Gesellschaftliche und individuelle Mehrsprachigkeit


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2006

19 Seiten


Leseprobe


Einleitung

1. Formen von Mehrsprachigkeit
1.1 Gesellschaftliche Formen der Mehrsprachigkeit

2. Sprachanwendung bei Mehrsprachigen
2.1 Code Switching
2.1.1 Grammatikalische Aspekte des Code Switchings
2.1.2 Pragmatische Aspekte des Code Switchings
2.1.2.1 Problematik des pragmatischen Ansatzes
2.2 Interferenz

3. Mehrsprachigkeit in der Übersetzungspraxis

Zusammenfassung

Literatur

Einleitung

In unserer globalisierten Welt ist Mehrsprachigkeit die Regel und nicht mehr die Ausnahme. Mehrsprachigkeit wird zum Entscheidungsträger über soziale Integration und berufliche und ökonomische Chancen. Diese Arbeit fokussiert im ersten Kapitel die unterschiedlichen Formen von Mehrsprachigkeit und im zweiten und dritten Kapitel die Relevanz und Funktion von Mehrsprachigkeit in der Übersetzungspraxis. Im ersten Kapitel soll zunächst ein Überblick über die Erforschung der Mehrsprachigkeit und die dafür benötigten Teildisziplinen vermittelt werden. Schließlich werden die unterschiedlichen Formen hinsichtlich ihrer Terminologie und Position in der Mehrsprachigkeitsforschung erklärt und voneinander abgegrenzt. Im zweiten und dritten Kapitel werden vornehmlich Aspekte der Sprachanwendung untersucht. Relevant sind an dieser Stelle die Funktionsweisen des Wechsels zwischen den Sprachen (z. B. Code Switching), der Transferkompetenz von Mehrsprachigen und sprachlicher Fehlleistungen wie z. B. der Interferenz.

1. Formen von Mehrsprachigkeit

Zunächst muss an dieser Stelle geklärt werden, dass die Terme „Zweisprachigkeit“ und „Mehrsprachigkeit“ entgegen dem Postulat jeder wissenschaftlichen Terminologie – der terminologischen Ein(-ein)deutigkeit – oftmals als Synonyme verwendet werden. Dieses Problem ergibt sich insbesondere in der englischsprachigen Literatur. Ich werde versuchen in dieser Arbeit nur dann den Term „Zweisprachigkeit“ zu verwenden, wenn wissenschaftliche Theorien oder Ergebnisse sich ausschließlich auf die Verwendung zweier und nicht mehrerer Sprachen beziehen. Die Soziologie und Sprachwissenschaft unterscheidet als oberste Kategorien die „gesellschaftliche“ und die „individuelle Mehrsprachigkeit“.

1.1 Gesellschaftliche Formen der Mehrsprachigkeit

Von „gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit“ kann gesprochen werden, wenn in einer Gesellschaft zwei oder mehr Sprachen gesprochen werden. Appel und Muysken unterteilten diese Form der Mehrsprachigkeit in drei Szenarien:

SZ 1: Zwei monolinguale Gesellschaften, in der nur wenige Individuen die gruppenübergreifende Kommunikation bewerkstelligen. Dies war früher vor allem in Kolonien, ist jedoch noch heute in der Kommunikation mit einigen Naturvölkern der Fall.

SZ 2: Alle Mitglieder der Gesellschaft sind mehrsprachig. So wie dies in vielen afrikanischen Ländern und in Indien der Fall ist.

SZ 3: Eine Gruppe ist monolingual und eine oder mehrere weitere Gruppen mehrsprachig.

Die Verfasser verweisen jedoch selbst darauf, dass diese Szenarien nicht in reiner Form in der linguistischen Realität erscheinen.[1]

Dennoch bieten sie einen guten Anhaltspunkt, um zu weiteren Unterkategorien zu gelangen, die im Wesentlichen den Status von Sprachen verschiedener Bevölkerungsgruppen beschreiben. Hamers und Blanc unterscheiden folgende Kategorien:

1. „innerstaatliche Mehrsprachigkeit“: Mehrere Gruppen leben in einer Nation, jedoch getrennt, unter anderem durch die Zugehörigkeit zu einer Sprachgruppe, getrennt von der anderen Gruppe in einem eigenen Territorium. Die offizielle Landessprache ist die des jeweiligen Sprachgebietes. Beispiele für diese Form existieren z. B. in Kanada oder Belgien
2. ein weiteres Szenario ohne definierten Term sehen die Verfasser in multilingualen Gesellschaften, in denen entweder eine Kontaktsprache wie z.B. das Tok Pisin oder Swahili als offizielle Sprache eingesetzt wird, oder aber der Staat entscheidet eine auswärtige Sprache zu diesem Zweck einzusetzen, da sie z. B. eine lange Tradition in der Geschichte des Landes hat und viele Menschen dadurch mehrsprachig aufwachsen. Dies ist z. B. in Tunesien der Fall
3. “Diglossie” bezeichnet eine Situation in der zwei Varianten einer Sprache gesprochen werden. Die hinsichtlich des sozialen Status höhergestellte Variante wird dabei in allen Bereichen des öffentlichen, die niedrigere Variante in allen Bereichen des privaten oder häuslichen Lebens gebraucht. Beispiel dafür ist die Verwendung von Hochdeutsch und Schwyzerdütsch in der Schweiz.[2]

Es wird deutlich, dass Sprachgebrauch im Wesentlichen territoriale und soziale Netzwerke bestimmt und deren Mechanismen und Normen verstärkt. Zudem ist festzustellen, dass engere soziale Netzwerke eher in Verbindung mit nicht standardisierten linguistischen Normen stehen und losere soziale Strukturen eher standardisierte Sprachen nutzen.[3]

Folgende Termini kategorisieren den Status von Sprachen sozialer Netzwerke:

1. „institutionelle Mehrsprachigkeit“ bedeutet, dass der Staat die Mehrsprachigkeit seiner Bürger gesetzlich anerkennt, diesen also auch die Unilingualität zugesteht, sie also in der Lage sind sich in der einzig beherrschten Sprache an den Staat wenden zu können. Institutionelle Mehrsprachigkeit ist zumeist auf ein bestimmtes Staatsgebiet beschränkt, in dem z. B. eine Bevölkerungsmehrheit eine andere Sprache als die ansonsten offizielle Landessprache spricht.[4]
2. „Dialekt“ ist eine regionale Sprachvarietät, die sich in Syntax, Phonetik, Grammatik und Vokabular in unterschiedlichem Maße von der standardisierten Nationalsprache unterscheidet. Die Verwendung von Dialekten hat unterschiedliche soziale Folgen. Während die bidialektale Erziehung den Erhalt und die Vermittlung von Dialekten fördert, um den Dialekt als Kulturgut zu erhalten[5], haben unilinguale Sprecher von Dialekten zumeist Probleme in Lebensbereichen außerhalb ihres engsten sozialen Netzes.

Hamers und Blanc unterscheiden zwischen „endogener“ und „exogener Mehrsprachigkeit“, wobei die endogene Sprache die Muttersprache ist, die als institutionelle Sprache akzeptiert oder nicht akzeptiert ist. Die exogene Sprache ist demgegenüber die institutionalisierte Sprache, die jedoch keine Sprachgemeinschaft hat. Als Beispiel einer solchen Sprachsituation nennen die Verfasser die Situation eines Kindes in Benin, welches im Kreise seiner Familie Fon und in der Schule Französisch lernt.[6]

1.2 Formen individueller Mehrsprachigkeit

Hamers definierte individuelle Mehrsprachigkeit wie folgt:

„Bilinguality is the psychological state of an individual who has access to more than one linguistic code as a means of social communication; the degree of access will vary along a number of dimensions which are psychological, cognitive, psycholinguistic, social psychological, social, sociological, sociolinguistic, sociocultural and linguistic.”[7]

Diese Aspekte finden sich in verschiedenen Klassifizierungen von Mehrsprachigkeit wieder, die im Folgenden dargestellt werden sollen. Dabei wird es aufgrund des Rahmens der Arbeit nicht möglich sein, alle Definitionen und Kategorien aus allen Wissenschaftsbereichen darzustellen. Dargestellt werden nur solche, die weitgehend wissenschaftliche Anerkennung bekommen haben und als Basis operationaler Studien dienen.

