Entwicklung und Veränderung von Fußball-Fankulturen aufgrund von Überkommerzialisierung und -medialisierung


Diplomarbeit, 2003

158 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung- Abgrenzung und Zielsetzung

2. Fußball als Massensport- Entstehung der ersten Fankulturen
2.1) Großbritannien als Mutterland des modernen Fußballs
2.2) Beginn der Kommerzialisierung
2.3) Entwicklung des Spiels in Deutschland
2.4) Entwicklung des modernen Fußballs in Italien

3. Kommerzialisierung und Medialisierung im modernen Fußballsport
3.1) Der Durchbruch des kommerziellen Fußballs
3.2) Krise in den 70er Jahren – Entfremdung der Spieler
3.3) Gewalt, Katastrophen und ihre Konsequenzen
3.3.1) Gewalt und die Berichterstattung in den Medien vor Heysel
3.3.2) Katastrophen
3.3.3) Gründe für die Katastrophen
3.3.4) Konsequenzen für den Fußball & die Fans – Taylor Report und ‚Thatcherismus’ in Großbritannien
3.3.5) Stadionsicherheit der 90er Jahre in Deutschland
3.3.6) Veränderung der Fankultur nach den Katastrophen
3.4) Ware Fußball – Sponsoren, Merchandising und Co
3.4.1) Sponsoring
3.4.2) Zahlen und Fakten- Etats, Umsätze und AGs
3.4.3) Merchandising
3.4.4) Internationalisierung im Fußballsport
3.4.5) Das Bosman-Urteil – Konsequenzen für Klubs und Fans
3.4.6) Exkurs: ‚Kirch-Pleite’als Konsequenz der Überkommerzialisierung und Übermedialisierung
3.5) Fußball als Rohstoff für das Fernsehen – mediale Massenspektakel
3.5.1) Fußball im Fernsehen – eine eigene Medienrealität
3.6) Medien und Kommerz – eine abschließende Betrachtung

4. Die Welt der Fans
4.1) Ausdifferenzierung der Fanszene
4.2) Ultras
4.2.1) Sheffield & Co. – die Geburt der ‚Ultras’ in Deutschland?
4.2.2) ‚Ultras’- eine neue Fankultur
4.2.3) ‚Ultras’ in Italien in den 60er und 70er Jahren
4.2.4) ‚Ultras’ in den 80er und 90er Jahren in Italien
4.2.5) Der übernommene Ultrà-Gedanken aus Italien
4.2.6) ‚Ultras’ in Deutschland
4.3) Die Professionalisierungsthese
4.4) Bündnis aktiver Fußballfans- BAFF
4.5) Fan-Initiative ‚PRO-FANS’

5. Schlussbetrachtungen und –folgerungen
5.1) Fans im Sog von Kommerz und Medialisierung
5.2) Der ‚sich-selbst-inszenierende Protestfan’
5.3) Zusammenfassung

6. Literaturverzeichnis

7. ANHANG

1. Einleitung- Abgrenzung und Zielsetzung

Auch wenn man vielleicht denken würde, Kommerzialisierung im Fußball und der Einfluss der Medien sind keine Phänomene, die erst in der letzten Jahren in den Sport Einzug gehalten haben, muss man festhalten, dass es schon lange bevor der Fußball zum Massensport wurde und somit das Interesse der Medien weckte, Tendenzen der ersten Kommerzialisierung gab. Gastwirte stellten in England ihre Gasthäuser als Umkleidekabinen zur Verfügung und diese fungierten auch als Treffpunkt für Spieler und Zuschauer. Damals war es wie heute: je erfolgreicher der Klub, desto mehr ‚durstige Kehlen’ gab es zu versorgen. Damit ist die Kommerzialisierung des Fußballs annähernd so alt wie die Vereine selbst. Zum Zuschauersport entwickelte sich der Ballsport in der Zeit der Industrialisierung, als auch die Arbeiterklasse mehr Freizeit für sich beanspruchen konnte.

Durch den Boom des Fußballs entwickelten sich auch eigene Fankulturen, die bis heute noch existent sind. Anfänge machten die legendären Stehplatztribünen ‚The Kop’ und ‚Stretford End’ in Liverpool bzw. Manchester, gefolgt von den enthusiastischen Fans in Italien, dem Fanzuwachs in Deutschland speziell durch die Europapokalerfolge des FC Bayern München, bis hin zum Hooligantum der 80er und 90er Jahre.

Es wurden schon sehr viele Bücher zum Thema Fußball und Medien veröffentlicht. Wissenschaftlich beschäftigten sich Pädagogen, Psychologen oder Soziologen mit dem ‚Volkssport’, der ‚schönsten Nebensache der Welt’. Doch meines Erachtens waren selten die Fans in der Kurve Gegenstand des untersuchten Bereichs. Klischees vom prügelnden, saufenden Idioten, forciert durch die Berichterstattung in den Medien, hielten sich in Veröffentlichungen hartnäckig bis Mitte der 90er Jahre. Erst von da ab gab es erste Untersuchungen, die den Fußballfan nicht vorurteilhaft belegten, sondern ihren Drang nach Eigenbestimmung und Identifikation zum ‚Fan-Sein’ darstellten. Aber auch in diesem Zusammenhang der ‚neuen’ Fankultur spielen die Medien, vor allem aber das Fernsehen, eine große Rolle.

In der vorliegenden Arbeit soll es deshalb nicht speziell und ausschließlich darum gehen, den ‚Fan’ als solchen beim Fußball zu charakterisieren oder gar eine neue Hooligan-Diskussion zu entfachen. Ich denke, dass vor allem in der Literatur in den 70er und 80er Jahren diese Subkulturen zu genüge behandelt worden sind und daher auch den Rahmen sprengen würden. Trotzdem werden sie Bestandteil einer Arbeit sein, die sich darauf beziehen soll, inwieweit Medien und die dadurch immer kommerzialisierte Fußballwelt Einfluss auf die Entwicklung und Veränderung dieser verschiedensten Fankulturen haben und hatten. Des Weiteren möchte ich auch nicht zu tief in die Forschungssituation der Massenmedien eindringen, da ich hier lediglich das Verhältnis Fans- Vereine- Medien behandeln möchte mit den jeweiligen differenzierten Beziehungen zueinander. Um aufgrund der Komplexität des Themas nicht vom ‚roten Faden’ abzuweichen, kann und werde ich nicht auf einzelne Sachverhalte tiefergründig eingehen können.

Die Arbeit ist in vier Hauptteile gegliedert.

Im ersten Teil stelle ich deskriptiv die geschichtliche Entwicklung des modernen Fußballs in Großbritannien, Italien und Deutschland dar. Dieser Teil dient als Grundlage für weitere Überlegungen. Die Gründe, weshalb ich mich auf diese drei europäischen Länder konzentriere, hat eine einfache Begründung: alle drei haben in einem entscheidenden Maße die heutige deutsche Fußballfankultur beeinflusst und mitgestaltet. Der Aufstieg des Spiels als Sinnbild der britischen Arbeiterklasse, die Verbreitung des Profitums und der Kommerzialisierung in den traditionell verankerten Klubs, die Katastrophen in den 80er Jahren, die ‚Versitzplatzung’ , aber auch die farbenträchtigen Fankurven und sich feiernde Anhänger am Höhepunkt der Ultrà-Bewegung in Italien, sind geschichtliche Ereignisse, die noch heute in Deutschland an neuen Fanbewegungen haften bleiben.

Der zweite Teil beschäftigt sich mit den Kommerzialisierungs- und Medialisierungstendenzen im Fußballsport. Angefangen mit dem Durchbruch des kommerziellen Fußballs, über die krisenhaften Entwicklungen des medialisierten Spiels in den 70er und 80er Jahren, bei denen das Hauptaugenmerk auf den für die Entwicklung der gesamten Fanszene in Europa einschneidenden Ereignissen von Brüssel und Hillsborough liegen soll, bis hin zur heutigen Übermedialisierung und -kommerzialisierung im lukrativen Fußballgeschäft. In diesem Zusammenhang werde ich versuchen aufzuzeigen, welche Rolle Variablen wie Sponsoring, Merchandising, Internationalisierung des Fußball oder auch das Bosman-Urteil oder die aktuelle Kirch-Krise in der Fußballwelt haben und welchen Einfluss sie auf die Vereine und insbesondere auf die Fans im Stadion haben. Zusätzlich möchte ich darstellen, was der Unterschied zwischen Fernseh-Fußball und Fußball live im Stadion ist und was die Eigenschaften beider Phänomene ausmachen.

Anknüpfend an die theoretischen Erkenntnisse und Überlegungen bezüglich der Medien und des Kommerzes werde ich mich im dritten Abschnitt der Welt der Fans zuwenden. Diesem Abschnitt zugrunde liegt eine Ausdifferenzierung der Fanszene, die helfen soll, Unterschiede der Fanbewegungen in der heutigen Zeit offen zu legen, um gleichzeitig eine Grundlage für eine spätere Definition oder Kategorisierung der Fankultur der Ultras zu schaffen. Unterstützend arbeite ich mit einer Übertragung der sogenannten Professionalisierungsthese, die ursprünglich an Hooligans angewandt wurde, aber mit Einschränkungen auch hilfreich für eine spätere Ultrà-Definition ist.

Ultras werden wie erwähnt die tragende Rolle in dieser Arbeit spielen, da sie als aktuellste Entwicklung der Fußballfanbewegungen anzusehen ist und wie keine andere Fankultur so deutlich Bezug zu dem ‚Topic’ der Übermedialisierung und –kommerzialisierung nimmt und dagegen protestiert. Da mir eine lückenlose Aufklärung bzw. Darstellung über Ultras als ein sehr wichtiges Element erscheint, sollen unter Punkt 4 die Wurzeln der Ultras untersucht und beleuchtet werden, wie die Ultras sich im Laufe der Jahre in Italien entwickelten und in der Gesellschaft etablierten, vor allem aber wie diese Protestbewegung den Weg auch in deutsche Stadien schaffte. Die Faninitiativen ‚Pro Fans’ und das ‚Bündnis aktiver Fußballfans’ werden als Beispiele für die Realisierung einer überregionalen Plattform für Fans und Ultras vorgestellt, da sie als Sprachrohr für die Proteste und Aktionen der Fankulturen mittlerweile unerlässlich geworden sind.

Im vierten Hauptteil werde ich abschließend versuchen, Verbindungen der vorherigen Punkte zu knüpfen, um so zu meiner folgenden Arbeitshypothese zurückkommen zu können. Diese möchte ich aufgrund einer neuaufgestellten Definition über die Fanbewegung der Ultras überprüfen, um darzustellen, welche eventuellen Gründe zu dieser neuerlichen Entwicklung in deutschen Stadien führten.

Aus diesen Überlegungen heraus möchte ich im Laufe dieser Arbeit meine Arbeitshypothese überprüfen, die lauten soll:

Neue Fußballfankulturen (hier: ‚Ultras’) entstehen und verändern sich nicht als eine zyklische Modeerscheinung, sondern sind Produkt des Protestes gegen Überkommerzialisierung, Übermedialisierung und der Entfremdung gegenüber Verein, Verband und Spielern im Fußballsport.

