Die Notwendigkeit der Elternbildung


Diplomarbeit, 2011

100 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Gliederung

Einleitung

1 Bindungstheorie: Geschichtlicher Hintergrund

2 Bindung: Begriffsklärung und Definition
2.1 Mutter-Kind-Interaktion und Qualität der Bindung
2.1.1 Bindungsverhalten und Bindungsmuster
2.1.2 Die Beständigkeit der Bindungsmuster
2.2 „Innere Arbeitsmodelle“ der Bindungsbeziehung - Bindungsrepräsentationen

3 Frühkindliche Entwicklung und elterliches Verhalten
3.1 Entwicklungspsychologische Grundlagen
3.2 Entwicklungsprozesse in der frühen Kindheit und kindliche Selbstregulation
3.3 Wahrnehmungsfähigkeiten des Säuglings

4 Entwicklungsschritte
4.1 Emotionale Entwicklung
4.2 Kognitive Entwicklung
4.3 Soziale Entwicklung

5 Elternschaft und kindliches Temperament
5.1 Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Auseinandersetzung mit Elternschaft
5.2 Einfluss der Elternbeziehung auf die kindliche Entwicklung
5.3 Kindliches Temperament als Einflussfaktor auf die Eltern-Kind-Beziehung

6 Erziehungskompetenz: Begriffsbestimmung und Komponenten
6.1 Elterliche Kompetenzen in den ersten zwei Lebensjahren

7 „Eltern unter Druck“ - eine sozialwissenschaftliche Untersuchung von Sinus Sociovision
7.1 Zentrale Befunde der Studie
7.2 Das Rollenbild der „guten Mutter“
7.3 Das Rollenbild des „guten Vaters“
7.4 Annahme von pädagogischen Angeboten, Betreuung und Schule

Fazit und Ausblick

Quellenverzeichnis

Anlageverzeichnis

Einleitung

Mit der Nachricht „Ich bin schwanger“ beginnt für alle werdenden Eltern ein neuer Lebensabschnitt. Doch mit der Geburt des Kindes werden die Fantasien, die Träume, die man in der Schwangerschaft hatte, plötzlich Realität. Für viele ist es erst einmal gar nicht so leicht, sich an das neue Leben als Eltern zu gewöhnen. Und dazu kommt noch, dass man als Eltern den Anspruch hat, alles richtig zu machen. Viele Eltern greifen gern auf das Internet oder Zeitschriften zurück, um sich zu informieren und genau zu wissen, was ihr Kind gerade braucht und wie sie es am besten versorgen können. Schon kurz nach der Geburt stellen sich Eltern die ersten Fragen wie: Soll ich stillen oder nicht? Darf das Baby in unserem Zimmer schlafen? Verwöhne ich mein Kind, wenn ich es den ganzen Tag herumtrage? Ist es normal, dass es so viel/wenig schläft? Was braucht mein Kind? Diese Fragen und noch viele mehr können Ausdruck von Verunsicherung und fehlendem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten als Mutter und Vater sein. Zeitschriften und Ratgeber stellen eine Art der Informationsgewinnung dar. Jedoch hat sich gezeigt, dass sie die Verunsicherung der Eltern noch vergrößern können. Ist Elternbildung dahingehend eine bessere Form der Hilfe für verunsicherte und überforderte Eltern? Und sollte Elternbildung eher frühzeitig und präventiv als problembezogen angeboten werden? Aufgrund der vielfältigen Entwicklung in den ersten Lebensjahren des Kindes und den stetig steigenden Anforderungen an Elternschaft möchte ich mich in dieser Arbeit mit den theoretischen Grundlagen der kindlichen Entwicklung in den ersten zwei Lebensjahren und den sich daraus ableitenden Anforderungen an die heutige Elternschaft befassen.

Im ersten Teil meiner Arbeit beschäftige ich mich mit den Grundlagen der Bindungstheorie und der Entwicklungspsychologie. Anhand von Konzepten und Befunden aus der Bindungsforschung und der frühkindlichen Entwicklung möchte ich die Bindungsentwicklung, Belastungsanzeichen des Kindes und elterliches Verhalten beleuchten. Zudem möchte ich die Auswirkungen von gelungenen und misslungenen Interaktionen als mögliche Vorläufer späterer Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsprobleme aufzeigen. Dabei liegt der Fokus auf der kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklung des Kindes.

