Menschliche erforscht, ist die Übertragung kulturanthropologischer Erkenntnisse auf die Mediävistik gerechtfertigt. In der mediävistischen Wissenschaft gilt die Alterität des Mittelalters, also die Andersartigkeit im Vergleich zu unserer Neuzeit als grundlegend. An­dersartigkeit kann an dieser Stelle aber nicht bedeuten, dass allgemein-menschliche Betrach­tungen, wie sie die Kulturanthropologie anstellt, für die Analyse des Mittelalters nicht gelten dürfen. Im Gegenteil, die Andersartigkeit im Vergleich zur westlichen Neuzeit lässt vermuten, dass bei einem Vergleich mit Menschen aus anderen nicht-westlichen Kulturen eine Eröffnung von Perspektiven für das Mittelalter gewonnen werden kann.

Im Anschluss an eine intensive Betrachtung der modernen Gaben-Theorie soll eine Übertra­gung dieser Erkenntnisse auf mittelalterliche Texte stattfinden. Die grundlegende Frage lautet dabei: Kann die ethnologische Gabenforschung zur Epenbetrachtung des Mittelalters einen Teil beitragen? Ist es möglich, auf ihrer Grundlage die Gabensituation in den mittelalterlichen Texten zu erhellen? Meine These lautet: dies ist möglich. Von kulturanthropologischen Er­kenntnissen kann die Mediävistik profitieren. Die Situation der Gabe in den mittelalterlichen Epen kann durch die Gabenforschung der Kulturanthropologie erhellt werden. Dass hierbei nicht jede Theorie die Texte gleichermaßen erhellt, ist wahrscheinlich und wird in Kauf ge­nommen. Insgesamt ergibt sichjedoch eine zusätzliche gewinnbringende Perspektive.

Die Betrachtung von Gaben hat in der Wissenschaft in den letzten Jahren einen kleinen Auf­wind erlebt. Mit der Wiederentdeckung von Marcel Mauss über die MAUSS-Gruppe über theologische Betrachtungen, wie sie Martin M. Lintner anstellt, über literarische Untersu­chungen wie in „Giftige Gaben“ von Gisela Ecker bis hin zu phänomenologischen Betrach­tungen, wie sie im Sammelband „Geschenkt!“ weiten Raum einnehmen, reicht die Palette der Schenkliteratur. Selbst moderne populärwissenschaftliche Untersuchungen wie „Der Sinn des Gebens“ von Stefan Klein befassen sich mit dem Thema und behaupten sogar, dass Selbst­losigkeit in der Evolution ein Vorteil war. Er geht sogar soweit zu sagen, dass die Zukunft den Altruisten gehört.[1]

Der Mensch tendiert dazu, die gesellschaftlichen Institutionen, die er selbst kennt, als das Normale und Allgemeingültige anzusehen. So glauben wir im Westen, dass unser Bild von Wirtschaft, vom Homo oeconomicus, vom Austausch mittels Geld das Selbstverständliche und Normale sei. Ein Blick in die Ethnologie und auch in die Geschichte lehrt uns das genaue Gegenteil. Unser Denken über wirtschaftliches Handeln ist sehr neu und gerade nicht allge­meingültig. Auch nicht-westliche Kulturen produzieren teilweise enorme Überschüsse. Wie sie diese allerdings wieder „loswerden“, entspricht nicht unserer Rationalität. Das bedeutet aber nicht, dass innerhalb ihrer Vorstellung ihr Verhalten irrational wäre. Nein, sie geben und nehmen mit einer anderen Rationalität als der unseren. Marcel Mauss schreibt über die Völker Ozeaniens:

„Diese Menschen haben eine außer-häusliche Wirtschaft und ein hochentwickeltes Tauschsystem und sind in ihren Handelsgeschäften rühriger, als es unsere Bauern und Fischer noch vor knapp hundert Jahren waren. Sie haben ein ausgedehntes Wirtschaftsleben, das über die Grenzen der Inseln und der einzelnen Sprach­gebiete hinausreicht, sowie einen lebhaften Handel. Und sie ersetzen unsere Kauf- und Verkaufssysteme auf äußerst wirksame Weise durch das der Geschenke und Gegengeschenke.“[2]

Ob dies für das Mittelalter so auch zutrifft, gilt es zu ergründen.

2. Etymologische Betrachtungen zur Gabe

Das deutsche Wörterbuch nennt für Gabe das mittelhochdeutsche Wort gäbe, für das Althoch­deutsche ist das Wort nicht bezeugt. Im Althochdeutschen bestand die Form këpa, gëpa. [3] Über die Wortgeschichte von Schenken und Geben hat Jakob Grimm bereits 1848 in der Akademie der Wissenschaften einen Vortrag gehalten. Diese Betrachtung gilt noch heute als grund- legend, die Fachliteratur bezieht sich auf seine Erkenntnisse.[4] Schenken setzt für Grimm „einen geber und empfänger voraus“[5]. Grimm weiter: „geben ist ein sinnliches darstrecken, darbringen, aus der hand thun oder lassen, legen in des anderen hand, einhändigen.“[6] Schon Grimm betont, dass die Gabe insgeheim eine Gegengabe fordert und zwar nicht nur im glei­chen Maße, sondern: „ja bei feinerem gefühl selbst zu höheren, überbietenden“[7]. Grimm be­tont, dass das Schenken, obwohl dieser Zusammenhang schon vielen seiner Zeitgenossen nicht mehr bewusst ist, mit dem Einschenken zu tun hat. Das erste was man dem Gast gab, war einen Trunk, dieser war die erste Gabe unter Fremden und Freunden.[8] Laut Grimm wurde der Gast mit dem von ihm benutzten Becher oder Trinkgefäß beschenkt.[9] Daneben gibt es noch den Brauch des Anbindens von Geschenken. Das bereits zu Grimms Zeiten verblassende Wort „Angebinde“ für Geschenk verweist darauf. Geschenke anzubinden hat laut Grimm auch die Funktion, die Kraft des Geschenkes auf den Empfanger zu übertragen.[10] Durch Gegengabe wird der Geber der ersten Gabe wiederum gebunden, es liegt also eine gegenseitige Bindung vor.[11] Als Geschenke sind in den historischen Quellen, die Grimm nutzt, Lebensmittel, Tiere vor allem Pferde, seltener Geld, Kleidung, Schmuck vor allem Ringe, Waffen und Rüstung und verschiedene Gebrauchsgegenstände erwähnt.[12] Beide Bräuche, sowohl das Gießen als auch das Binden, scheinen kultischen Ursprungs zu sein, laut Grimm „...scheinen also beide vorstellungen des gieszens wie des bindens ursprünglich auf eine heilige opferhandlung zu­rück zu weisen.“[13] Das Wort Geschenk ist nach dem deutschen Wörterbuch erstmals 1569 be­legt.[14] Es scheint für die Zeit nach dem Mittelalter dabei Bedeutungsverschiebungen gegeben zu haben. Rost meint, dass hier eine Bedeutungsverengung „hin zur Bezeichnung für eine Sonderform der Eigentumsübertragung mit verpflichtendem Charakter unübersehbar“ sei.[15]

Grimms Erkenntnisse deuten schon auf die im Folgenden besprochenen Erkenntnisse der mo­dernen Kulturwissenschaft hin.