Ziel ist es also, die oftmals unterschätzten Zusammenhänge zwischen den Fans und den Medien (mit den multidimensionalen Verknüpfungen zu den Vereinen und Sponsoren) darzustellen und welche Konsequenzen und Folgen dies für einen Sport hat, der immer mehr von seinem alten ‚Flair’ zu verlieren scheint. Hauptuntersuchungsgegenstand wird die Fanbewegung der ‚Ultras’ sein, die sich insbesondere in Deutschland in den letzten Jahren rasant entwickelt hat.

Diese Diplomarbeit soll auch auf einem persönlichen Erfahrungsgrundschatz aufgebaut werden. Deshalb wird es schwer für mich sein, jegliche Gefühle bei dieser wissenschaftlichen Arbeit außen vor zu lassen. Seit 1999 fahre ich selbst regelmäßig zu vielen Auswärtsspielen des FC Bayern München. Viele der hier theoretisch aufgezeigten Fanverhalten oder Verhalten gegenüber Fans waren Teil der Erfahrungen von knapp 150-200 Spielen, die ich im Stadion live verfolgt habe. Auch ich war und bin Teil der Stehplatzfankultur in den deutschen Stadien. Trotzdem soll es nicht meine Intention sein, die hier untersuchte Fanbewegung der Ultras zu verurteilen oder sie als ‚Nonplusultra’ in den Himmel zu loben. Ich werde versuchen, sachlich, wenn auch nicht ohne jegliche Wertung, an dieses Thema heranzugehen. Ich selbst bezeichne mich nicht als Ultrà, obwohl ich beteiligt war bei der Gründung der Münchner Ultrà-Gruppierung ‚Schickeria München’. Vielleicht wird dieses kurze persönliche Statement von mir einigen Lesern deutlich machen, ‚wie’ sie diese Arbeit lesen und in Hinblick auf den Autor interpretieren können. Denn egal wie sehr man versucht, ein komplett wertneutrales Bild in diese Untersuchung hinein zu zeichnen, man ist irgendwie als Beteiligter immer bewusst oder unbewusst involviert in die Prozesse jener Fußballfankultur.

2. Fußball als Massensport- Entstehung der ersten Fankulturen

2.1) Großbritannien als Mutterland des modernen Fußballs

Zu Beginn des 21.Jahrhunderts ist der Fußball einer der beliebtesten und weitverbreitetsten Sportarten der Welt. Um ansatzweise verstehen zu können, warum dieses Spiel so eine enorme Bedeutung im Leben von Millionen Fußballfans hat, muss man die historische Entwicklung der Zuschauerbegeisterung näher betrachten.

Dabei möchte ich mich bei meinen Ausführungen insbesondere auf die Zeit konzentrieren, als Fußball sich zum Massensport entwickelte. Ich halte diesen Teil für unerlässlich, da man nur so einen Einblick gewinnt, wieso im Laufe der Jahrzehnte immer wieder neue Zuschauergruppen die Stadien Europas füllten. Erst durch die Etablierung der unteren Bevölkerungsschichten und damit verbunden der Stehplatzkurven in den Stadien, konnten sich Fangruppen bilden, die sich in ihrer Art und Weise von dem Rest des Publikums im Fußballstadion abhoben. Der geschichtliche Abriss des modernen Fußballs ist gleichzeitig eine Deskription über den Wandel der Fans bzw. der Zuschauer. Ohne die allgemeine ‚Evolution’ des Fußballs in Großbritannien und Deutschland aufzuzeigen, wäre es ebenso nicht möglich, die Entwicklung des Fandaseins bis in die heutige Zeit nachzuzeichnen oder gar zu verstehen. In diesem Zusammenhang möchte ich die etwas gewagte These aufstellen, dass das englische Proletariat, das den Fußball für sich entdeckte, der geschichtliche Ursprung der Dortmunder Südtribüne oder der Münchener Südkurve ist. Wie diese geschichtlichen Ereignisse sich auf den heutigen Fan ausgewirkt haben, möchte ich in den folgenden Punkten näher behandeln.

Über Jahrhunderte hinweg gab es in Großbritannien, dem vermeintlichen ‚Mutterland’ des Fußballs, kein explizites Regelwerk, sondern das Spiel basierte „auf simplen, ungeschriebenen Gewohnheitsregeln“.[1] Diese Art von Fußball hatte mit dem modernen Sport, wie wir ihn kennen, recht wenig zu tun. Oftmals traten ohne Begrenzung des Spielfelds oder der Spieldauer ganze Dörfer oder Gemeinden gegeneinander an.

Außerdem spielte man damals sehr brutal und rau, schwere Verletzungen waren daher nicht von Seltenheit.[2] Ähnlich äußerte sich 1831 ein ehemaliger Schüler der Eton- Public School: „Ich halte das Fußballspiel nicht für gentlemanlike. Die einfachen Leute von Yorkshire mögen es ganz besonders und tragen dazu Schuhe, die vorne mit Eisen beschlagen sind und dadurch die Heftigkeit der Tritte schon manchen Todesfall verursacht haben.“[3]

Das Spiel wurde vornehmlich von ‚Bauernlümmeln’ und Gesellen betrieben, während sich die Aristokratie und die Bürger von ihm fernhielten . „Der Niedergang dieser frühen Form des Fußballs korrespondierte mit dem Vormarsch der industriellen Revolution, die die Unterklassen in ein drakonisches Fabriksystem presste und für das wilde und unregulierte Volksspiel […] keine Gelegenheit mehr ließ.[4] Somit verlor der Sport in den Unterklassen zwangsläufig aufgrund der langen Arbeitszeiten wieder seine Bedeutung und Fußball wurde von den ‚public schools’[5] aufgegriffen, die dem rohen Volkssport ein Regelwerk auferlegten. Somit sind in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Wurzeln für das Spiel in seiner heutigen Art und Weise zu finden.

Damit verdankt paradoxerweise der Fußball „sein Weiterleben und seine Wiederbelebung ausgerechnet den Söhnen jener Adligen und Besitzbürger, die ihn längst als plebejisch abgelehnt hatten.[6] Aber auch dort war anfänglich der Sport noch äußerst brutal und wild. Dies änderte sich allmählich mit der Kodifizierung von Regeln. Aber in den einzelnen Public Schools entwickelte sich das Fußballspiel sehr unterschiedlich. 1845 wurde erstmals ein schriftliches Regelwerk verfasst, ‚The Law of Football as Played in Rugby School’. Das Spiel sollte dadurch seine brutalen Züge verlieren und anstelle eines realen Kampfes schuf man einen Wettkampf auf höherem Zivilisationsniveau. Ein Jahr später legte Cambridge ihre eigenen Regeln vor und 1849 veröffentlichte die Public School in Eton ihr Regelwerk, welches unter anderem auch das Verbot des Handspiels beinhaltete.[7]

Folglich gab es an den verschiedenen Public Schools auch unterschiedliche Regeln und so herrschten Rivalitäten und Streitigkeiten zwischen den Eliteschulen. „Die Formulierung unterschiedlicher Regelwerke war vor allem Folge von Statusrivalitäten zwischen den einzelnen Public Schools, die wiederum […] Resultat der industrialisierungsbedingten Spannungen zwischen der traditionellen Oberklasse und den aufstrebenden bürgerlichen Mittelklassen waren.[8]

Die Schulen waren aber dennoch bereit, sich an einen Tisch zu setzen und aus einer Reihe von Treffen und Versammlungen entstand 1863 in London die Football Association (FA). Elf Londoner Fußballclubs waren am 26.Oktober zusammengekommen, um allgemein verbindliche Regeln zu entwerfen.

Die Einladung ging von Ebenezer Morley aus, der den Anlass treffend beschrieb: „…einen Verband mit dem Ziel zu gründen, ein festes Regelwerk zu schaffen und das Spiel so in eine feste Ordnung zu bringen.[9]

Association-Football bzw. ‚Soccer’, wie es seit ca.1890 in der Studentensprache hieß, erfreute sich durch das eingeführte Regelwerk immer rascherem Zuspruch. Ein wichtiger Beitrag dafür war sicherlich auch 1871 die Einführung des ‚FA-Cups’, dem Pokalwettbewerb.[10]

Seinen Aufstieg verdankte der Fußball vor allem den Änderungen in der alltäglichen Arbeit des Proletariats und dem herrschenden Klassenkampf in Großbritannien zu jener Zeit. „Die Entwicklung des Fußballs vom Volksspiel zum modernen Sportspiel wurde von der industriellen Revolution und dem Klassenkampf zwischen Aristokratie und Gentry auf der einen und dem aufstrebenden Bürgertum auf der anderen Seite angetrieben. England wurde als Mutterland der industriellen Revolution zugleich auch zur Wiege des organisierten Sports, der zunächst allerdings nur ein Reservat und Privileg der Oberklasse war. Seine internationale Verbreitung war eine Begleiterscheinung des britischen Imperialismus.[11] Somit festigte sich das Ansehen der FA, was auch an den Mitgliedszahlen zu erkennen war: 1871 zählte die Association noch 50 Clubs, hingegen waren es 1888 bereits 1000 und 1905 schon 10.000.

In diesen Jahren wandelte sich auch die gesellschaftliche Zusammensetzung der Clubs. Es fand sozusagen eine ‚Reproletarisierung’ des Sports statt. Die Public Schools traten mehr und mehr in den Hintergrund und neue Clubs, besonders aus dem industriellen Norden Englands, taten sich hervor. Diese Vereine wurden vor allem für die Arbeiter, Handwerker und Angestellte ins Leben gerufen.[12]

Die Ausbreitung des Fußballs bewirkte somit eine Veränderung der sozialen Basis. 1863, bei der Gründung der FA, stammten die meisten Gründungsmitglieder aus gut situierten bürgerlichen Familien. Jetzt kam die ‚lower middle class’ und die ‚working class’ dazu.[13] Begünstigt wurde diese Entwicklung insbesondere durch neue Fabrikgesetze (‚factory acts’), die der Arbeiterklasse mehr Freizeit verschaffte. Die Industrialisierung schuf eine klare Trennlinie zwischen Arbeit und Freizeit.

Statt zwölf oder vierzehn Stunden zu arbeiten, reduzierte sich der Arbeitstag auf zehn Stunden, außerdem war der Samstagnachmittag frei.[14] Die Verkürzung der Arbeitszeit bedeutete mehr Freizeit. Andererseits „nahm ein Fußballspiel weit weniger Zeit in Anspruch als eine Cricketveranstaltung. Außerdem war der Fußball ein leicht verständliches und ‚demokratisches’ Spiel. ‚Demokratisch’ in dem Sinne, dass er billig war.“[15] 1883 konnte dann zum ersten Mal in der Geschichte des Cup-Wettbewerbs ein Arbeiterverein den FA-Cup für sich entscheiden.