Im zweiten Teil der Arbeit möchte ich näher auf die Erkenntnisse aus der Familienforschung eingehen, um die theoretischen Grundlagen von Elternschaft zu beleuchten. Der Beginn der Elternschaft, die Phasen der Familienbildung und das Thema der elterlichen Kompetenzen bilden daher den Großteil dieses Abschnitts. Hier fließen die Wirkungen des kindlichen Temperaments ein, welche in den letzten Jahren in der Fachliteratur wieder mehr Beachtung gefunden haben. Als ein weiterer Aspekt haben die intuitiven elterlichen Kompetenzen neben der Bindungstheorie und der Forschung in Frühentwicklung und Kommunikation einen Stellenwert in dieser Arbeit verdient.

Abschließend möchte ich die aktuelle Studie „Eltern unter Druck“ von Sinus Sociovision im Auftrag der Konrad Adenauer Stiftung e.V. vorstellen, da diese darstellt, wie Elternschaft heute tatsächlich empfunden wird. Die Studie zeigt repräsentative Ergebnisse in Bezug auf das Selbstverständnis, die Befindlichkeiten und Bedürfnisse von Eltern in verschiedenen Lebenslagen, die hilfreiche Ansatzpunkte für die Elternbildung bieten.

1 Bindungstheorie: Geschichtlicher Hintergrund

John Bowlby begründete in den 1950er Jahren die Bindungstheorie. Er war Kinderpsychiater und Psychoanalytiker und setzte sich schon früh mit der Theorie auseinander, dass die realen Erfahrungen in der frühen Kindheit einen wesentlichen Einfluss auf die spätere Persönlichkeitsentwicklung des Menschen haben. Nach seinem Grundstudium in Medizin arbeitete er freiwillig in einem Heim für verhaltensgestörte Kinder und begann sich, aufgrund seiner dort gemachten Erfahrungen, das erste Mal für die Persönlichkeitsentwicklung und den Einfluss der Interaktion zwischen Eltern und Kind zu interessieren. Er entschied sich, sein Studium fortzuführen und sich auf Kinderpsychiatrie und Psychotherapie zu spezialisieren. Zudem machte er während des Studiums die Ausbildung zum Psychoanalytiker. In der London Child Guidance Clinic sammelte Bowlby wertvolle Erfahrungen in Bezug auf die Rolle der Eltern-Kind-Interaktion in der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes und führte dort auch seine erste systematische Forschung durch. Er verglich 44, durch Diebstahl straffällig gewordene Kinder mit einer Kontrollgruppe und fand heraus, dass eine Entbehrung der mütterlichen Fürsorge oder eine lange Trennung von der Mutter unter den straffällig gewordenen Kindern sehr viel häufiger vorkommt, als bei den Kindern der Kontrollgruppe. Des Weiteren war dieser Zusammenhang auch bei Kindern zu beobachten, die als gefühllos diagnostiziert wurden. Nach Ausbruch des Krieges musste Bowlby sein Studium unterbrechen und arbeitete als Psychiater beim Militär. Er hatte die Aufgabe, geeignete Offiziere auszuwählen, und konnte in diesen fünf Jahren nützliche Erfahrungen für seine Forschungen sammeln (vgl. Grossmann & Grossmann, 2003). Bald darauf arbeitete er als beratender Psychiater und Direktor der Abteilung für Kinder und Eltern in der Tavistock Klinik, die damals Teil des National Health Service wurde. Dort konnte er an seine früheren klinischen Forschungsinteressen anknüpfen.

Bowlby war überzeugt von der Bedeutung, die tatsächliche Ereignisse auf den Verlauf der Entwicklung des Kindes haben, und entschied sich, die Auswirkungen früher Trennung von der Mutter zu erforschen. Da nur Trennungen und nicht auch die Interaktionen in gestörten Familien dokumentiert wurden, konzentrierte sich Bowlby in seinen Forschungen vorerst darauf. Somit gründete er 1948 seine eigene Forschungsgruppe, deren Mitglieder an einem retrospektiven und einem prospektiven Forschungsprojekt arbeiteten. Bei der retrospektiven Studie handelte es sich um eine Nachfolgestudie, die 66 Schulkinder einbezog, die aufgrund einer Tuberkuloseerkrankung zwischen dem ersten und vierten Lebensjahr eine Trennung von ihren Familien erfahren hatten. Die prospektive Studie befasste sich mit dem Verhalten kleiner Kinder, die durch Heimunterbringung von ihren Familien getrennt wurden. Diese Studie führte Bowlbys Assistent James Robertson durch, ein Sozialarbeiter, der während des Krieges mit Anna Freud in den Hampstead-Kinderheimen zusammengearbeitet hatte. Robertson beobachtete während der Studie das Verhalten der Kinder zu Hause, in den Heimen und nachdem sie wieder zu Hause waren. Robertson dokumentierte, wie die Kinder die Trennung von ihrer Familie und das Wiedersehen erlebten (vgl. Grossmann & Grossmann, 2003).