3. Die Gabe in der Kulturwissenschaft

Gaben spielen in der Kulturwissenschaft seit einiger Zeit eine wichtige Rolle. Ausschlag­gebend war dabei die Beschäftigung mit Marcel Mauss und Claude Lévi-Strauss. Die Anfänge der theoretischen Betrachtung reichen aber noch weiter zurück, wie Harry Liebersohn in „The return of the gift: European History of a Global Idea“ nachweist. Er geht bei seiner Be­trachtung bis ins 17. Jahrhundert zurück[16] und betrachtet Theoretiker von Edmund Burke über James Mill bis hin zu Hobbes, die sich in der einen oder anderen Form mit Gaben befasst ha­ben. Für die hier vorliegende Arbeit wurden theoretische Beiträge betrachtet, die zeitlich auf Mauss folgten bzw. auf die sich Mauss bezieht, wie im Falle von Georg Simmels Theorie. Mauss Werk gilt als bahnbrechend für die Beschäftigung mit Gaben, wenngleich ihm von der ethnologischen Seite her sein „Armchair-Anthropologismus“ vorgeworfen wird. Die Ethnolo­gie betont seit Bronislaw Malinowski die Feldforschung sehr stark und sieht die eigene Feld­forschung quasi als Eintrittskarte in die ethnologische Gilde. Dem Werk wird auch Eklektizis­mus vorgeworfen, aber selbst seine Kritiker erkennen seine Brillianz.[17] Für die hier vorliegende Arbeit wurden die Theorien von Jacquesss Derrida, Georges Bataille und Michel Serres außer Acht gelassen, obgleich es sich um bedeutende Theoretiker handelt, sie würden allerdings den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Es musste eine Auswahl nach Be­deutung für die mittelalterliche Literatur getroffen werden.

3.1. Die Gabe bei Marcel Mauss

Marcel Mauss, Émil Durkheims Neffe, war eine der führenden Figuren in der Ethnologie und Soziologie Frankreichs zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Er brachte die Zeitschrift „Année So­ciologique“ heraus. Mauss gehörte zu einer Gruppe brillanterjunger Wissenschaftler, die sich um Durkheim scharten. Allerdings führte der Erste Weltkrieg zu großen Verlusten unter den Wissenschaftlern und Mauss, der überlebte, betrachtete es zeitlebens als seine Aufgabe, das Vermächtnis seiner Freunde und Kollegen weiterzuführen, auch wenn darunter sein eigenes wissenschaftliches Tun litt. So beschreibt zumindest in seinem Vorwort zur Gabe Edward Evan Evans-Pritchard, der ihn noch persönlich kennen lernte, Mauss grundsätzliche Lebens­haltung.[18] Dies mag ein Grund sein, dass es von Mauss selbst nicht viele wissenschaftliche Beiträge gibt. „Die Gabe: Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften“ aus dem Jahr 1924 wird als sein wichtigstes Werk erachtet.

Mauss geht an die Frage von Geben und Nehmen mit der Methode des Vergleichs heran.[19] Er betrachtet den Kula-Ring auf Melanesien und bezieht dabei auch Nachbarregionen wie Poly­nesien oder Neuseeland mit ein, untersucht den Potlatsch bei den nordwestamerikanischen In­dianern, den Native Americans, wie die mittlerweile bevorzugte Bezeichnung lautet, und be­trachtet in seinem dritten Kapitel auch altes römisches, germanisches und hinduistisches Recht. Schließlich zieht er Schlussfolgerungen auch für unsere westlichen Gesellschaften.

Er hat beobachtet, dass das scheinbar freiwillige Geben und Nehmen in archaischen Gesell­schaft, dennoch einen „zwanghaften und eigennützigen Charakter“[20] hat. Die Gesellschaften reproduzieren sich symbolisch und sozial über den Zyklus von Geben und Nehmen und Erwi­dern. Die Gabe ist ambivalent zu sehen, sie verläuft zwischen Freiwilligkeit und Spontanität auf der einen Seite und sozialen Verpflichtungen auf der anderen Seite.[21] Bei den beiden von Mauss in den Mittelpunkt gestellten Gabensystemen dem Kula und dem Potlatsch haben wir es mit einer Konkurrenzsituation von Gebenden und Nehmenden zu tun. Beim Potlatsch kann dies bis zum ökonomischen Ruin eines der Kontrahenten führen.

3.1.1. Der Kula in Melanesien

Beim Kula-Ring werden Schmuckstücke, zum einen Halsketten zum anderen Armbänder, in unterschiedliche Richtungen zwischen den Inseln Melanesiens getauscht. Der Kula ist dabei, so Mauss, „lediglich der Krönungspunkt“[22] in einer ganzen Reihe und Kette von verschie­densten Tauschverpflichtungen. Dabei sind die unterschiedlichsten sozialen Handlungen in­volviert von Feilschen, über Lohnzahlung, Bitten, reinster Höflichkeit, Gastfreundschaft bis hin zu Zurückhaltung und schamhaftem Verhalten. Bei allen Tauschhandlungen spielen die Motive „Konkurrenz, Rivalität, Ausstellung, das Trachten nach Größe und Vorteil“[23] eine Rol­le. Dabei wird eine Verbindung zwischen Gebendem und Erwiderndem geknüpft. Die Gaben­folge beginnt mit einem ersten Geschenk, dem „vaga“, um welches mit Bittgeschenken ge­worben wird. Zu diesem Zeitpunkt ist der Geschenkpartner noch unabhängig, er muss nicht in den Kreislauf eintreten. Die feierliche Übergabe des Gegengeschenks ist erst der rechtlich bindende Akt, der Eintritt in den Geschenkhandel. In diese Form der Gaben treten vor allem die reichen Mitglieder eines Stammes ein, sie verbinden damit nicht nur sich persönlich, son­dern es entsteht eine Art Clanverbindung.[24] Der Kula-Tausch führt dazu, dass die Stämme aus ihren engen Grenzen entgrenzt werden, dass sie Verbindungen zu den Nachbarn aufnehmen, dass sie vernetzt werden. Die Geschenke, welche eigentlich die höchsten Mitglieder des Stammes, im Allgemeinen die Häuptlinge, erhalten, werden innerhalb des Stammes weiterge­reicht, so dass jeder, der an der Expedition, also dem Besuch des Tauschpartners, beteiligt war, in gewisser Weise entschädigt wird. Das Geben und Nehmen, welches auch zwischen den einfachen Leuten stattfindet, durchdringt auch das gesamte wirtschaftliche und soziale Leben der Trobriander, die Teil Melanesiens sind und von Bronislaw Malinowski intensiv er­forscht wurden. Mauss dazu:

„Es ist ein immerwährendes „Geben und Nehmen“. Es wird gleichsam von einem kontinuierlichen, nach al­len Richtungen fließenden Strom durchflutet; einem Strom aus Gaben, die obligatorisch und aus Eigennutz, aus dem Streben nach Größe und als Entgelt für Dienste, als Herausforderung oder als Pfand gegeben, emp­fangen und erwidert werden.“[25]

Dabei findet ein Gabentausch zwischen den Ackerbauern auf der einen Seite und den Fischern auf der anderen Seite statt. Es herrscht also ein Prinzip der Arbeitsteilung. Dies ist allerdings auch dort nicht der einzige Weg des Gabentausches, auch bei wichtigen Gelegenheiten, wie Ernte, Bau neuer Boote oder Bestattungsfeiern, gibt es einen Tausch, der in Form großer Nah­rungsmittelverteilungen den sogenannten sagali stattfindet. Dabei erhalten Mitglieder des Stammes, die dem Häuptling, einen Dienst erwiesen haben, z.B. Transport der Baumstämme für den Bau der Schiffe, Gaben. Hierbei herrscht Konkurrenz zwischen den Familien. Mauss sieht eine Ähnlichkeit dieser Form des Tausches mit dem im Folgenden betrachteten Tlingit- Potlatsch. Abschließend kommt Mauss für die Inselvölker Melanesiens und wahrscheinlich viele Völker Südasiens zu dem Schluss, dass die Gabensysteme „unser Kauf- und Verkaufsystem auf äußerst wirksame Weise durch das Geschenk und Gegengeschenk“[26] ersetzten. Ihr System reicht über ihr Sprachgebiet und die Grenzen der Inseln hinaus. Es herrscht lebhafter Handel und ein ausgedehntes Wirtschaftsleben. Die Völker kennen zwar nicht die Begriffe Darlehen und Verkauf, führen aber diese Handlungen durch. Mauss kommt zu dem Schluss, dass ein reicher und strebsamer Teil der Weltbevölkerung, der Überschüsse produziert, in der Lage ist, Güter aus anderen Gründen und in anderer Form auszutauschen, als wir in unseren Gesellschaften dies tun.[27]

3.1.2. Der Potlatsch in Nordwestamerika

Die Native Americans im Nordwesten Amerikas verfügen ebenfalls über ein hochkomplexes Gabensystem. Die Gruppen, von denen hier die Rede ist, sind an den Küsten Nordamerikas beheimatet. Es sind die Tlingit und Haida sowie die Tismshian und Kwakiutl, welche im Dis­trikt British Columbia leben. Alle diese Stämme leben hauptsächlich vom Fischfang sowie der Jagd und betreiben wohl auch aufgrund der geographischen Lage keinen Ackerbau. Sie erzielen mit Pelzen, Jagd und Fischerei, so Mauss, auch für europäische Verhältnisse erhebli­che Überschüsse.[28] Als Geld dienen diesen Gruppen eine Art Kupferplatten, parallel dazu gibt es Chilkat-Decken, reich verzierte Wolldecken, die als Schmuckstücke und ebenfalls als eine Art Geld dienen.[29] Den Potlatsch bezeichnet Mauss als ein totales System.[30] Er ist religiös, mythologisch, schamanistisch, ökonomisch, juristisch, ästhetisch und sozial wirksam. Mauss spricht von drei Verpflichtungen, die der Potlatsch beinhaltet: Geben, Nehmen und Erwi­dern.[31] Das Geben bedeutet dabei, dass Sich erkenntlich zeigen, das Gegenüber wortwörtlich erkennen und anerkennen bedeutet, es zu beschenken. George Hunt, der Kwakiutl-Informant von Franz Boas, schreibt über einen Häuptling, der nie ein Gabenfest gab, dass er „q!ElsEm“, genannt wurde, was „verfaultes Gesicht“ bedeutet.: „This is called q!ElsEm (that is „rotten face,“ one who gives no feast).“[32] Der Häuptling hat sein Ansehen verloren, wie man auch bei uns sagt, sein Gesicht verloren, und dies impliziert die Vorstellung bei den Kwakiutl seine Seele zu verlieren. Wie bereits erwähnt beinhaltet der Potlatsch auch die Pflicht des Erwiderns. Mauss schreibt, dass die Zinssätze zwischen 30 und 100 Prozent im Jahr liegen.[33] Er betont, dass die gesamte Gesellschaft bei jeder Gelegenheit Geschenke austauscht. Wer beim Potlatsch nicht zurückzahlen kann, verliert seinen Rang, in einigen Fällen sogar den Status als freier Mann.[34] Mauss ist überzeugt, dass einigen der getauschten Dinge eine Kraft innewohnt und sie eigentlich nicht verschenkt, sondern nur geliehen werden, da sie heilig sind. Insbesondere zählt er dazu Dinge, in die das Clantotem eingearbeitet wurde. Diese Dinge haben laut Mauss, Zeugungskraft in sich. Er schreibt über sie: „Es ist nicht nur ein Zei­chen und Pfand des Lebens, sondern auch ein Zeichen und Pfand des Reichtums, eine ma­gisch-religiöse Garantie des Rangs und Überflusses.“[35]