Blackburn Olympic[16] besiegte die Old Etonians mit 2:1 und die Dominanz der Public School- und Universitätsteams war somit gebrochen. Danach konnte nie wieder ein Public Schools-Team das Cup-Finale erreichen. Sehr viele der Universitäten und Public Schools drehten dem Fußballspiel den Rücken zu und beschäftigten sich den ‚gentlemen’ angemesseneren Sportarten, um „den Kontakt mit den als bedrohlich empfundenen Massen zu vermeiden“.[17] Dadurch, dass sich zunehmend die soziale Herkunft der Spieler änderte, änderte sich ebenso die der Zuschauer. 1888 nahm die Football League ihren Spielbetrieb auf, als erste Fußball-Liga der Welt. Die Spieler gewannen an Routine, die Qualität wurde immer besser und das Zuschauerinteresse stieg enorm. Die Anhänger der Clubs solidarisierten sich mit den Spielern der Mannschaft, da sie zum Großteil aus dem gleichen gesellschaftlichen Milieu stammten. Viele der Vereine gingen aus schon „bestehenden Gemeinschaften wie Cricket Clubs, Kirchengemeinden, Werkstätten oder aus der Kneipengesellschaft hervor“.[18] Diese Vereinigungen wurden auch meist von Arbeitern für Arbeiter gegründet. Schon zu dieser Zeit entwickelte sich langsam eine eigene Fankultur. Die Zuschauer reisten zum Teil zu den Auswärtsspielen, präsentierten stolz ihre Vereinsfarben und mancher war auch den Raufereien und dem Alkohol nicht abgeneigt.[19] Die Zuschauerzahlen stiegen in dieser Zeit rasant. Kein anderer Sport sollte sich so schnell in den unteren Schichten verbreiten wie der Fußball.

Während der Vorherrschaft der Public Schools-Teams kamen zu den FA-Cup-Endspielen nie mehr als 4000 oder 5000 Menschen. 1884 besuchten 12.500 Zuschauer das Cup-Finale, 1888 waren es bereits 27.000, 1892 gar 45.000 und 1901 unglaubliche 110.000.[20]Das Fußballspiel machte sich schon damals auf den Weg zur Show, die den Zuschauern für ihr Geld etwas bieten mußte“.[21]

Es gibt einige Erklärungen, warum der Fußballsport vor allem in den unteren Klassen immer beliebter wurde und sich letztendlich auch gegenüber dem ‚ungeliebten Bruder’ Rugby durchsetzte. Als erstes Argument kann man anführen, dass man beim Fußball nur elf Spieler benötigt und nicht 15 wie beim Rugby. Der Fußballhistoriker Morris Marples begründete die Vorteile durch die Einfachheit des Spiels: „Soccer eignet sich hervorragend dazu, damit eine halbe Stunde Freizeit unter allen möglichen Bedingungen an allen möglichen Orten auszufüllen. Für Rugby benötigt man weichen Rasen und die Spieler mußten sich umziehen, wenn ihre Kleidung nicht in Fetzen gehen sollte. Soccer konnte man dagegen überall spielen und die Kleidung brauchte man nicht zu wechseln. […].[22] Ebenso argumentierte Marples´ Kollege Malvin, der auch die örtlichen Vorteile von Fußball aufzeigte und zusammenfasste: „Fußball war einfach zu spielen, leicht zu begreifen und konnte auf jeder Art von Boden unter jeder Art von Bedingungen gespielt werden.[23] Eine weitere Erklärung dürfte die Monotonie und Entfremdung der industriellen Arbeit sein. „Fußball verlangte physischen Einsatz, etwas, was den proletarischen Spielern von ihrer Arbeit her bekannt war, war aber- im Gegensatz zur Industriearbeit- doch ein Spiel. […] Fußball ermöglichte auch die Entfesselung einer ansonsten vom politischen und ökonomischen System unterdrückten Kreativität und Intelligenz. […] Das Fußballfeld wurde aber auch zur Bühne, auf der Jugendliche aus der Arbeiterschaft sich in ‚geistiger’ (genauer: spielerischer) Hinsicht frei entfalten konnten.[24] Ein weiterer wichtiger Aspekt ist sicherlich auch das Gemeinschaftsgefühl und die Gruppensolidarität, die Fußball als Mannschaftssport mit sich brachte. Des Weiteren sollte man auch berücksichtigen, dass dieses Spiel die Möglichkeit eröffnete, der Realität der stumpfen Industriearbeit ein wenig zu entfliehen.[25]

2.2) Beginn der Kommerzialisierung

Die Gründerväter der FA hatten weder gewollt noch vorausgesehen, daß ihr Sport einmal ein Beruf werden würde. Aber sie hatten sich auch keine Vorstellung davon gemacht, wie populär er einmal werden sollte.[26]

In den Siebzigern und Achtzigern des 19.Jahrhunderts wurde von den Clubs damit begonnen, die steigende Zuschaueranzahl kommerziell auszunutzen und Eintrittspreise wurden für den Besuch des Stadions erhoben. Eintrittsgelder entwickelten sich schnell zu einer guten und lukrativen Einnahmequelle für die Clubs, die zum Teil schon von ortsansässigen Geschäftsleuten ‚gemanaged’ wurden. Im Gründungsjahr der FA, 1863, betrugen die Einnahmen noch läppische fünf Pfund. 1904 schnellten diese auf 17.000 Pfund. Bereits in den 80er Jahren waren viele Spieler heimliche Profis. Anfangs versuchten die überzeugten Amateure die Berufsspieler durch Sperren oder Disqualifikationen zu stigmatisieren, aber 1885 wurde die Bezahlung von Fußballspieler legal und offiziell erlaubt. 1901 schaffte die FA sogar die eingeführte Regelung einer Gehaltsobergrenze ab.[27]Der professionelle Fußball wurde von den herrschenden Klassen […] abgelehnt, weil er sich mehr und mehr zu einem proletarischen Massenspektakel entwickelte.[28] Treffend beschrieb die traditionelle Fußballzeitschrift ‚Football Crowd’ 1927: „Die oberen Klassen, die an den Spielen der Schulen und Universitäten starken Anteil nehmen, meiden in der Regel die kommerziellen Sportarenen. […][29] Die Etablierung des Profifußballs war somit eine Errungenschaft der Arbeiterklasse.

Diese Professionalisierung machte es den Clubs erst möglich, mit den Vereinen aus der Mittel- oder Oberschicht zu konkurrieren.

Ein weiterer ‚Meilenstein’ in diesem Zusammenhang ist sicherlich auch die Einführung der nationalen Liga in England, denn nur durch den FA-Cup hätte das Profigeschäft nicht überleben können, da das K.O.-System nicht genug und kontinuierlich Geld abwerfen konnte. Die Liga mit ihrem ‚jeder-gegen-jeden-System’ garantierte Einnahmen über das ganze Fußballjahr. Jedoch muss erwähnt werden, dass die Mannschaften zu dieser Zeit zwar schon kommerzielle Unternehmen waren, diese aber jedoch nicht kapitalistisch ausgerichtet waren. Es gab noch kein großes Interesse an der persönlichen Bereicherung, sondern die Vereine wollten sich bekannt machen, ihr Prestige erhöhen oder hatten einfach nur Spaß am Spiel.[30]

Der Fußball sollte also zur „Vergnügungsbranche des kleinen Mannes[31] werden. Begünstigt wurde dieses Phänomen auch durch die Tatsache, dass sich in England das Transportsystem schnell entwickelte und der Besuch von Auswärtsspielen möglich wurde. Der Fußball etablierte sogar eine eigene Industrie, die nicht nur aus Zuschauereinnahmen bestand. Es entstanden die ersten Zeitschriften und die Fußballsammelbildchen eroberten den Markt.[32] Trotzdem wurde das meiste Geld durch Wetten eingenommen. Dies hatte zur Folge, dass sich nun auch erstmals Frauen für den bisherigen ‚Männersport’ interessierten und sehen wollten, wie die Chancen für Siege etwa von Manchester oder Liverpool standen. „Die Fußball-Community erfuhr so eine beträchtliche Ausbreitung, ähnlich der, die später durch das Fernsehen bewirkt wurde. Der Fußball entwickelte sich zu einer ‚ national industry “.[33] Die Zeitung ‚ The Times’ konstatierte 1937: „Die Pools, das Transfersystem und die Zuschauereinnahmen haben den Fußball in eine nationale Industrie verwandelt.[34] Die Kommerzialisierung des Spiels war damals ein Projekt der jeweiligen lokalen Geschäftswelt - und dies nicht nur der höheren Ebene, sondern auch der mittleren und unteren. Es existierte ein direkter sozialer Bezug zum proletarischen Milieu. Kneipiers und Kleinunternehmer waren am Fußballgeschäft beteiligt und stammten selbst meistens aus proletarischen Verhältnissen.

Sie wickelten ihre Geschäfte in den Arbeitervierteln ab, blieben jedoch auch Teil des dortigen kulturellen Milieus.[35]

Durch die rasante Entwicklung zum lukrativen Zuschauersport änderte sich auch das Erscheinungsbild der Stadien. Um Eintrittsgelder zu garantieren, wurde nicht auf den Komfort geachtet, sondern man errichtete um die Plätze herum Zäune und Mauern. Es folgten Tribünen, deren Kapazität aber noch gering ausfiel. Das ‚gemeine Volk’ versammelte sich auf der Gegengeraden, die unüberdacht war und nur aus Stehplätzen bestand. „Die Kurven beherbergten die preiswertesten Plätze, weshalb sich hier viele Menschen aus den Unterschichten und junge Leute versammelten, die eine eigene ‚Kurven-Kultur’ begründeten. Dies bedingte die Entwicklung eines ‚kulturellen Arguments’ für die Kurve, das heute vielleicht bedeutender denn je ist. Viele Menschen ziehen die Kurve der Geraden und dem Sitzplatz nicht allein aus finanziellen Erwägungen vor, sondern auch, weil dort die ‚wahren’ Fans stehen und erheblich mehr Stimmung herrscht.“[36] Je mehr das professionelle Spiel, das sich als Teil der Arbeiterkultur entwickelt hatte, gedieh, desto mehr wurden die Klassenschranken überschritten. Der Profifußball gehörte zu dieser Zeit zu „einer in der Entstehung begriffenen modernen Freizeitkultur.“[37] Es war aber stets etwas mehr. Fußball konnte ‚local heroes’ erzeugen, die die lokale Loyalität und die Identitäten der Region widerspiegelten. Fußball wurde Teil der Nationalkultur. Die Zuschauerzahlen boomten vor allem in den 30er Jahren und nach den beiden Weltkriegen. „Der örtliche Profiklub war in diesen Jahren eine feste Institution der Arbeiterkultur.[38] Trotz des ungebrochenen Aufstiegs des Fußballs zum Nationalsport, der bis Mitte der 60er Jahre andauerte, wurde das Samstagnachmittagsspiel aufgrund von den Transaktionen außerhalb des Stadionrundes, also Spielerverkäufe, Einnahmen aus Medienverträgen, Sponsorengelder und Marketingprodukte, nicht mehr zu einem preiswerten Vergnügen.[39]

2.3) Entwicklung des Spiels in Deutschland

„Der Vertragsspieler arbeitete in der Regel täglich acht Stunden, manchmal auch weniger, aber das bedeutete Lohnabzug, der mit Vertragsspielergehalt kompensiert wurde.“ (Dietrich Schulze-Marmeling, 2000)[40]

Die Entwicklung des modernen Fußballs ging einher mit der Entwicklung der Industrialisierung. England war den anderen europäischen Ländern zu Beginn genauso viel voraus, wie bei der industriellen Revolution. „Diese Gleichzeitigkeit war kein Zufall, sondern signalisiert einen engen Zusammenhang zwischen dem gesellschaftlich-ökonomischen Wandel und dem Spiel.“[41] So war für Fußball auch in Deutschland die Basis errichtet, um zu einem Massensport zu werden. Die Entwicklung verlief jedoch viel schleppender. Das Fußballspiel gelangte nach Deutschland schätzungsweise in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Englische Studenten oder Geschäftsleute brachten das Spiel auf das europäische Festland.