Im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation befasste sich Bowlby mit einer weiteren Untersuchung von Kindern ohne Familie. Er verfasste einen Artikel unter dem Titel Maternal Care and Mental Health über die Versorgung und Unterbringung von Kindern ohne Familien und schilderte die Nachteile mangelnder mütterlicher Fürsorge für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder (vgl. Bowlby (1995). Elternbindung und Persönlichkeitsentwicklung, S. 32).

1950 schloss sich Mary Ainsworth der Forschungsgruppe von Bowlby an. An dieser Stelle möchte ich kurz den beruflichen Werdegang von Ainsworth beschreiben, bevor sie an der Forschungsarbeit Bowlbys mitwirkte. Ainsworth begann 1929 ihr Studium der Psychologie an der Universität in Toronto und lernte dort die Theorie der Sicherheit von William E. Blatz kennen. Bei der Forschung zu ihrer Dissertation ging sie von dieser Theorie aus und bezog später auch einige Erkenntnisse davon in die Bindungstheorie ein. Nach ihrer Promotion im Jahre 1939 erhielt sie eine Stelle in der Fakultät in Toronto und wollte zusammen mit Blatz in der Forschung zur Sicherheit fortfahren. Nach Kriegsausbruch reisten jedoch Blatz und andere Mitarbeiter ab, um Aufgaben nachzugehen, die mit dem Kriegsausbruch einhergingen. Ainsworth unterrichtete noch bis 1942 an der Fakultät in Toronto und trat dann dem Canadian Woman’s Army Corps bei. Dort arbeitete sie in der Personalauswahl und entwickelte ein Interesse an klinisch- psychologischer Diagnostik. Nach Kriegsende leitete sie ein Jahr die Rehabilitation von Frauen in dem Bereich für Angelegenheiten der Kriegsveteranen. 1946 kehrte sie als Assistenzprofessorin an die Universität in Toronto zurück. Dort arbeitete sie wieder mit Professor Blatz zusammen und konzentrierte sich auf projektive Techniken wie das Rorschach-Verfahren, mit dem sie in Zusammenarbeit mit Bruno Klopfer vertraut wurde. Des Weiteren konnte sie während der Arbeit in einem Krankenhaus für Kriegsveteranen praktische Erfahrungen in der klinischen Diagnostik sammeln. 1950 verließ sie zusammen mit ihrem Mann Leonard Ainsworth Toronto und ging mit ihm nach London. Durch eine Freundin erfuhr Ainsworth von der Stelle in Bowlbys Forschungsteam und begann dort ihre Karriere als Forscherin (vgl. Grossmann & Grossmann, 2003).

Sie begann sich mit der Literatur über Trennung und Mutterentbehrung auseinanderzusetzen, die Bowlby für seinen Artikel bei der Weltgesundheitsorganisation gelesen hatte. Des Weiteren schloss sie sich den Analysen der Daten der anderen beiden Forschungsgruppen Bowlbys an und war von den Beweisen der Auswirkungen von mangelnder mütterlicher Fürsorge auf die Entwicklung des Kindes beeindruckt (vgl. Grossmann & Grossmann, 2003). Bei der Analyse der Daten der retrospektiven und der prospektiven Studien ließ sich erkennen, dass die prospektive Studie unter der Mitarbeit von Robertson einen bedeutend größeren Ertrag an Daten brachte. Die bei der Durchführung der Studie beobachteten Verhaltensweisen der Kinder brachten umfangreiche Daten über verschiedene Zeiträume und Arten der Trauer über den Verlust der Familie und der Ablösung von ihr. Diese Zeiträume und Verhaltensarten beschreibt Bowlby 1982 in seinem Buch „Das Glück und die Trauer“ sehr ausführlich, worauf ich im Verlauf dieser Arbeit noch eingehen möchte.