Ähnlich wie bei den Melanesiern Darlehen und Verkauf grundlegend sind, ohne dass diese Begriffe bestehen würden, gibt es bei den Native Americans, ebenfalls ohne die Begrifflich- keit, die Idee von Kredit und Frist. Freilich gibt es kein Buchhaltungssystem, welches diese Transaktionen auflistet, daher werden die Geschenke öffentlich übergeben, es findet also so­ziale Reglementierung über die Gruppe statt. Franz Boas, einer der Gründerväter der amerika­nischen Ethnologie mit deutschen Wurzeln, hat festgestellt, dass ähnlich wie in unserem Sys­tem nicht alle „Gläubiger“ gleichzeitig ihre Geschenke zurückverlangen können, da diese die existierenden Werte übersteigen würden: „This economic system has developed to such an ex­tend that the capital possessed by all the individuals of the tribe combined exceeds many times the actual amount of cash that exists...“[36] Analog dazu gibt es in unseren modernen Ge­sellschaften nicht genügend Geld, wenn alle gleichzeitig ihre Außenstände zurückverlangen würden.[37] Boas bezeichnet den Empfänger der Gaben in seinem „5th Report of the Committee on the North-Western Tribes of the Dominion of Canada“ und auch im zwölften und ab­schließenden Report als „debtor“, also Schuldner des Gebers. „Thus by continued potlatsch each man becomes necessarily the debtor of the other.“[38] Mauss ist der Überzeugung, dass sich sowohl Kauf und Verkauf als auch die Idee des Darlehens aus dem System von Gabe und Gegengabe entwickelt haben.[39] Die Verwendung dieser Begrifflichkeit darf aber nicht dazu führen, dass die Idee von Schulden wortwörtlich aus unserem Kontext auf die Native Ameri­cans Nordwestamerikas übertragen wird. Ihr System beinhaltet neben dem rein Ökonomi­schen die Idee der Ehre. Mauss bezeichnet den Potlatsch als „eine aristokratische Form des Handelns, durchdrungen von Etikette und Großmut.“[40] Es handelt sich fast um eine Art Krieg und ist äußerst antagonistisch und rivalistisch. Das individuelle Prestige eines Häuptlings und seines Clans hängen an der Rückzahlung der Gaben, welche mit hohem „Zins“ bezahlt wer­den. Es gibt sogar Potlatschs, bei denen der Geber gezwungen ist, alles auszugeben, was sein eigen ist. Er darf nichts zurückbehalten. Das höchste Prestige und damit die höchste Ehre ge­winnt derjenige, der am verschwenderischsten ist.[41] Es gibt sogar Potlatsch, bei denen das Prinzip von Geben und Gegengabe ersetzt wird durch Zerstörung. Es geht darum, keinen Wert auf eine Rückgabe zu legen. Kistenweise werden Wertgegenstände verbrannt, die wertvollen Kupferplatten werden zerbrochen oder ins Wasser geworfen. Die Ehre wird dadurch gestei­gert, man erklimmt die soziale Stufenleiter und auch die eigene Familie profitiert sozial gese­hen davon. Wer mit Hinblick auf baldigen Gewinn Gaben gibt, wird verachtet.[42] Mauss kommt zu dem Schluss, dass Gesellschaften, die die Phase der totalen Leistung hinter sich gelassen haben, jedoch noch nicht das Stadium von Individualverträgen und Geldmarkt erreicht haben, sich durch das Prinzip des Geschenkeaustausches auszeichnen.[43] Er sieht die Gabe auch als Alternative zum Krieg. Anstelle von Kampf, Isolierung und Stagnation wird das aufeinander Zugehen und Gaben austauschen zum Mittel der Vernunft.[44] Mauss Betrachtungen wurden von mir hier weitestgehend deskriptiv dargestellt. Seine theore­tischen Überlegungen zur Kultur werden im folgenden von seinem großen Anhänger Alain Caillé näher betrachtet und zu einem eigenen Paradigma der Kulturwissenschaften erhoben.

3.2. Die Rezeption von Mauss

Die Mauss-Rezeption hat in den letzten Jahren ausgehend von Frankreich neuen Aufwind be­kommen. In Frankreich haben sich insbesondere Alain Caillé und Marcel Hénaff mit Mauss beschäftigt und dabei neue Interpretationen des Mauss'schen Werks eingebracht. Bis dahin gab es in Frankreich die Tendenz, Mauss stark anti-individualistisch zu deuten.[45] Insbesondere Claude Lévi-Strauss erklärte Mauss in seiner Einleitung zu dessen Werk zu einem Vorläufer des Strukturalismus und hat dadurch die Perspektive aufMauss verengt.[46] Der zweite wichtige Interpret von Mauss ist Pierre Bourdieu, der dem Gabentausch sowie der Reziprozität einen wichtigen Platz in seiner Großtheorie einräumt. Bourdieu sieht die Gabe aber letztlich utilita­ristisch. Der Handelnde, also der Gebende verschleiert seine eigennützigen Motive, die Unei­gennützigkeit ist, so Bourdieu, nur eine subjektive Illusion, die Bourdieu selbst entlarvt. Adloff und Papilloud bringen dies in ihrer Zusammenfassung Bourdieus folgendermaßen auf den Punkt:

„Die an der Schenkökonomie Beteiligten verleugnen nämlich die eigennützigen Tauschmotive und bestreiten damit untergründig die Existenz einer materiellen Verbindung zwischen den einzelnen Akten des Gebens, die durchaus einer Logik der Nutzenmaximierung folgen. [...] Im Habitus verankert er [Bourdieu] gleichsam das Kalkül des Schenkenden, nicht zu kalkulieren, um dafür umso größeren symbolischen Mehrwert (surplus) zu erlangen.“[47]

Vor allem die MAUSS-Bewegung, der Alain Caillé zuzurechnen ist, hat seit dem Jahr 1981 für eine neuerliche Beschäftigung mit Mauss gesorgt. Ihr Organ war der „Bulletin du MAUSS“, der später in „Revue du MAUSS“ umbenannt wurde. In der Bewegung mit dem ausführlichen Namen Movement Anti-Utilitariste en Sciences Sociales schlossen sich Sozio­logen, Wirtschaftswissenschaftler und Anthropologen zusammen, die mit der Entwicklung der damaligen Soziologie unzufrieden waren.[48]