Ein Grund, warum sich der Sport in der Anfangszeit nicht so gut entwickeln konnte war sicherlich, dass Mannschaftsballspiele keine vorindustriellen Traditionen besaßen. Dies belegen auch die Zuschauerzahlen und Mitgliederzahlen des DFBs, der 1900 gegründet wurde. Zum ersten inoffiziellen Länderspiel gegen England, das 2:13 verloren wurde, kamen keine 1500 Menschen. Das erste Endspiel um die Deutsche Meisterschaft 1903 sahen auch nicht mehr als 2000 Zuschauer.[42] Der DFB begann mit 86 Vereinen. 1906 standen 433 deutschen Vereinen 10.000 englische Clubs gegenüber. Die Mitgliederzahlen waren vor allem im Vergleich zum Deutschen Turnerbund (1905: 800.000, 1910: 1.080.000) sehr gering. 1905 gab es erst 14.000 Mitglieder. Dies steigerte sich bis 1910 auf 82.000.

Da der deutsche Fußball keine großen Traditionen in der Arbeiterklasse hatte, entwickelte er sich nicht nur quantitativ anders als in England, sondern auch soziologisch. Ab den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts wurden wie erwähnt die Studenten und Schüler als wichtigste Spielergruppe von den Arbeitern abgelöst.

In Deutschland spielten diese aber zunächst nicht so eine große Rolle. Zuerst spielten eher Schüler und Angestellte dieses Spiel und erst ab 1914 zunehmend Arbeiter.

Ein weiterer Aspekt, dass das moderne Fußballspiel erst nach Jahrzehnten akzeptiert wurde war, dass sich Deutschland bekanntermaßen im Mehrfrontenkrieg gegen mächtige Gegner befand, die ihrerseits versuchten, alles ‚Undeutsche’ aus dem Deutschen Reich fernzuhalten. Fußball wurde in den ersten Jahren nur in Schulen gespielt und wurde auch als das ‚Schulspiel’ belächelt. Der stärkste Widerstand gegen den Fußball kam aber aus den eigenen Reihen. Der Deutsche Turnerbund bevorzugte eher ‚urdeutsche’ Spiele wie Schlag- oder Faustball.[43] Vorreiter im Kampf gegen die ‚englische Krankheit` war der Stuttgarter Gymnasialprofessor und Turnlehrer Karl Planck, der 1889 in seiner Hetzschrift ‚Fußlümmelei, Über Stauchballspiel und englische Krankheit’ (Bild siehe Anhang, d.V.) von einem ‚englischen Aftersport’ sprach, der lächerlich, hässlich und widernatürlich sei.[44] An der Seite der Turnerlobby waren damals die Presse und Teile der Behörden. Insbesondere die Presse wetterte in der Frühzeit des Fußballs gegen diesen Sport. 1898 beklagt der deutsche Fußballpionier Heinekengrauen- und gruselerregende Berichte über die Rohheit das Fußballspiels und bissige Bemerkungen von Seiten der Redaktion“.[45]

Noch 1910 hieß es in einer ‚Horrormeldung’ in einer deutschen Zeitung: „Das Fußballspiel gleicht oft einer blutigen Kriegsschlacht. Fußtritte in den Unterleib…sind an der Tagesordnung.

Auch greift immer noch die Unsitte um sich, den Schiedsrichter mit Ziegelsteinen und Eisenstangen anzugreifen, wenn eine seiner Entscheidungen das Missfallen der spielenden Partei erregt. Häufig prügeln dann die Zuschauer mit, so daß selbst bewaffnete Polizei nicht imstande ist, Frieden zu stiften.[46]. Erst ab der Jahrhundertwende wurde das Fußballspiel in Deutschland gesellschaftsfähiger. Vor allem aufgrund der Sportfreudigkeit der Frontsoldaten, bekamen die Vereine des DFB nach dem Kriegsende einen nicht für möglich gehaltenen Zustrom. 1921 betrug die Mitgliederzahl schon enorme 780.500. In Deutschland besaß das Fußballspiel eine militärische Tradition. So wurden unter anderem Anhänger eines Vereins als ‚Schlachtenbummler’ bezeichnet. Das Militär war wesentlich beteiligt am gesellschaftlichen Aufstieg des Fußballs. Das Persönlichkeitsbild eines idealen Fußballspielers entsprach dem des modernen Soldaten. Vor allem die Sprache des Militärs ist dem Fußballspiel heute noch erhalten geblieben: Angriff, Abwehr, Flanke, Schuss, Bombe oder Granate sind gängige Begriffe im Fußballerjargon. So trafen sich die gegnerischen Mannschaften auch zu Schlachten und lieferten sich Kämpfe auf dem Schlachtfeld.[47] Aber auch die Zuschauerzahlen explodierten. Endspiele um die Deutsche Meisterschaft sahen mittlerweile 50.000 Zuschauer. Bei einem Freundschaftsspiel(!) zwischen Schalke 04 und Fortuna Düsseldorf in der Gelsenkirchener Glückauf-Kampfbahn kamen am 1.Juni 1931 über 70.000 Zuschauer. „Selbst die Fahnenstangen, die Bäume auf dem Wall, die Dächer der näheren Umgebung, ja sogar die Gasometer in der Nähe…dienten als günstige Ausgucksposten…In und auf den Fußballtoren hatten sogar Zuschauer Zuflucht genommen. Wie stark der Andrang war, mag auch noch daraus hervorgehen, daß die Betonmauer, die die Laufbahn vom Zuschauerraum abtrennt, glatt durchgebrochen wurde“.[48] Man stelle sich dieses Szenario einmal heutzutage bei einem Freundschaftsspiel vor.

Zehn Jahre später beschrieb der Sozialdemokrat Helmut Wagner das damalige Fußballgeschehen sehr treffend: „Massensport, das heißt heute: zweiundzwanzig spielen Fußball, Tausende und Zehntausende sehen zu. Sie stehen um das Spielfeld herum, kritisieren, johlen, pfeifen, geben ihr sachverständiges Urteil ab, feuern die Spieler an, bejubeln ihre Lieblinge, beklatschen einzelne Leistungen, reißen den Schiedsrichter herunter, fanatisieren sich, spielen innerlich mit. …Sie verfallen der Fußballpsychose, und sie benehmen sich auf dem Sportplatz, als hinge nicht nur ihr eigenes Wohl und Wehe der ganzen Welt von dem Ausgang dieses lumpigen Fußballspiels ab.[49] Ich denke, dass man dieses Zitat, das man in positiver und negativer Weise interpretieren kann, auch noch heute auf die Fankultur in den Kurven beziehen darf. Trotzdem sieht man daran auch, dass der Sport oder zumindest die Begleiterscheinungen zum Teil negativ behaftet waren.

Den größten Zuschauerboom konnte der Fußballsport in der Nachkriegszeit und in den frühen 50er Jahren verzeichnen. Dies war vor allem die Zeit der sogenannten ‚Derby-Ligen’. Dort kamen oftmals mehr Zuschauer und Fans als bei Spielen in oberen Ligen.

In diesen Jahren war die soziale Bindung zwischen den Zuschauern und den Spielern und Vereinen oft sogar noch enger als in England. Es wurden noch keine horrenden Gehälter bezahlt und die Spieler konnten vom Fußball allein nicht leben. Sie waren Menschen aus der gleichen Klasse und Region wie die Zuschauer und hatten als „lokaler Held und öffentlicher Repräsentant Ähnlichkeit mit dem Arbeiterkind, das zur Oberschule und (vielleicht sogar) zur Universität gehen durfte.[50] Es wurde den Spielern also meistens nicht übel genommen, wenn sie einen solchen Aufstieg schafften, sondern sie waren der ganze Stolz einer Gemeinde oder eines Stadtteils. Es bestand also eine sehr enge Verwurzelung aus der ‚Dreier-Beziehung’ Spieler-Verein-Fans. Damals wurde das Spiel auch noch nicht maßgebend von den Medien oder den Sponsoren beeinflusst.

Die Spieler waren sozusagen noch ein Teil der Zuschauer und der Region. Es gab noch keine hochbezahlten Stars, sondern die Spieler waren noch zum ‚Anfassen’. Sie waren in ihren Einkommensverhältnissen sozial und kulturell ihren Anhängern noch nahe. Besonders kam diese soziale Bindung zwischen Spielern und Zuschauern in den Städten des Ruhrgebiets zum Tragen. Vornehmlich dort wurden Vereine aus Cliquen von Jugendlichen aus einem Nachbarschaftsbezirk oder gar einer einzelnen Straße gegründet. Ein Beispiel hierfür ist der FC Schalke 04. Die andere Möglichkeit bestand darin, dass sich die Clubs aus bereits bestehenden Turn- oder Jünglingsvereinen rekrutierten, die sich dann häufig abspalteten und eine eigene Abteilung gründeten. So wie der Ballsportverein Borussia 09 Dortmund. „Diese Wurzeln deuten auf die enge soziale und kulturelle Beziehung zwischen Spielern und Zuschauern hin. Das Vereinsleben war ein unschätzbares und unverzichtbares Erfahrungsfeld von Kameradschaft und Solidarität.[51]

Dieses Solidaritätsgefühl spiegelt auch eine Aussage eines Mitgliedes von Schalke 04 zu dieser Zeit wider. „Wir waren eine Gemeinschaft, wie man sich das heute gar nicht mehr vorstellen kann. Alles hielt eisern zusammen. Jeder war für jeden da, wie in einer großen Familie. Eine Kameradschaft war das, sag´ ich ihnen, ein Zusammenhalt, das war wunderbar. Anders als heute…[52] Es war also ein Netz zwischenmenschlicher Beziehungen, die auch ausschlaggebend für die Zuschauerbegeisterung waren.

Vielleicht war es ein Vorteil, dass sich das Profitum erst so spät in Deutschland durchsetzen konnte. Der Amateurismus wurde als Ideologie angesehen. „Die fließenden Übergänge zwischen Athleten und Kombattanten konservierten den Charakter des Fußballspiels als ‚Kriegsspiel’. Im politischen Klima der jungen Weimarer Republik festigten sie zugleich sein Image als kulturelle Manifestation des bürgerlichen Revanchismus.[53]

Als Hauptgrund für die Unterdrückung der Kommerzialisierung durch die Verbände und den DFB war offensichtlich, dass die Spieler nicht für Geld und ihren eigenen Ruhm kämpfen sollten, sondern als Helden fürs Vaterland.

Wenn in Deutschland Berufsspiele stattfinden sollten, drohten immer wieder Boykott und Disqualifikationen. So stellte auch der Fanforscher Schulze-Marmeling fest, dass der deutsche Amateurismus eine Weltanschauung war, die „den Professionalismus als dekadente Entartung, besonders üble Form der materialistischen Verseuchung, Ausdruck eines unseligen Zeitgeistes etc. verurteilte und den Profisportler gewissermaßen in die Nähe der Prostitution stellte.[54]

Doch mit der immer weiteren Entwicklung hin zum Zuschauersport wurde es mit dem Berufspielertum nicht mehr so eng gesehen. 1949 verabschiedete der DFB ein ‚Vertragsspieler-Statut’ zur Legalisierung des bezahlten Fußballs.[55] Viele Delegierte hielten jedoch am Amateurideal fest und beharrten auf den Status des ‚Halb-Profis’. Sogar in der 1963 neu gegründeten Bundesliga war noch keine einheitliche Regelung zum Thema ‚Berufsspieler’ festgelegt. Gehälter, Prämien und Ablösesummen waren streng limitiert und reglementiert. Die monatlichen Gesamtbezüge durften im Regelfall nicht 1200 DM überschreiten. Im ersten Jahr der Bundesliga machten lediglich 34 Spieler den Fußball auch zu ihrem Beruf.[56]

Aber auch in Deutschland war die Kommerzialisierung und Medialisierung des Fußballsports langfristig nicht aufzuhalten.