Theorien zur individuellen Mehrsprachigkeit beschäftigen sich mit folgenden verschiedenen Aspekten:

- Kognitive Organisation von mehreren Sprachen
- Alter des Spracherwerbs
- Sprachfähigkeit
- Reihenfolge des Spracherwerbs
- Soziale Faktoren

Mackay schlug eine Untersuchung folgender Faktoren vor: 1. Maß, 2. Funktion, 3. Sprachwechsel, 4. Störung.[8] Lambert unterschied 1955 den „balanced bilingual“, bei dem die Kompetenz in beiden Sprachen gleich ist, vom „dominant bilingual“ bei dem die Kompetenz in einer Sprache größer ist als in der anderen.[9] Ervin & Osgood fokussierten hingegen die kognitive Funktion der Mehrsprachigkeit, sie unterschieden zwischen „compound“ und „coordinate bilinguality“. Im Fall der „compound bilinguality“ verbindet der Sprachnutzer zwei verschiedene Zeichensysteme mit nur einem Bedeutungssystem, im Fall der „coordinate bilinguality“ steht dem Sprachnutzer für jedes Zeichensystem ein eigenes Bedeutungssystem zur Verfügung.[10] Hamers und Blanc unterscheiden die Lebensphasen des Zweitspracherwerbs in „childhood bilinguality“, „adolescent bilinguality“ und „adult bilinguality“. Des Weiteren unterscheiden sie bei der „childhood bilinguality“ zwischen „simultaneous“ und „consecutive bilinguality“. Die simultane Mehrsprachigkeit ist gegeben, wenn ein Kind zu Beginn des Spracherwerbs zwei Muttersprachen lernt, „aufeinanderfolgende Mehrsprachigkeit“ bedeutet hingegen, dass ein Kind nach dem Erwerb der Basisregeln seiner Muttersprache noch in früher Kindheit eine weitere Sprache erlernt. Während simultane Mehrsprachigkeit zumeist im informellen Rahmen, z. B. im Alltag einer zweisprachigen Familie, vermittelt wird, findet die Vermittlung bei der aufeinanderfolgenden Mehrsprachigkeit eher im formellen Rahmen von Bildungseinrichtungen statt. Lambert untersuchte insbesondere die Auswirkungen der kindlichen Mehrsprachigkeit auf die kognitiven Leistungen des Kindes. In diesem Zusammenhang prägte er die Begriffe der „additiven“ und „subtraktiven Mehrsprachigkeit“. Im Falle der additiven Mehrsprachigkeit erlernt das Individuum eine weitere sozial relevante Sprache, ohne dass die Erstsprache verdrängt wird, da diese ebenfalls hohes gesellschaftliches Ansehen besitzt. Wenn jedoch der Erwerb der Zweitsprache, den der Erstsprache verdrängt, spricht der Autor von subtraktiver Mehrsprachigkeit. Im Falle der additiven Mehrsprachigkeit konstatierte Lambert eine stimulierende Wirkung auf die kognitive Flexibilität des Kindes. Im Falle der subtraktiven Mehrsprachigkeit hingegen warnte er vor einer möglichen verzögerten kognitiven Entwicklung gegenüber dem einsprachigen Schüler. Im schlimmsten Falle sei diese Verzögerung nicht mehr aufzuholen.[11] Dieses Problem fokussiert auch die Erforschung der „natürlichen Mehrsprachigkeit“. Sie bezeichnet eine Form in der Kinder mit zwei oder mehr Sprachen aufwachsen. Diese Kinder entstammen zumeist Familien mit Migrationshintergrund, weshalb das Thema der „natürlichen Mehrsprachigkeit“ derzeit in der pädagogischen Diskussion auch in Deutschland sehr aktuell ist. Soziologen und Pädagogen beklagen, dass die natürliche Mehrsprachigkeit im Schulalltag eher als Hemmnis denn als Bereicherung gilt. Der Glaube, dass Mehrsprachigkeit Kinder in den ersten Lebensjahren geistig überfordern würde, ist unter Pädagogen in Schulen und Kindergärten noch weit verbreitet. Für diese Art der Sprachpolitik hat Suzanne Romaine hingegen eine andere Erklärung: Sie weist darauf hin, dass insbesondere die europäischen Länder nach wie vor in einem monolingualen Ethos gefangen sind, der geschichtlich mit der Gründung der Nationalstaaten verwoben ist. Diese Definition der Nationalstaaten war eng verbunden mit dem Aspekt der Nationalsprache und ihrer Ansicht nach wird in vielen europäischen Ländern ein regelrechter Sprachprotektionismus betrieben, indem bestimmte Lebensbereiche ausschließlich mithilfe der Nationalsprache zugänglich sind.[12] Die Mehrsprachigkeit der Kinder wird häufig ignoriert oder zurückgedrängt, was sowohl für die mehrsprachigen als auch für die einsprachigen Kinder negative Folgen im Lernprozess hat. Zum einen werden weder die Muttersprache der einsprachigen und mehrsprachigen Kinder noch der Erwerb der Landessprache oder die Entwicklung der Mehrsprachigkeit gefördert. Es entstehen dadurch Defizite nicht nur in der sprachlichen, sondern auch in der kulturellen Kompetenz.[13] Folge sind oftmals mangelnde Sprachkompetenzen sowohl in der Mutter- als auch in der Zweitsprache, eine Situation, die als „Semilingualismus“ bezeichnet wird. Bereits im Jahre 1978 verlangte Skutnabb-Kangas den Semilingualismus nicht als Charakteristikum von Kindern von Minderheiten zu begreifen, sondern als Folge eines mangelnden Erlernens der Muttersprache, die in der Schule nicht akzeptiert ist, auf die dann eine Zweitsprache aufgesetzt werden soll.[14] Wissenschaftler die die Diskrepanz zwischen der realen Mehrsprachigkeit sowie den wissenschaftlichen Ergebnissen, die den positiven Effekt mehrsprachiger Erziehung nachweisen, und dem Schulalltag beklagen, fordern verschiedene Maßnahmen auf pädagogischer Ebene. Zum einen verlangen Sie die Aufklärung über Mehrsprachigkeit bei schul- und bildungspolitischen Entscheidungsträgern als auch von pädagogischen Fachkräften in allen pädagogischen Einrichtungen. Zum anderen fordern sie eine verstärkte Ausbildung von Lehrern im Fach Deutsch als Fremdsprache in Verbindung mit der Ausbildung in einer der Migrationssprachen. Die Teilnehmer eines Kolloquiums zu diesem Thema betonten, dass die Essener Hochschule deutschlandweit die Einzige sei, die den Studiengang „Didaktik der Herkunftssprachen in zweisprachiger Umgebung“ anbiete.[15] Das folgende Kapitel wird sich mit weiteren Problemen der Zweitsprachigkeit beschäftigen, die im Bereich des „Code Switchings“ erscheinen