3.3. Alain Caillés Interpretation - Aufbruch zu einem neuen Paradigma derSozialwissenschaften

Alain Caillé entdeckt in der Gabe eine eigene Kulturtheorie, die gleichberechtigt neben großen klassischen sozialwissenschaftlichen Theorien ihren Stellenwert hat. Er meint, die Gabe habe das Potential für eine neue Herangehensweise und die Klärung vieler Fragen in den Sozialwissenschaften.[49] Caillé grenzt sich insbesondere von allen utilitaristischen Strö­mungen ab, die für die Gabe von ausschließlich ökonomischen Gründen ausgehen. Gaben sieht Caillé sogar als Lösung des klassischen Gefangendilemmas.[50] Er argumentiert dabei aus­gehend von der Handlung. Die Gaben sind grundlegend für die Kooperation von Handelnden und der Herstellung sozialer Ordnung. Gerade die Frage nach der „Genese sozialer Bezie­hungen“ können für Caillé in den beiden methodologischen Herangehensweisen, auf der einen Seite dem Holismus, also der Perspektive, die von der Gesellschaft ausgeht, und auf der anderen Seite dem Individualismus, nicht geklärt werden. Unter Individualismus subsumiert Caillé Theorien des rationalen Handelns, die Theorie des begrenzten Handelns, den Utilitarismus, den Neoinsitutionalismus, die Theorie des Besitzrechts. Alle diese Denkschulen gehen mehr oder weniger vom Homo Oeconomicus aus.[51] Eine weniger bedeutende Rolle hat der Holismus inne, der davon ausgeht, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile und das Ganze hierarchisch höher steht als das Individuum. Als letzten Verteidiger dieser Per­spektive begreift Caillé Louis Dumont.[52]

Caillé schreibt: „Die Anhänger des Holismus verdinglichen und hypostasieren die Totalität - die Anhänger des methodologischen Individualismus tun das Gleiche mit dem Individuum.“[53]

Diese Perspektiven haben ihr ihn nicht nur eine wissenschaftliche Dimension, sondern finden sich auch in der Politik wieder. Für Caillé reproduzieren die akademischen Debatten den Ge­gensatz zwischen „mehr oder weniger harten Liberalen“ und den „mehr oder weniger weichen Sozialisten“[54]. Für Caillé steht die Gabentheorie hierbei sozusagen in der Mitte. Er bemängelt:

„Das Fehlen einer Doktrin, die die Notwendigkeit des Staates und des Marktes nicht verneint und die eine politische Anschauung entwickeln könnte, die auf der Sichtweise der Gesellschaft selbst (und auf ihrem Selbstbewusstsein, Selbstständigkeit) aufgebaut ist und nicht auf den Staat oder Markt reduziert werden kann.“[55]

Für Caillé steckt in der Gabentheorie solch ein politischer, normativer Mittelweg, wobei er die Gesellschaft in den Mittelpunkt rückt und damit eine sehr moderne Perspektive einnimmt.[56] Caillé sieht in der Gabe eine Handlungsoption für das Gefangenendilemma. Die Akteure ge­hen mit der Gabe ein Risiko ein, indem sie einen Vertrauensüberschuss aufbringen und sich auf den „Gegner“ zubewegen. Dabei wird die Interaktion „mit einer Unsicherheit über die Gegenleistung eröffnet, was gerade die Uneigennützigkeit und die Gabe konstituiert, die zur Voraussetzung alles Weiteren werden.“[57] Wichtig ist ihm dabei das Risiko, welches die Ge­benden auf sich nehmen. Die Gabe ist dabei grundsätzlich ein Paradox: sie ist frei und obliga­torisch, uneigennützig und eigennützig.[58]

Für Caillé will Mauss die von Durkheim aufgemachte Dichotomie „zwischen dem Heiligen und dem Profanen, zwischen dem Kollektiven und dem Individuellen, zwischen dem Norma­len und dem Pathologischen beseitigen.“[59] Dies wird ihm möglich, indem er das Soziale als das Symbolische begreift. Mauss hat, wie Maurice Merleau-Ponty von Caillé zitiert wird, „in­dem er das Soziale als das Symbolische begriff, [...] ein Mittel gefunden, die Wirklichkeit des Individuums, des Sozialen und die kulturelle Vielfalt anzuerkennen, ohne sie gegeneinan­der abzudichten.“[60]

Mauss entdeckt, laut Caillé, dass die sozialen Tatsachen immanent symbolisch sind.[61] Bei Mauss wurden aus den Durkheim'schen sozialen Tatsachen totale soziale Tatsachen. Caillé versteht dies so: „Erst der Symbolismus macht die sozialen Tatsachen „total“.[62] Gesamtheit und Teile der Gesellschaft, Individuum und Kollektiv sind durch Symbole aufeinander bezo­gen. Wie Bruno Karsenti anmerkt, ersetzt Mauss allgemeingültige kausale Verbindungen durch ein Übersetzungsverhältnis. Bruno Karsenti und auch Caillé verstehen Mauss folgen­dermaßen:

„Insgesamt erlaubt der Begriff des Symbols, die Gegenüberstellung der in den Sozialwissenschaften in ho­hem Maße hypostasierten Wirklichkeiten zu überwinden. In dieser Konzeption gibt es weder Individuum noch Gesellschaft, sondern nur noch Zeichensystem, das die Beziehungen mediatisiert, die jeder zu jedem unterhält, und das gleichzeitig die Sozialisation der Individuen und ihre Vereinigung in einer Gruppe be­wirkt.“[63]

Mauss selbst äußerst sich derart:

„Wer Symbol sagt, meint eine gemeinsame Bedeutung für die - natürlich in Gruppen zusammengefassten - Individuen, die dieses Symbol akzeptieren, die mehr oder weniger willkürlich, aber einmütig eine Onomato - pöie, einen Ritus, einen Glauben, eine bestimmte Art, gemeinsam zu arbeiten, ein musikalisches Thema, einen Tanz gewählt haben. In jeder Vereinbarung steckt eine subjektive und eine objektive Wahrheit; und in jeder Sequenz symbolischer Übereinkunft gibt es ein Minimum an Wirklichkeit, nämlich die Koordination dieser Vereinbarungen. Und selbst wenn Symbole und Symbolketten nur imaginär und willkürlich den Din­gen entsprechen, entsprechen sie zumindest den Menschen, die sie verstehen und die an sie glauben, und für diese sind sie zugleich ein totaler Ausdruck der Dinge und ihres Wissens, ihrer Logiken und Techniken, gleichzeitig ihrer Künste und Affekte.“[64]

Mauss fährt fort und erläutert, dass er der Ansicht ist, dass es Symbole nur deshalb gibt, weil es Gemeinschaften gibt „...und dass die Tatsachen der Gemeinschaft eine Verbindung schafft, die die Illusion des Realen schaffen kann, die aber selbst bereits diesem Realen angehört.“[65]

Caillé erläutert Mauss' Perspektive anhand des Geldes. Gaben haben zu Beginn ihrer Ge­schichte nur den Wert der Personen, die sie besessen und gegeben haben. Je mehr diese Gaben im Geldsystem Verwendung finden, desto mehr lockert sich die Verbindung zwischen Perso­nen, Dingen und Symbolen. Caillé geht davon aus, dass Symbole im Gegensatz zu einfachen Zeichen untereinander verbunden bleiben.