2.4) Entwicklung des modernen Fußballs in Italien

„Die Pathologie des ‚tifoso’ hat die Symptome eines vorübergehenden Verlusts der Selbstkontrolle einer ansteckenden Leidenschaft, gegen die der Kranke nicht anzukämpfen vermag.“ (Der italienische Autor A. Fugardi 1966 über die ersten Erwähnungen der italienischen Fans.)[57]

Da die deutschen Fans und insbesondere die Ultras, ihr äußeres Erscheinungsbild und ihre Vorstellungen einer ‚heilen’ Fußballwelt in Teilen von den italienischen Ultras übernommen haben, halte ich es für unabdingbar, dass ich der Entwicklung der modernen Fußballs in Italien auch einen gewissen Stellenwert einräume. Jedoch muss berücksichtigt werden, dass in Deutschland die Entwicklung eines modernen kommerziellen Fußballs nie ohne die Ereignisse in Großbritannien stattgefunden hätte. Eine Fanszene in jedem europäischen Land ist somit verwurzelt mit den Fans auf den traditionellen Stehplatzterrassen in Großbritannien, die so etwas wie die Urväter der Ultras sind. In Italien wurde die Fanszene im Gegensatz zu Deutschland allerdings nicht so durch die blutigen Ereignisse in den 1980er Jahren beeinflusst.

Aus der Parallelentwicklung von Rugby und Soccer entwickelte sich in Italien bereits 1898 ein nationaler Fachverband, der Federazione Italiana de Football (FIF). 1909 wurde dieser Verband in die Federazione Italiana del Giuoco del Calcio (FIGC) umbenannt. Die Umbenennung in einen rein italienischen Namen war vor allem der Versuch einer national einheitlichen Organisation des Spiels. Waren in der Zeit um die Jahrhundertwende vor allem Wettkämpfe auf regionaler Ebene abgehalten worden, so trug der Erste Weltkrieg in Italien zur nationalen Ausbreitung bei.[58] Die geografische Konzentration war in Italien allerdings trotzdem noch sehr ausgeprägt. „Das Piemont mit Vercelli und Turin, die Lombardei und Ligurien hatten ein Monopol auf den Meistertitel und stellten im allgemeinen auch den Vorsitzenden des Fußballverbandes.[59] Rom und süditalienische Städte spielten zunächst überhaupt keine Rolle.

In manchen Großstädten avancierte Fußball jedoch schon zu einem „totalen gesellschaftlichen Phänomen“.[60] Es folgte eine rasche Entwicklung der Spielerzahlen in Italien. Dies hatte Konsequenzen für die regionalen Verbände. Es wurden erstmals Meisterschaften auf allen Ebenen durchgeführt, damit jeder Spieler an regulären Turnieren teilnehmen konnte. Außerdem wurden den weniger wohlhabenden Klubs Plätze zur Verfügung gestellt und den Elitevereinen von den Behörden ein „junges und mit den Spielregeln vertrautes Publikum zugeführt.[61] Auch die Kommerzialisierung des Spiels etablierte sich recht schnell in Italien. Die Fußballer der Vorkriegszeit übten nach dem Ende ihrer Karriere häufig Positionen als Funktionäre in Clubs oder Verbänden aus oder sie engagierten sich als Sportjournalisten bei den regionalen Zeitungen. In den 20er Jahren wurden die Akteure jedoch lediglich auf eine Spielerrolle festgelegt. Es bildete sich eine Kluft zwischen den Spielern und den Funktionären. Den Fußballern gewährte man zunehmend Vergünstigungen oder sie bekamen Reisekosten zu Auswärtsspielen erstattet. Ebenso entwickelten sich in den 20er Jahren in Europa die ersten großen Fußballstadien. Im Oktober 1926 wurde in Bologna der Littoriale mit 25.000 Zuschauern eingeweiht. Die großen Stadien waren zu dieser Zeit notwendig geworden, da die Italiener immer mehr dieses Spiel für sich entdeckten. Die Zahl der angehörigen Vereine des FIGC hatte sich nach dem Krieg verdreifacht. Waren es 1920 noch 400 Klubs, so standen 1923 dem schon 1120 Vereine gegenüber. Beim Finale der italienischen Meisterschaft 1923 zwischen Lazio Rom und Genova zählte man zum ersten Mal über 10.000 Zuschauer.[62] Im Gegensatz zu den weiter oben skizzierten Zuschauerzahlen in England und Deutschland waren dies jedoch noch sehr wenige Anhänger.

Gleichsam wie in Deutschland gab es zu Beginn des Fußball-Booms viele Kritiker und Zweifler. Faschistische Führer waren dem englischen Fußballsport sehr feindselig gegenüber eingestellt und empfahlen eher traditionelle italienische Spiele wie Boccia oder Tamburello. Italienische Sozialisten betrachteten zu Beginn des Jahrhunderts den Fußball noch als „Werkzeug der bürgerlichen Mittelschichten[63] und seine Ausübung wurde den Aktivisten bei Strafe des Parteiausschlusses verboten. Diese änderten aber spätestens in den 30er Jahren ihre Meinung, als sich Fangruppierungen für bestimmte Mannschaften festlegten. Dem schlossen sich auch die Sozialisten an. „In Mailand, Rom und Genua teilten sich die beiden erfolgreichsten Mannschaften die Gunst des Publikums, während in den anderen Städten Italiens die größten Klubs den ungeteilten Lokalpatriotismus auf sich zogen.“[64]

Sehr beliebt waren wie in Deutschland und England zu dieser Zeit die Städte-Derbys, obwohl im Gegensatz zu England keine konfessionellen Differenzen vorhanden waren. Auch soziale Unterschiede schlugen sich in Italien nicht nieder. Wie es der Autor Christian Bromberger beschrieb, war es der Fußballsport selbst und allein, der den Zuschauer parteiisch machte. Er war „eine Maschine, die Opposition erzeugte und den Hang, die Welt binär zu denken, wodurch Grenzen auch dann abgesteckt werden können, wenn der äußere Anschein allein dies nicht mehr zu leisten vermag.“[65]

In diesen Jahren wurden auch erstmals die ‚tifosi’, die italienischen Fans und Sportbegeisterten erwähnt. Es bezog sich „gleichermaßen auf die Teilnahme des Fans am Spiel wie auch auf eine Krankheit, an der er litt.[66] Das Wort leitet sich wahrscheinlich von ‚tifico’ ab (also ein Typhus-Kranker). Das Regime stellte den Tifosi, den Fans, oftmals Eintrittskarten zu ermäßigten Preisen zur Verfügung, organisierte später Sonderzüge und Busfahrten und kombinierte manche Spiele mit künstlerischen Darbietungen.[67]

In der Zwischenkriegszeit wurde in Italien der Prozess der Nationalisierung entscheidend vorangetrieben. Parallel dazu kam der Durchbruch der Professionalisierung. 1926 wurden im ‚Dokument von Viareggio’ neue Spielerstatuten festgelegt. Sie verankerten die Spezifizierung der ‚Nicht-Amateure’, also den Beginn des Profifußballs und untersagten die Aufnahme von ausländischen Spielern. Das faschistische Regime wusste aber die Reglementierung zu unterlaufen. Anders als während des deutschen Nazi-Regimes, welches die Einführung des Profifußballs unterdrückte und Ausländer nicht einmal auf der Betreuerbank duldete, rekrutierten die Vereine ab 1927 immer mehr technisch versierte Spieler italienischer Herkunft aus Österreich und Süd-Amerika. Außerdem lernte man von den Erfahrungen ausländischer Trainer. Paradoxerweise trug dieser Einfluss erheblich zur Italienisierung des Fußballs bei, denn er trieb die Herausbildung einer typisch italienischen Spielweise voran: eines entschlosseneren, technikbetonten Kurzpassspiels. 1934 und 1938 wurde Italien dadurch Fußballweltmeister. Trotz der Erfolge wies der Dachverband FIGC im Jahr 1936 nur knapp 50500 registrierte Spieler. Das war ein Zwölftel des DFBs zu dieser Zeit. Die FIGC konzentrierte sich also mehr auf die Elite und vernachlässigte die Basis.[68]Daß Fußball dennoch als volkstümlich galt, lag daran, daß die Profis, auch die aus dem Ausland kommenden Stars, Landsleute waren und fast ausschließlich aus Norditalien stammten, wo sich auch die berühmten Klubs konzentrierten.[69]

Im folgenden Kapitel möchte ich näher beleuchten, wie die Medien und besonders das Fernsehen den Fußball weltweit beeinflusste, Umsatz und Gewinn zum bestimmenden Argument für den Erfolg einer Mannschaft wurde und was die Konsequenzen für den Teil des Sports waren, denen das Spiel zu Beginn gehörte, den Fans.

3. Kommerzialisierung und Medialisierung im modernen Fußballsport

Fußballfans werden von einer Welle der Kommerzialisierung erfasst, die eine mediale Überfrachtung mit Nebensächlichkeiten, einen ausufernden Merchandising-Boom und die fortschreitende Abschaffung der Stehplätze, des Ausgangspunkts der Fankultur, mit sich bringt. In einer gnadenlosen Kommerzspirale sollen Fans sich ihre Hühneraugen mit Pflastern verkleben, die das Logo des Lieblingsvereins zeigen. Mit VFB Stuttgart-Spätzle oder Hansa Rostock-Kartoffeln wird gekocht, während die Überreste der vermarkteten Speisen in die Borussia Dortmund-Mülltonne wandern. Medienmogul Kirch hält die Fäden in der Hand, wenn es um Spielverlegungen geht, die Spielbesuche erschweren und die Tendenz vom Live-Ereignis zum Chipsfußball vor dem Fernsehen ausmachen. So werden Anhänger durch unternehmerische Interessen funktionalisiert, durch dirigistische Maßnahmen wie die ‚Verkäfigung’ zu medienwirksamen und angepassten Verhaltensweisen diszipliniert oder durch dramatische Preiserhöhungen im Zuge der ‚Versitzplatzung’ zunehmend ausgegrenzt.“ (Autor Gerd Dembowski im Jahr 1998)[70]

3.1) Der Durchbruch des kommerziellen Fußballs

‚Unter dem Tisch’ zahlten die Bundesligavereine den Spielern schon relativ hohe Gehälter. Schiedsrichter und Spieler wurden bestochen und sogar Spiele ‚verschoben’. Dies alles entwickelte sich zum größten Bundesligaskandal in der 40-jährigen Geschichte. Als Reaktion darauf gab der DFB am 8.Mai 1972, also 40 Jahre nach dem Beschluss zur Einführung des Professionalismus von 1932, den Markt frei und Gehaltsobergrenzen und niedrigste Ablösesummen gehörten der Vergangenheit an.[71] Damit war der ‚Siegeszug’ der Kommerzialisierung nicht mehr aufzuhalten. Nach erfolgreichem Wiederaufbau entstand in Deutschland eine ‚Wohlstandskultur’ und die Arbeitszeiten verringerten sich bis in die 70er Jahren auf 40 Stunden pro Woche.