[...]


[1] Appel/Muysken, S. 2

[2] Hamers/Blanc, S. 12f

[3] Ebd., S. 70

[4] http://www.ditl.info/arttest/art5111.php

[5] http://www.stmas.bayern.de/cgi-bin/pm.pl?PM=0601-018.htm

[6] Hamers/Blanc, S. 11

[7] Hamers

[8] Vgl., Romaine, S. 12

[9] Lambert (A), S. 197-200

[10] In: Hamers/Blanc, S. 10

[11] In: Hamers/Blanc, S. 11

[12] Romaine, S. 320f

[13] Bauer, S. 1-4

[14] In: Appel/Muysken, S. 108

[15] Bauer, S. 1-4

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Gesellschaftliche und individuelle Mehrsprachigkeit
Autor
Jahr
2006
Seiten
19
Katalognummer
V210559
ISBN (eBook)
9783656387510
ISBN (Buch)
9783656389958
Dateigröße
463 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mehrsprachigkeit, Multilingualität, Bilingualität, Code Switching, Zweisprachigkeit, Hamers, Blanc, Muysken, Appel, Gumperz, Diglossie, Unilingualität, Dialekt, Sprachvarietät, Mackay, coordinate bilinguality, bilinguality, simultaneous, consecutive, multilinguality, Theorien, theory, Muttersprache, Zweitsprache, Spracherwerb, Erstsprache, Lambert, Romaine, Semilingualismus
Arbeit zitieren
MA Guido Maiwald (Autor:in), 2006, Gesellschaftliche und individuelle Mehrsprachigkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/210559

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