Die Gaben sind wie Zeichen aufzufassen, allerdings sind sie weniger arbiträr. „Sie stehen, wie die durch die Gabe gestifteten Bündnisse, für eine akzeptierte und überwundene Arbitarität“[66], so Caillé. Arbitrarität der Gaben bedeutet auch den Willen, das zu verbinden, was anderenfalls getrennt wäre. Die Relationen sieht Caillé folgendermaßen: „Das Symbol verhält sich zum Zeichen wie die Bindung zum Gut, das Bündnis zur Trennung, die Subjektivität zur Objektivität und die überwundene Arbitrarität zur Notwendigkeit.“[67]

Beziehungen von Menschen sind nicht außerhalb des Symbolismus denkbar. Die Beziehungen sind durchwoben von Symbolismus. „Allgemein gesprochen sind die Symbole Zeichen der Verbindung und der Gaben vergangener Bündnisse, die künftig die Erneuerung der Bündnisse und des Friedens verbürgen,“[68] so Caillé. Das soziale Band konstituiert sich, außer in Fällen von Eroberung oder Machtdurchsetzung, auf der ganzen Welt durch das Bündnis. Bündnisse werden durch Gaben gestiftet. Caillé dazu: „Es reicht also nicht aus zu sagen, die Gaben seien Symbole. Notwendig ist der Hinweis, dass sie das Bündnis symbolisieren und ermöglichen.“[69] Dabei handelt es sich sowohl um ein Bündnis zwischen Zeitgenossen als auch zwischen Ge­nerationen. Caillé ist sogar der Ansicht, dass Gabe und Symbol koextensiv sind, wenngleich Mauss dies so nicht sagt.[70]

Leider ist der Symbolbegriff, gerade auch durch de Saussure, von dem Mauss sich ganz be­wusst abgegrenzt hat und dessen Symbolbegriff nicht sein eigen war[71], durch den häufigen Gebrauch etwas unscharf geworden. Daher schlägt Caillé vor, den neutralen Begriff Semem zu verwenden, um die Gesamtheit der Symbole und Zeichen zu bezeichnen. Caillé dazu: „Es gibt Beziehungen zwischen Sememen. Symbole sind Sememe, die spezifische Beziehungen - Bündnisse - zwischen Zeichen ausdrücken und die Bündnisse zwischen Menschen verdop­peln.“[72] Allerdings verwendet Caillé auf den folgenden Seiten weiterhin den Begriff Symbol, so dass auch diese Arbeit beim Begriff Symbol bleiben wird.

Das Symbol ist für Caillé selbst eine Gabe, die gegeben wird. Der Handlungsakt des Gebens, der häufig ein Sprechakt ist, ist zugleich ein Symbol. Soziale Tatsachen sind symbolisch.[73] Für Caillé sind Gaben also Symbole und Symbole Gaben.[74] Im Zentrum der Gaben steht das Bündnis, als die Alternative zum Krieg und damit ein politischer Aspekt. Er unterscheidet drei Bündnisebenen, die mikrosoziologische zwischen Individuen, die mesosoziologische Ebene des Bündnisses von Individuen mit Gruppen oder von Gruppen untereinander und die makro­soziologische von Individuen, Gruppen und Gruppen von Gruppen mit der symbolischen To­talität, die sie konstituieren. Die mikrosoziologische sieht er als die Ebene der Gabe, die me­sosoziologisch als Allianz und die dritte als das Politische. „Wir schließen daher unsere Unter­suchung vorzeitig ab und sagen, dass die Symbole nur leben und etwas bedeuten, wenn sie eine Gabe, eine ad-sociation [75] oder allgemein das Politische repräsentieren, ihrer gedenken, es verwirklichen oder erneuern - also nur, wenn sie verstanden und so wechselseitig übersetzbar werden. Das Paradigma der Gabe, das wir soeben als Schlüssel zum Paradigma des Symbo­lismus darstellten, muss auch in ein Paradigma der Übersetzung übersetzt werden.“[76]

3.4. Die Gabe bei Maurice Godelier - von den Dingen, die behalten werden

Maurice Godelier hat die Frage nach der Gabe verschoben. Diese Verschiebung wurde sowohl durch die Lektüre als auch seine eigene Feldforschung bei den Baruya in Neuguinea ausge­löst. Seine Frage lautet: Welche Objekte werden behalten? Er hat festgestellt, dass es Gaben gibt, die nicht gegeben werden, und um diese Objekte dreht sich sein Interesse. Seine Hypo­these, die er in der Einleitung seines Werkes benennt, lautet:

„Es kann keine Gesellschaft geben, es kann keine Identität geben, welche die Zeit überdauert und den Indivi­duen wie den Gruppen, die eine Gesellschaft bilden, als Sockel dient, wenn nicht Fixpunkte existieren, Rea- lien, die dem Gabentausch oder dem Warentausch (vorläufig, aber beständig) entzogen sind.“[77]

Godelier bezieht sich in seiner Analyse auf Annette Weiner. Sie forschte die letzten 50 Jahre auf den Trobriand-Inseln. Sie hat festgestellt, das diejenigen Dinge, die behalten werden, die Identität und ihre Kontinuität durch die Zeit hindurch bekräftigen. Sie bekräftigen auch die Identitätsunterschiede zwischen den Personen sowie zwischen Gruppen. Die Unterschiede stellen dabei eine Hierarchie dar. Der Prozess des Gebens und Behaltens reproduziert und pro­duziert Hierarchien zwischen Personen, aber auch Gruppen. Annette Weiner zeigt laut Godelier, dass beim Austausch zwar Dinge desselben Typs gegeben werden, z.B. Matten, schönere oder kostbarere aber ausgeschlossen und behalten werden. Sie bringt dies auf die Formel Keeping-while-Giving.[78] Menschen, so Godelier, entziehen gewisse Dinge also der Reziprozität, dem Austausch und der Rivalität. Eben diejenigen Dinge, die sie behalten. Die Gesellschaft ist, so Godelier, auch nicht die Summe aus den unveräußerlichen und veräußer­lichen Gütern, sondern „...erhält sich nur durch die Vereinigung, die wechselseitige Abhängig­keit dieser beiden Sphären und durch ihre Verschiedenheit, ihre relative Autonomie.“[79] Für Godelier lautet die Formel des Sozialen folglich nicht Keeping-while-Giving, sondern Keeping-for-Giving-and-Giving for Keeping. „Behalten, um zu geben (um geben zu können), geben, um zu behalten (um behalten zu können).“[80] Das Interesse dieser Arbeit wird folglich auch sein zu analysieren, ob in der mittelalterlichen Literatur auch über Dinge gesprochen wird, die bewusst dem Schenken entzogen sind.