Maßgeblich beeinflusste auch der erste Weltmeisterschaftstitel der deutschen Mannschaft 1954 in Bern den weiteren Verlauf des Fußballs in der Republik. Dieser Erfolg löste das Spiel aus seiner Regionalität im Nachkriegsdeutschland heraus und machte ihn ‚national’ bekannt. Der größte Kommerzialisierungsschub ereignete sich in den 60er Jahren, als das Fernsehen in die Welt der Fans einbrach. Der Fußball erreichte dank des Fernsehens ein immer größeres Publikum, welche auch immer weitere Sponsoren anlockte.

Die Weltmeisterschaftsendspiele 1966 in England und 1970 in Mexiko sahen weltweit ca. 400 Millionen Zuschauer. Eine Zahl, die ohne das Fernsehen nie hätte erreicht werden können.[72] Betrachtet man die skizzierte Entwicklung des deutschen Fußballs im europäischen Rahmen, „so fällt als ihr Strukturmerkmal das zeitliche Zusammenfallen von Professionalisierung und Kommerzialisierung mit dem Durchbruch des Fernsehens und der modernen Freizeitindustrie auf. Kaum daß die Liga florierte, finanzierten sich der DFB und seine Klubs auch schon durch Fernsehgebühren, Werbeeinnahmen und Sponsorengelder.“[73]

In seiner Anfangszeit schaffte das Fernsehen es, dass das Fußballspiel immer gesellschaftsfähiger wurde und gesellschaftlich als Sport- und Medienspektakel Akzeptanz gefunden hatte. Auch auf diese Weise konnten mehr Fans für den Fußball gewonnen werden. Es war nun möglich, den Fußball über die Schichten hinweg zu übertragen und das Spiel entwickelte sich nur aus der steigenden Medialisierung zu einem ‚klassenlosem’ Ereignis. „Wenn heute vom Marsch des Fußballs durch alle gesellschaftlichen Schichten die Rede sein kann, dann deshalb, weil Fußball ein Medienereignis ist, vor allem aber ein Fernsehereignis ist.[74] Das Engagement der Fernsehsender revolutionierte ebenso das Fandasein in der Bundesliga. Erste lokale und regionale Bindungen von Verein – Spieler – Fan begannen zu bröckeln. Bestes Beispiel dieser sich ändernden Fankultur war der FC Bayern München in den 70er Jahren. Durch die drei aufeinanderfolgenden Europapokalerfolge 1974, 1975 und 1976 begann sich eine riesige Fan-Gemeinde für den bayrischen Klub zu formieren, die sich aber über die gesamte Republik erstreckte. Durch das Fernsehen war es möglich geworden, dass man sich als Fan einer Mannschaft fühlen konnte, ohne live vor Ort bei den Spielen anwesend zu sein.

Es gibt nicht wenige Bayern-‚Fans’, die noch nie ein Spiel ihres Vereins im Stadion erlebt haben.[75] Auf diese Veränderung in der Fankultur werde ich noch genauer im Kapitel 4 eingehen.

3.2) Krise in den 70er Jahren – Entfremdung der Spieler

Nach dem Boom und den Hoch-zeiten in Deutschland kam Mitte der 70er Jahre der Fußball in eine schwere Krise. Ausschlaggebend für diese Rezession in der Bundesrepublik war der oben angesprochene Bundesligaskandal. Dies scheint ein wenig paradox zu klingen, da diese Zeit doch als die ‚goldene Dekade’ des Fußballs angesehen wurde. Allein die Fohlen-Elf von Borussia Mönchengladbach gewann mit ihrem ‚totalen Fußball’ in neun Jahren neun Titel.[76]

Es kursierte schnell das Wort vom ‚Angestelltenfußball’, der mit der Leidenschaft und Loyalität auf den Rängen nichts mehr zu tun hatte. „Gleichzeitig wuchs aber auch die soziale Distanz zwischen den Spielern und ihren Fans. Die Zeiten, wo das Idol noch um die Ecke wohnte und zum gleichen sozialen Milieu zählte, gehörten mehr und mehr der Vergangenheit an. Zwischen den Fans in den Kurven und den Stars auf dem Rasen war eine Kluft entstanden, die ständig größer wurde.[77] Man muss dabei auch berücksichtigen, dass Fußball als ‚Show’ nicht nur darin besteht, dass 22 Spieler sich vor einem riesigem Publikum präsentieren, sondern dass zwischen dem Akteur und dem Publikum als Zuschauer ein „sozialer Abstand besteht, der durch unterschiedliche Fähigkeiten und Talente begründet scheint und sich sowohl in der spezifischen Interaktion von Akteur und Zuschauer (‚Idol’ und ‚Fan’) als auch im Bruch (soziale Distanz) zwischen der Lebenswelt und dem Bewußtsein der Spieler einerseits und der Lebenswelt und dem Bewußtsein der Zuschauer andererseits ausdrückt.[78] Die Bezeichnung ‚Star’ wird vor allem von den Spitzenspielern der 50er und 60er Jahre abgelehnt, weil es ein Verhältnis zwischen den Zuschauern und dem Spieler bezeichnet, das durch „wechselseitige Fremdheit und durch eine in den Massenmedien nur scheinhaft aufzuhebende soziale Distanz gekennzeichnet ist.“[79] Der Spieler von heute ist seinem Publikum im alltäglichen Leben entrückt. Früher waren die Akteure „greifbare subkulturelle Repräsentanten, die sich ihrer kulturellen und ökonomischen Nähe zu ihren Anhängern bewusst waren, welche ihrerseits ihre Rolle erfüllten und ihm kulturelle und ökonomische Unterstützung gaben.“[80]

Lindner und Breuer gehen sogar soweit zu sagen, dass nur noch durch publizistische Nach- und Aufbereitung sich eine scheinbare Intimität und Gemeinsamkeit von Spieler und Zuschauer herstellen lässt[81] (Bsp.: „Der Michi Ballack ist trotz seines Erfolges immer noch der Alte geblieben und ist nicht abgehoben“, d.V.). Somit kann man nach dem Boom in der Nachkriegszeit 20 Jahre später beobachten, dass sich zwar das Fußballspiel an sich nicht verändert hat, aber die Erwartungshaltung und Wahrnehmungsweise des Publikums und die Interaktionsformen zwischen Spieler und Fan ganz unterschiedlich geworden sind. Es besteht im heutigen Verhältnis Spieler-Fan eine regelrechte Spannung und die Zuschauer übernehmen sogar eine ‚Cäsarenhaltung’. Die Anhänger der Vereine wissen sehr genau, dass der Fußballspieler als ‚Star’ entrückt ist, ganz gleich wie sehr man sich um eine mediale Aufbereitung seines Alltags oder seiner Lebensperspektiven bemüht. Übriggeblieben sind dann nur noch „verstümmelte Formen der Identifikation“.[82] Die kulturellen Bezüge und die lebensgeschichtlichen Erinnerungen sind ebenso verloren gegangen, wie die Verbundenheit mit dem Spieler, mit der Mannschaft, mit dem Fußballplatz als Ort subkultureller Kommunikation und Interaktion, oft sogar mit dem Verein. „Der Platz, der im Zentrum des Wohnviertels liegt, mit seinen Kassenhäuschen und Buden, auf dem man sich trifft, wo man sich unterhält, an dem man womöglich mitgebaut hat, ist nicht nur räumlich meilenweit entfernt vom komfortablen Großstadion mit seinen Tribünen und Rängen, seinen Erfrischungskiosken mit Ständen für Fan-Utensilien. Die Mannschaft, die das Viertel repräsentiert, deren Spieler man kennt und zuweilen, und sei´s nur an der Theke des Vereinslokals, trifft, hat kaum etwas mit der zusammengekauften Profitruppe aus Spielern zu tun, die man mit einigem Glück gerade noch, bevor in ihren Porsche, Mercedes oder Maserati steigen, zum Autogrammegeben erwischt.“[83] Ähnlich sieht es auch der Fan-Forscher Gunther Pilz: „Es gibt starke Identifikationsprobleme bei den Fans. Die Spieler entwickeln sich immer mehr zu distanzierten Stars. Ihre Lebensweise - dickes Auto, teure Häuser, Millionen auf der Bank - entfernt sie immer weiter vom Anhänger. Treue zum Verein, ein Merkmal, das den Fan prägt, nimmt man diesen Geschäftsleuten nicht mehr ab, seit die nur mehr dort kicken, wo es am meisten zu verdienen gibt.[84]

Man kann es als Fan z.B. vom FC Schalke 04, FC Bayern München oder von Borussia Dortmund anders sehen, aber bei den Profivereinen in Deutschland ist die oft so beschworene regionale Identität und Identifikation nur noch ein ‚Luftschloss’, ein Kunstprodukt.[85]

Eine ähnliche Entfremdung fand in Großbritannien aufgrund der früheren Professionalisierung schon ein paar Jahrzehnte früher statt. Nachdem immer mehr Spieler verpflichtet wurden, die nicht aus der `hiesigen` Region stammten, entstand eine immer ambivalentere Beziehung zwischen den Fans und den Spielern. „The beginnings o fambivalent relationships between the professional player and the rank-and-file supporter can be dated earlier the Second World War, though it is not until recently that it has been recognized as financially and culturally significant. The estrangement of player and supporter is closely tied in with the beginnings of the transfer-market.[86] Die Fans konnten und wollten sich nicht mehr identifizieren mit den Spieler von auswärts, die nicht im eigentlichen Sinne zu ihrer Subkultur gehörten.[87]

Diese Entfremdung, die überall in Europa aufzutreten schien, sehe ich in meinen Untersuchungen als den Wendepunkt für die Fankultur im modernen Fußball an, denn nicht nur der Sport an sich stand in der Krise, sondern auch die Zuschauer veränderten sich und ihr Verhalten so nachhaltig, dass die Konsequenzen positiver wie negativer Art mehr denn je in den Fankurven zu spüren sind. Auf diese vorangegangenen Ausführungen werde ich im weiteren Verlauf immer wieder zu sprechen kommen, da vor allem die Massenmedien einen erheblichen Anteil an dieser Entfremdung hatten und immer noch haben.

3.3) Gewalt, Katastrophen und ihre Konsequenzen

3.3.1) Gewalt und die Berichterstattung in den Medien vor Heysel

Eine Konsequenz aus dem veränderten Publikum waren die steigenden Ausschreitungen im und um die Stadien. Da dies jedoch keine spezielle Arbeit über die Zeit der Hooligans werden soll, behandele ich diesen Punkt nur am Rande. Jedoch muss gesagt werden, dass auch Hooligans eine Fankultur waren und sind, die sich aus Gründen der Überkommerzialisierung und -medialisierung entwickelt hat.