[...]


[1] Vgl. Stefan Klein: Der Sinn des Geben. Warum Selbstlosigkeit in der Evolution siegt und wir mit Egoismus nicht weiterkommen, Frankfurta. M. 2010, S. 277.

[2] Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1990 [franz. Orig.: 1924], S.75.

[3] Rudolf Hildebrand: gabe bis gäbelein. In: Deutsches Wörterbuch, Bd. 4 1879, hrsg. von Jakob und Wilhelm Grimm, Leipzig 1854-1960, Sp. 1111-1121, Sp. 1111.

[4] Vgl. dazu Friedrich Rost: Theorien des Schenkens. Zur kultur- und humanwissenschaftlichen Bearbeitung ei­nes anthropologischen Phänomens, phil Diss. Essen 1993, S. 20.

[5] Jakob Grimm: Über schenken und geben, in: ders.: Kleinere Schriften, Bd. 2, Abhandlungen zur Mythologie und Sittenkunde, Berlin 1865, S. 173-210, S.137. Die Rechtschreibung entspricht der Zeit.

[6] Ebd., S. 173f

[7] Ebd., S. 174,

[8] Vgl. ebd., S. 178f

[9] Vgl. ebd.,S.181-183.

[10] Vgl. ebd., S. 196.

[11] Vgl. Rost: Theorien des Schenkens, S. 23.

[12] Vgl. Grimm: Über schenken undgeben, S. 175f.

[13] Ebd., S. 210.

[14] Rudolf Hildebrand: geschenk bis geschenkgeber. In: Deutsches Wörterbuch, Bd. 5 1892, hrsg. von Jakob und WilhelmGrimm, Leipzig 1854-1960, Sp. 3853-3855. Sp.3853ff.

[15] Rost: Theoriendes Schenkens, S. 25.

[16] Harry Liebersohn: The return of the gift. European History of a Global Idea, Cambridge et al, 2011, S. 2.

[17] Vgl. Chris Wickham: Conclusion on behalf of the contributors, in: The languages of Gift in the Early Middle Ages, hrsg. von Wendy Davies und Paul Fouracre, Cambridge University Press 2010, S.238-261, S. 257.

[18] Vgl. Edward Evan Evans-Pritchard: Vorwort, in: Marcel Mauss: Die Gabe: Form und Funktion des Aus­tauschs in archaischen Gesellschaften, 1990 [1924], Frankfurt a. M., S. 7-12, S. 7f.

[19] Vgl. Mauss: Die Gabe, S. 20.

[20] Ebd., S. 18.

[21] Vgl. dazu auch: Frank Adloff; Christian Papilloud: Alain Caillés Anthropologie der Gabe - Eine Herausfor­derung für die Sozialtheorie?, in: Alain Caillé: Anthropologie der Gabe, Frankfurt a. M. 2008, S. 7-39, S. 13.

[22] Mauss: Die Gabe, S. 66.

[23] Ebd., S. 68.

[24] Vgl. dazu ebd., S.67f.

[25] Ebd., S. 70.

[26] Ebd., S. 75.

[27] Vgl. ebd., S. 76f.

[28] Vgl. ebd., S. 79.

[29] Vgl. ebd., S. 79.

[30] Vgl. ebd., S. 90.

[31] Vgl. ebd., S. 91-93.

[32] Franz Boas: Ethnology of the Kwakiutl based on data collected by George Hunt, 35th annual Report of the Bureau of American Ethnology to the Secretary of the Smithsonian Insitution 1913-1914, part II, Washington 1921, S. 805.

[33] Vgl. Mauss: Die Gabe, S.100.

[34] Vgl. ebd., S. 101.

[35] Ebd., S.110f.

[36] Franz Boas: 12th and final Report of the Committee on the North-Western Tribes of the Dominion of Canada, British Associationforthe Advancementof Science, London 1898, S. 54.

[37] Vgl. ebd., S. 54.

[38] Franz Boas: 5th Report of the Committee on the North-Western Tribes of the Dominion of Canada, British As- sociationforthe Advancement ofScience, London 1889, S. 38.

[39] Vgl. Mauss: Die Gabe, S. 84.

[40] Vgl. ebd., S. 87.

[41] Vgl. ebd., S. 85.

[42] Vgl. ebd., S. 87.

[43] Vgl. ebd., S. 119.

[44] Vgl. ebd., S. 181.

[45] Vgl. Adloff; Papilloud: Herausforderung, S. 16.

[46] Vgl. ebd., S. 16 und Alain Caillé: Anthropologie der Gabe, S. 43f. Unter Habitus versteht Bordieu bestimmte Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata, sie werden im Kindesalter ausgebildet und bleiben das ge­samte Leben über mehr oder weniger erhalten, damit werden bestehende Strukturen regeneriert und ihr Wan­del ist schwierig. Bourdieu hat dies insbesondere am Konsumverhalten der Oberschicht-Franzosen verdeut­licht. Vgl. dazu: Eveline Hanke; Silke Herzer: Zur Renaissance des sozialwissenschaftlichen Kulturbegriffs. Kulturanthropologie, Empirische Kulturwissenschaft, Kultursoziologie: Eine grundlegende Studie für die Politikwissenschaft, München2010, S. 14f.

[47] Adloff; Papilloud: Herausforderung, S. 17.

[48] Vgl. Aldo Haesler im Gespräch mit Christian Papilloud: Anti-Utilitarismus in der Soziologie - Rück- und Ausblick auf die MAUSS-Bewegung, in: Gift - Marcel Mauss' Kulturtheorie der Gabe, hrsg. von Stephan Moebius und Christian Papilloud, Wiesbaden 2006, S. 143-158, S. 143.

[49] Vgl. Alain Caillé: Nachwort zur deutschen Ausgabe, in: Alain Caillé: Anthropologie der Gabe, Frankfurt a. M. 2008 (Theorie und Gesellschaft 65), S. 213-222, S. 221f.

[50] Das klassische Gefangendilemma beschreiben Manfred J. Holler und Gerhard Illing in ihrer Einführung in die Spieltheorie auf Seite 2. Ein Staatsanwalt ist sich sicher das zwei Verdächtige schuldig sind, ihm fehlen jedoch die Beweise. Er nimmt sie in Einzelhaft. Er bietet jedem der Verdächtigen die Möglichkeit an zu ge­stehen oder nicht zu gestehen. Gestehen beide nicht, wird er die Verdächtigen wegen geringer Delikte wie un­erlaubtem Waffenbesitz zu einer geringen Strafe verurteilen lassen. Gestehen beide werden sie zusammen an­geklagt, aber der Staatsanwalt wird nicht die Höchststrafe beantragen. Gesteht einer von beiden, der andere nicht so wird der Geständige freigelassen, der andere erhält die Höchststrafe. Diese Situation lässt sich spiel- theoretisch darstellen. Grundproblem ist das Vertrauen in den Mitgefangen. Vgl. dazu: Manfred J. Holler; Gerhard Illing: Einführung in die Spieltheorie, 7. Aufl., Berlin/Heidelberg 2008, S. 2.

[51] Vgl. Alain Caillé: Weder methodologischer Holismus noch methodologischer Individualismus - Marcel Mauss und das Paradigma der Gabe, in: Gift - Marcel Mauss' Kulturtheorie der Gabe, hrsg. von Stephan Moebius und Christian Papilloud, Wiesbaden 2006, S. 161-214, S. 177.

[52] Vgl. ebd., S. 177f.

[53] Caillé: Anthropologie der Gabe, S. 57.

[54] Caillé: Wedermethodologischer Holismus, S. 189.

[55] Ebd. (Hervorhebung im Original).

[56] Moderne politikwissenschaftliche Theorien wie der Konstruktivismus in den internationalen Beziehungen entwickeln ähnliche Perspektiven. Sie gehen allerdings vom Homo sociologicus aus.

[57] Caillé: Anthropologie der Gabe, S. 62 (Hervorhebungen im Original)

[58] Vgl. ebd., S. 68.

[59] Ebd., S. 173.

[60] Maurice Merleau-Ponty: Eloge de laphilosophie et autres essais, Paris 1965. Im französischen Original lautet der gesamte Satz: „En concevant le social comme un symbolisme, il s'était donné le moyen de respecter la réalité de l'individu, celle du social, et la variété des cultures sans rendre imperméable l'une à l'autre. Hier wurde im Deutschen die Übersetzung aus Caillé, Anthropologie der Gabe, S. 173 verwendet. In der deut­schen Ausgabe Philosophischer Essays, die von Christian Bermes bearbeitet wurde, lautet das Zitat: „Indem er das Soziale als Symbolik begriff, schuf er sich eine Handhabe, die Realität des Individuums, die des sozia­len und die Verschiedenartigkeit der Kulturen zu respektieren, ohne eines gegen das andere abzudichten.“ Vgl. dazu: Maurice Merleau-Ponty: Von Mauss zu Claude Lévi-Strauss, in: ders.: Das Auge und der Geist: Philosophische Essays, neu bearbeitet, kommentiert und herausgegeben von Christian Bermes, Hamburg

2003, S. 225-241, S. 227.

[61] Caillé: Anthropologie der Gabe, S. 174.

[62] Ebd.

[63] Bruno Karsenti: Marcel Mauss: le fait soical total, Paris 1994, S. 87. Im französischen Original lautet das Zi­tat: „Ce que permet la notion de symbole, c'est en somme de dépasser la confrontation des réalités hypostasiées outrageusement par les sciences sociales: il n'y a plus, dans cette conception, ni individu ni société, mais seulment un système des signes qui, médiatisant les relations que chacun entretient avec chacun, construit dans un même mouvement la socialisation des individus et leur unification en un groupe.“ Hier wurde im Deutschen die Übersetzung aus Caillé, Anthropologie der Gabe, S. 175 verwendet.

[64] Marcel Mauss: Mentalité Archaïque et Catégories de Pensée, in: ders.: Œuvres: representation collectives et diversité des civilisation, Bd. 2, hrsg. von Victor Karady, Paris 1969a, S. 143-168, S. 151. Hier zitiert nach der Übersetzung in: Caillé: Die Anthropologie der Gabe, S. 176. Im französischen Original lautet das Zitat: „...car qui dit symbole dit signification commune pour les individus - naturellement groupés - qui acceptent ce symbole, qui ont choisi plus ou moins arbitrairement, avec unanimité, und onomatopée, un rite, une croyance, un mode de travail en commun, un thème musical, und danse. Il y a en tout accord une vérité subjective et une vérité objective; et, dans toute séquence d'accords symboliques, un minimum de réalité, a savoir la coordination de ces accords. Et même si symboles et chaînes de symboles ne correspondent qu'imaginairement et arbitrairement aux choses, ils correspondent au moins aux humains qui les comprennent et y croient, et pour lesquels ils servent d'expression totale à la fois de ces choses et de leurs sciences, de leur logiques, de leur techniques, en même temps que de leurs arts, de leur affectivités“

[65] Ebd. Hier zitiert nach der Übersetzung in: Caillé: Die Anthropologie der Gabe, S. 176. Im französischen Ori­ginal lautet das Zitat: „...qu'il n'y a symbole que parce qu'il y a communion, et que le fait de la communion crée un lien qui peut donner l'illusion du réel, mais qui est déjà du réel.“

[66] Caillé: Die Anthropologie derGabe, S. 181.

[67] Ebd.

[68] Ebd., S. 182.

[69] Ebd.

[70] Ebd., S. 51.

[71] Vgl. dazu: Marcel Mauss: In memoriam Antoine Meillet (1866-1936). In: ders.: Œuvres: Cohésion Sociales et Division de la Sociologie, Bd. 3, hrsg. von Victor Karady, Paris 1969b, S. 548-556, S.550.

[72] Caillé: Die Anthropologie derGabe, S. 188.

[73] Vgl. Adloff; Papilloud: Herausforderung, S. 32.

[74] Vgl. Caillé: Die AnthropologiederGabe, S.190.

[75] Gemeintisteine Allianz.

[76] Caillé: Die Anthropologie der Gabe, S. 197 (Hervorhebung im Original).

[77] Maurice Godelier: Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte, München 1999, S. 18.

[78] Vgl. dazu ebd., S. 52.

[79] Ebd., S. 55.

[80] Ebd.

Ende der Leseprobe aus 73 Seiten

Details

Titel
Die Gabe in der epischen Literatur des Mittelalters
Hochschule
Karlsruher Institut für Technologie (KIT)  (Institut für Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
Examen
Note
1,5
Jahr
2011
Seiten
73
Katalognummer
V210772
ISBN (eBook)
9783656383796
ISBN (Buch)
9783656383918
Dateigröße
713 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kudrun, Nibelungenlied, Gabe, Mittelalter, Kulturanthropologie, Ethnologie, Geschenke, Geschenktheorie
Arbeit zitieren
Anonym, 2011, Die Gabe in der epischen Literatur des Mittelalters, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/210772

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