Hauptaspekt des hier behandelten Materials soll dementsprechend nicht das Gewaltereignis selbst sein, sondern die nachfolgende Berichterstattung in den Medien. Diesen Punkt halte ich in diesem Zusammenhang für wichtig, da das Bild der Fans in den Medien bis heute noch negativ behaftet ist. Dieses Bild des Fans beeinflusst mit Sicherheit auch die Fans in den Stadien, da die ‚Fußballverrückten’ jeden Bericht verfolgen wollen, sei es im Fernsehen oder in der Zeitung.[88]

Der Fußball bietet sich aus seinen historischen aber auch praktischen Gründen als ein bevorzugtes Austragungsfeld der ‚Spaßgewalt’ der Hooligans an. „Der Fußball mit seiner Aura der Konfrontation, seinen geordneten, planbaren Menschenaufläufen, seiner Polizeipräsenz, der massenhaften Anwesenheit von präsumtiven Gegnern und Opfern zieht die Gewalttäter magisch an.[89]

In den Stadien und im Umfeld des Fußballs breitete sich erst in England, später in Deutschland und anderen Ländern, eine regelrechte Gewaltwelle aus. Hooligans wurden zu einem elementaren Bestandteil der täglichen ‚headlines’ in den Zeitungen und Boulevardblättern. Die Medien stürzten sich in den 80er Jahren auf noch so kleine Ereignisse, die im Zusammenhang mit Hooligans stehen könnten.

Das Bild des Fußballfans, der seine Samstage im Stadion verbrachte, wurde in den Medien sehr negativ gezeichnet. Stereotypen prägten das Alltagsbild im Fernsehen oder in den Printmedien. Bei Berichterstattungen konnte man den Eindruck gewinnen, dass es sich bei Fußballfans um eine „Horde wild gewordener, alkoholisierter, brutalisierter Jugendlicher“ handelt , „die mit rechtradikalen Sprüchen und verbalen Drohgebärden sowie mit gewalttätigen Handlungen Stadien und ganze Städte in Aufruhr bringen und die innere Sicherheit ernsthaft bedrohen.“[90] Die Hooligans übernahmen in den Medien laut Schümer den ‚teuflischen Part’. Nicht ganz ohne Ironie formuliert er: „Sie (die Hooligans, d.V.) sind die Feinde des Fußballs, die die Tugenden der echten Fans nur um so heller erstrahlen lassen und die dem Fußball seine ständige Gefährdung vorspiegeln, gegen die ihn die Staatsgewalt zu verteidigen hat.[91]

Jugendliche Anhänger wurden systematisch kriminalisiert und stigmatisiert. „Den meisten Mitgliedern unserer Gesellschaft erscheinen die Aktivitäten der Generation junger Fußballfans als gewalttätig und destruktiv. Vor allem erscheinen sie ihnen als sinnlos. Das gewalttätige Verhalten gilt als ziellos und unbegründet. Die Argumente dieses Standpunkts sind bekannt. Es ist die Rhetorik der empörten, rechtgläubigen und anständigen Mehrheit- derer also, die durch die Medien ihr bereitwilliges Publikum finden.[92] Die Boulevardblätter trieben in den Jahren vor Heysel die Kriminalisierung und Entmenschlichung systematisch voran. „Die gleichen Blätter, die selbst die brutalsten britischen Kriegsverbrecher während des Falklandkrieges als ‚Heldentaten’ rühmten, […] bezichtigen Fußballfans bei weit geringfügigeren Vergehen des animalischen Verhaltens.[93] Die Massenmedien sind zwar nicht unbedingt die eigentliche Ursache für die Gewaltentwicklung in den 70er und 80er Jahren, aber sie müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie diese Entwicklung verstärkten durch die Art der Berichterstattung über Gewalt der Fans. Dabei gewinnt der Gewaltaspekt in den Massenmedien zunehmend einen „Unterhaltungs- und Nachrichtenwert, so dass vor allem die Vermarktung von Gewalthandlungen im Umfeld von Fußballereignissen durch die Medien zu einer zunehmend verengten, auf Gewalt und auffälliges Verhalten reduzierten Betrachtung der Fan-Kultur führt.“[94]

Die Fanszene wird sozusagen „massenmedial reduziert“.[95] Nach den Ereignissen von Brüssel (siehe auch Kapitel 3.3.2, d.V.) ist die massenmediale Aufmerksamkeit gegenüber Nachrichten aus den Fanblocks gestiegen, auch wenn die Ereignisse selbst nicht zugenommen haben. Die Verengung des Blickfeld auf solche negativ besetzte Ereignisse der Fan-Kultur und die erhöhte Aufmerksamkeit der Medien hat bis heute nachwirkende Konsequenzen auf die Anhänger im Stadion: „Das Problem der Gewalt, des Rechtsradikalismus und des Alkoholismus unter Fußballfans wird überbewertet und dramatisiert, mit der Gefahr, daß (aufgrund des öffentlichen Drucks) Reaktionen seitens der staatlichen Behörden und der Öffentlichkeit überzogen ausfallen und Gewalthandlungen entsprechend eskalieren, die Fans kriminalisiert werden.[96] Die medial geschaffene Distanz zwischen den Zuschauern und den ‚Nicht-Fußballverrückten’ bereitete einen Nährboden für die Diskussion der Medien über schärfere Bestrafungsmaßnahmen des Staates. (Eine ähnliche Entwicklung findet zurzeit auch in Deutschland im Hinblick auf die WM 2006 statt, d.V.)

Der Fußballfan eignet sich aufgrund seines vor allem von den Medien vermittelten Negativimages insbesondere für die Boulevardpresse hervorragend als verkaufsfördernder Aufmacher.“[97] Es entsteht sozusagen ein Kreislauf, den die Medien selbst begonnen haben. So werden wichtige Spiele oder Derbys schon weit vor dem Anstoß dramatisiert und hochstilisiert. Das Match ist schon lange vor dem Spieltag ein Medienereignis. Der Umgang der Medien mit Gewalt „prägt naturgemäß die Rezipienten. Sie übernehmen auf der einen Seite den von den Medien vorgegebenen Gewaltbegriff und werden auf der anderen Seite durch die Aufbauschungen der Begegnungen schon vor Spielbeginn in eine aggressive Grundstimmung gebracht.“ [98] Wenn es dann zu Ausschreitungen kommt, sind es wiederum als erstes die Medien, die diese Gewalt im Fußballstadion anprangern. Viele der Hooligans nutzten die mediale Berichterstattung sogar provokativ aus, um für kurze Zeit im Rampenlicht der Zeitungen und Fernsehsender zu stehen. Sie präsentierten sich häufig sogar regelrecht den Medien. „Die Aufmerksamkeit der Medien bauen die Hooligans in ihren blutigen Egotrip souverän ein. Weil man die Orte und Zeiten anläßlich der wichtigsten Spiele ja vorher kennt, sind zuweilen mehr Journalisten als Schläger anwesend. Die Wildesten von ihnen möchten unbedingt ins Fernsehen oder wenigstens in die Zeitung. Sie posieren und genießen das Gefühl, vor den Domestizierten wieder Tiere sein zu dürfen.[99]

Daraus lässt sich nicht nur in Bezug auf die Medienberichterstattung vor der Heyselkatastrophe erkennen, dass die Fußballfans durch die Medien kriminalisiert und stigmatisiert wurden und leider heutzutage auch immer noch werden, indem Fernsehen und Presse völlig einseitig und verzerrt das Bild der Fans darstellen. Die Anhänger beginnen dann nach und nach das Bild der Medien als ihre Realität anzunehmen. Sie verhalten sich nun so, wie sie auch immer in den Zeitungen oder Fernsehsendungen dargestellt werden. In der Psychologie nennt man einen solchen Vorgang eine „sich selbst erfüllende Prophezeiung oder auch ‚Pygmalion-Effekt.’ In der Folge dieses Phänomens kommt es aufgrund der Medienberichte zu einer spiralförmigen, schleichenden Eskalation der Gewalt unter den Fans.[100] Ähnlich wird heutzutage ein verzerrtes Bild der Ultras in den Medien dargestellt, jedoch hat man diesen dargestellten Effekt noch nicht erkennen können, da viele der Behauptungen zu sehr aus der ‚Luft gegriffen’ waren von Seiten der Medienberichterstattung.

3.3.2) Katastrophen

„Ich habe die Tragödie im Fernsehen gesehen und am Ende gedacht: Was bedeutet das? Nicht, wer war das? Wie konnte das passieren? Sondern, was bedeutet das? Das zeigt, dass Fußballfans vom Spiel entfremdet sind. Sie haben keine Mitsprache. Sie sind von allem abgeschnitten. Sie bezahlen nur noch.“ (Roger Taylor, englischer Fan-Forscher über die Heysel-Katastrophe und die Folgen)

In England schlugen Mitte der 80er Jahre die Zeitungen und Fernsehsender nach drei Negativ-Vorfällen, die im engsten Sinne noch nicht einmal etwas mit Hooligans zu tun hatten, einen härteren und bedrohlicheren Ton gegen Randalierer und Krawallmacher an.[101] Zum ersten Mal kam der englische Fußball durch eine Stadionkatastrophe europaweit in die Schlagzeilen. Im Mai 1985 verbrannten im Valley Parade-Stadion zu Bradford 57 Zuschauer aufgrund einer weggeworfenen Zigarettenkippe. Die veraltete Holztribüne fing sofort Feuer, als sich unter der Tribüne befindlicher Müll entzündete.

Nur 18 Tage später ereignete sich beim Europacup-Finale der Landesmeister zwischen Juventus Turin und dem FC Liverpool im Brüsseler Heyselstadion die sogenannte ‚Katastrophe von Heysel’. 39 Tote und 400 Verletze waren die Bilanz der Ausschreitungen.[102] Aufgrund der starken Kartennachfrage und einem sehr aktiven Schwarzmarkt, befanden sich vor dem Spiel sehr viele italienische Fans im eigentlich neutralen Block Z. Dieser Block war nur durch einen leicht überwindbaren Drahtzaun von den Liverpooler Fans getrennt.

Als englische ‚Fans’ diesen Zaun überwanden, brach im Block Panik aus und das Massenflüchten in den unteren Bereich ließ eine sieben Meter lange Betonmauer einstürzen, die viele Menschen unter sich begrub. Im Vorfeld des Spiels äußerten sich schon die Medien, dass es zu Ausschreitungen kommen werde.[103]

Der frühere UEFA-Generalsekretär Aigner sagte betroffen: „Nur um Haaresbreite sind wir an einer totalen Katastrophe mit Tausenden Toten vorbei gekommen.“[104]

Die größte Katastrophe in dieser Zeit geschah allerdings 1989 in Sheffield bei FA-Cup-Halbfinale zwischen dem FC Liverpool und Nottingham Forest im Hillsborough-Stadion. 96 Menschen kamen dabei ums Leben, zu Tode gequetscht von Zäunen, die sie eigentlich schützen sollten.[105] Die Tribüne der Leppings Lane war in Sheffield hoffnungslos überfüllt und die hohen Zäune boten keine Chance einer Flucht. Ein Resümee eines anwesenden Liverpooler Fans lautet bittererweise: „Man hat uns wie Tiere behandelt![106] Ebenso treffend ist eine Analyse von Schulze-Marmeling: „Die überfüllte Tribüne war die Folge miserabler Organisation. Der Fluchtweg aufs Spielfeld wurde durch hohe Zäune versperrt, die man errichtet hatte, um ‚Fan-Invasionen’ zu verhindern. Über die Sicherheit der Fans hatten die Sicherheitsfanatiker hingegen nicht einen einzigen Gedanken verschwendet. […] die Masse der Kunden eines Fußballspiels hatte man darüber glatt vergessen.[107]

Die gesamte weitere Geschichte der britischen und später auch deutschen Fankultur lässt sich in einem gewissen Maße an diesen drei Ereignissen erklären. „Die Ereignisse von Heysel und Hillsborough, oder besser die Reaktionen darauf, haben den britischen Fußball und das Verhältnis der Fans ihm gegenüber innerhalb von nur zehn Jahren grundlegend verändert- ein Verhältnis, das man zuvor stets für unveränderlich gehalten hatte. Die Entwicklung der Fan-Bewegung ist unmittelbar von den Katastrophen […] geprägt worden, so daß ihre Stärken und Schwächen ohne die Berücksichtigung dieser Ereignisse kaum zu verstehen sind.[108]

[...]


[1] SCHULZE-MARMELING, Dietrich. Der gezähmte Fußball. Zur Geschichte eines subversiven Sports. Göttingen, 1992, S.18

[2] vgl. MASON, Tony 1997, S.23ff in: EISENBERG, Christiane (Hrsg.). Fußball, soccer, calcio. Ein englischer Sport auf seinem Weg um die Welt. München,1997; LINDNER/BREUER, 1978, S.23f

[3] zit. in: STEMMLER, Theo. Kleine Geschichte des Fußballspiels. Frankfurt am Main & Leipzig, 1998, S.98

[4] Elias/Dunning zit. in: SCHULZE-MARMELING, 1992, S.18

[5] Zu dieser Zeit wurden Kinder der Landbesitzer und der aufstrebenden Mittelschichten an privaten Eliteschulen, den ‚public schools’, angemeldet (MASON, 1997, S.24)

[6] STEMMLER, 1998, S.92

[7] vgl. SCHULZE-MARMELING,1992, S.19ff; SEMMLER, 1998, S.98ff

[8] SCHULZE-MARMELING, 1992, S.20

[9] zit. in: STEMMLER, 1998, S.107

[10] vgl. MASON, 1997. S.26

[11] SCHULZE-MARMELING, 1992, S.22

[12] vgl. STEMMLER, 1998, S.114

[13] vgl. MASON, 1997, S.26f

[14] vgl. STEMMLER, 1998, S.114f; SCHULZE-MARMELING, 1992, S.26f

[15] SCHULZE-MARMELING, Dietrich (Hrsg.) (a). Vom Spieler zum Fan. Kleine Geschichte der Fußballfans, in: SCHULZE-MARMELING, Dietrich. Fans und Fußball. „Holt Euch das Spiel zurück“. Göttingen 1995, S. 13

[16] Die Mannschaft der Blackburn Olympics, später Rovers, setzte sich aus drei Webern, einem Spinner, einem Baumwollarbeiter, einem Eisenwerker, einen Bilderrahmen, einem Installateur, einem Zahnarzthelfer sowie zwei (heimlichen) Profis zusammen (STEMMLER, 1998, S.115).

[17] SCHULZE-MARMELING, 1992, S.24

[18] MASON, 1997, S.27

[19] vgl. STEMMLER, 1998, S. 115; MASON, 1997, S.29

[20] vgl. STEMMLER, 1998, S.115

[21] ebd., S.115f

[22] zit. in: ebd., S.110

[23] zit. in: ebd., S.110f

[24] SCHULZE-MARMELING, 1992, S. 24ff

[25] vgl. ebd., S. 27

[26] MASON, 1997, S.28

[27] vgl. STEMMLER, 1998, S. 116; MASON, 1997, S.28ff

[28] SCHULZE-MARMELING; 1992, S.35

[29] zit. in: SCHULZE-MARMELING, 1992, S.35

[30] vgl. MASON, 1997, S.33ff

[31] SCHULZE-MARMELING, 1992, S.41

[32] Während des Krieges hatte der Zigarettenkonsum enorm zugenommen und die Produzenten der Glimmstängel wollten auch etwas vom ‚Fußball-Kuchen’ abhaben. Deshalb legten sie in die Päckchen Fußballsammelbilder bei.

[33] SCHULZE-MARMELING, 1995 (a), S.13

[34] zit. in: SCHULZE-MARMELING, Dietrich. Fußball. Zur Geschichte eines globalen Sports. Göttingen, 2000, S.127

[35] vgl. SCHULZE-MARMELING, 2000, S.126

[36] SCHULZE-MARMELING, 1995 (a), S.14

[37] MASON, 1997, S.33

[38] ebd., S.35

[39] vgl. MASON, 1997, S.38

[40] SCHULZE-MARMELING, 2000, S.128

[41] STEMMLER, 1998, S.119

[42] Im Vergleich dazu sahen 1901 das englische Cup-Finale 110.000 Zuschauer.

[43] vgl. STEMMLER, 1998, S. 122ff

[44] vgl. ebd., S.126f; EISENBERG, 1997, S.97f

[45] zit. in: STEMMLER, 1998, S.129

[46] zit. in: ebd., 1998, S.129

[47] PILZ, Gunter A. Fußball ist unser Leben!? – Leerformel oder gesellschaftspolitische Herausforderung. Vortrag anlässlich der 50-Jahr Feierlichkeiten des Württembergischen Fußballverbandes. 2001 (www)

[48] zit. in: BECKER, Peter; PILZ, Gunter A.. Die Welt der Fans. Aspekte einer Jugendkultur. München, 1988, S.18

[49] zit. in: ebd., S.16

[50] SCHULZE-MARMELING, 1992, S.52

[51] BECKER/PILZ, 1988, S. 17

[52] zit. in: GEHRMANN, Siegfried. Fußball- Vereine- Politik. Essen, 1988.

[53] EISENBERG, 1997, S.106

[54] SCHULZE-MARMELING, 1992, S.53

[55] vgl. EISENBERG, 1997, S.116

[56] vgl. SCHULZE-MARMELING, 1992, S.59f

[57] A. Fugardi zit. in: LANFRANCHI, Pierre. Frankreich und Italien, in: EISENBERG,1997, S.55

[58] vgl. ebd., S.48f

[59] LANFRANCHI, 1997, S.52

[60] Christian Bromberger zit. in: ebd., S.52

[61] ebd., S.53

[62] vgl. ebd., S.53f

[63] F.Fabrizio zit. in: LANFRANCHI, 1997, S.55

[64] LANFRANCHI, 1997, S.55

[65] Bromberger zit. in: ebd., S.55

[66] ebd., S.55

[67] ebd., S.55

[68] LANFRANCHI, 1997, S.58f

[69] ebd., S.59

[70] DEMBOWSKI, Gerd (a). Wider den durchkapitalisierten Fußballsport, in: BOTT,Dieter/CHLADA,Marvin/DEMBOWSKI,Gerd. Ball und Birne. Zur Kritik der herrschenden Fußball- und Sportkultur. Hamburg, 1998, S.73

[71] vgl. EISENBERG, 1997, S.116

[72] vgl. SCHULZE-MARMELING, 1995 (a), S.16

[73] EISENBERG, 1997, S.118

[74] TEGELBECKERS, W. Ludwig, 2000, S.13 in: TEGELBECKERS, W. Ludwig; MILLES, Dietrich (Hrsg.). Quo vadis Fußball. Vom Spielprozess zum Marktprodukt. Göttingen, 2000.

[75] vgl. SCHULZE-MARMELING, 1995 (a), S.16f

[76] Quelle: www.sport1.de vom 03.09.2003

[77] SCHULZE-MARMELING, 1995 (a), S.17

[78] LINDNER, Rolf/BREUER, Heinrich Th. Fußball als Show. Kommerzialisierung, Oligopolisierung und Professionalisierung des Fußballsports, in: HOPF, Wilhelm. Fußball. Soziologie und Sozialgeschichte einer populären Sportart. Bensheim, 1979, S. 165

[79] LINDNER/BREUER, 1979, S.165f

[80] CRITCHER, 1979 zit. in: LINDNER/BREUER, 1979, S.166

[81] vgl. ebd., S.166

[82] ebd., S.167

[83] LINDNER/BREUER, 1979, S.168

[84] PILZ, Gunther. Interview: „Das Ende klassischer Fan-Kultur“ in: Der Spiegel 24/1998 – 08.Juni 1998 (www)

[85] vgl. SCHÜMER, Dirk. Gott ist rund. Die Kultur des Fußballs. Berlin. 1998, S.23

[86] TAYLOR, Ian. Soccer Consciousness and Soccer Hooliganism, in: COHEN, S. (Hrsg.). Images of Deviance. Harmondsworth, 1973, S.151

[87] vgl. ebd., S.151

[88] vgl. HAHN, Erwin/PILZ, Gunter A./STOLLENWERK, Hans J./WEIS, Kurt. Fanverhalten, Massenmedien und Gewalt im Sport. Schorndorf, 1988, S. 74ff

[89] SCHÜMER, 1998, S.164

[90] BECKER/PILZ, 1988, S. 87

[91] SCHÜMER, 1998, S.163

[92] MARSH, Peter. Leben und ‚Laufbahnen auf den Fußball-Rängen, in: LINDNER, Rolf (Hrsg.). Der Fußballfan. Ansichten vom Zuschauer. Frankfurt am Main, 1980, S.117

[93] SCHULZE-MARMELING, 1992, S.220f

[94] HAHN et al., 1988, S.26

[95] HAHN et al., 1988, S.26

[96] ebd., S.26f

[97] ebd., S.73

[98] ASCHENBECK, Arndt. Fussball-Fans im Abseits. Kassel, 1998, S.108

[99] SCHÜMER, 1998, S.168

[100] ebd., S.109

[101] vgl. YOUNG, Kevin. Zuschauergewalt in Spiegel der Presse, 1992, S.94ff in: HORAK, Roman/PENZ, Otto (Hrsg.). Sport. Kult & Kommerz. Wien, 1992

[102] „Der übertragende deutsche Fernsehsender brach die Übertragung aus ‚moralischen Gründen bei Spielbeginn ab, nachdem man zuvor zwei Stunden lang die Ausschreitungen und den Todeskampf der Schwerverletzten gesendet hatte. Der Österreichische Fernsehsender hingegen übertrug auch das Spiel, blendete aber mehrmals die Zeilen ein: ‚dies ist kein Fußballspiel, sondern eine Bericht über die Verhinderung eines weiteren Massakers.“ (EK, Ralf. Hooligans. Fakten, Analysen, Hintergründe. Freiburg (Breisgau),1996, S.46)

[103] vgl. EK, 1996, S.45ff; SMOLINSKY, Ralf. Fußball und Gewalt- Die Hooligans. Sandhausen, 1990, S.16ff

[104] www.sport1.de vom 10.09.2003

[105] vgl. TICHER, Mike. Heysel, Hillsborough und die Folgen. Die Fan-Bewegung in Großbritannien, in: SCHULZE-MARMELING, 1995, S. 213ff

[106] SCHULZE-MARMELING, 2000, S.206

[107] SCHULZE-MARMELING, 1995 (a), S.19

[108] TICHER, 1995, S.213

Ende der Leseprobe aus 158 Seiten

Details

Titel
Entwicklung und Veränderung von Fußball-Fankulturen aufgrund von Überkommerzialisierung und -medialisierung
Hochschule
Universität der Bundeswehr München, Neubiberg  (Fakultät für Pädagogik)
Note
1,7
Autor
Jahr
2003
Seiten
158
Katalognummer
V21061
ISBN (eBook)
9783638247672
Dateigröße
1862 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Entwicklung, Veränderung, Fußball-Fankulturen
Arbeit zitieren
Torben Wegerhoff (Autor:in), 2003, Entwicklung und Veränderung von Fußball-Fankulturen aufgrund von Überkommerzialisierung und -medialisierung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/21061

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