Mit dieser Studie zeigte sich, dass die Kinder anfänglich bekümmert über die Trennung reagierten, was sich dann in große Verzweiflung umwandelte. Sie riefen, weinten und schrien nach ihren Müttern und horchten beispielsweise bei jedem Türenschlagen, ob die Mutter sie wieder abholt. Wenn die Trennung eine Woche oder länger anhielt, zeigten sich erste Merkmale der Loslösung, die sich dadurch äußerten, dass das Kind seine Mutter scheinbar vergessen hatte und nicht mehr von ihr sprach. Der Grad der Loslösung zeigte sich bei der Wiedervereinigung von Mutter und Kind. Die Kinder zeigten distanziertes bis ignorierendes Verhalten gegenüber der Mutter (vgl. Bowlby, 1982).

Die Befragungen, die durch das Forschungsteam nach der Wiedervereinigung zu Hause durchgeführt wurden, zeigten, dass diese Kinder auch noch Tage danach distanziert gegenüber der Familie auftraten und für längere Zeit sehr unsicher und ängstlich auf Trennungen reagierten. Andere Kinder hingen ihren Müttern regelrecht am Bein und verfolgten sie auf Schritt und Tritt. Die Studie wies auf, dass die Bindung zur Mutter aufgrund der Trennung nicht verschwunden, sondern eher durch die Angst eines erneuten Verlustes geprägt war (vgl. Bowlby, 1982).

Während der Studie drehte Robertson seinen Film A Two-year-old Goes to Hospital und zeigte darin deutlich den Kummer eines Kindes, der schon nach einer kurzen Trennung von der Mutter besteht. Robertson hatte damit die Öffentlichkeit erregt und wandte sich von der Forschung ab, um die Bedingungen für Kinder zu verbessern, die von ihren Familien getrennt sind. Bowlby unterstützte die Reformen, die durch Robertsons Bemühungen folgten, blieb der Forschung und Theoriebildung aber treu (vgl. Grossmann & Grossmann, 2003).

Bowlby suchte nun nach einer wissenschaftlichen Erklärung für die empirischen Befunde seiner Studien, konnte aber in den psychoanalytischen Theorien nichts Passendes finden, was die Entstehung der Bindung oder die Reaktionen der Kinder auf Trennung und Wiedervereinigung erklären konnte. Bis Mitte der 1950er Jahre bestand die Annahme, dass Individuen Bindungen zu anderen Individuen eingehen, weil sie entdecken, dass sie damit ihre Bedürfnisse befriedigen können (vgl. Bowlby 1982).

Die Mutter-Kind-Bindung wurde damals aus psychoanalytischer und lerntheoretischer Sicht vorwiegend dem Füttern zugeordnet. Hunger galt als Primärtrieb und die persönliche Bindung, welche als abhängige Bindung bezeichnet wurde, galt als Sekundärtrieb (vgl. Bowlby, 1995). Somit ließe sich der Schluss ziehen, dass jedes Kleinkind demjenigen nachläuft, von dem es etwas zu essen bekommt. Bowlby hatte ein solches Verhalten aber nicht in seinen Studien beobachten können und nahm vehement davon Abstand, die Mutter-Kind-Bindung als Abhängigkeitsbeziehung zu bezeichnen. Auch die von Melanie Klein vertretene Objektbeziehungstheorie, in der Personen oder Gegenstände als Objekt bezeichnet werden, bestätigte nicht Bowlbys Beobachtungen.

Entgegen den Theorien von Psychoanalytikern und Lerntheoretikern, dass der Mensch in Abhängigkeit zu anderen Menschen steht, um seine Triebe zu befriedigen, ging Bowlby von der Annahme aus, dass es ein biologisch angelegtes Verhaltenssystem gibt, welches Menschen dazu veranlasst, sich aneinander zu binden. Studien über den Zusammenhang vom Entzug der mütterlichen Pflege und deren Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder haben Bowlby dazu veranlasst, das traditionelle Modell von Bindung als Abhängigkeitsbeziehung infrage zu stellen (vgl. Bowlby, 1982).

Ethnologische Studien zur frühen Prägung im Tierreich, zum Beispiel von Konrad Lorenz, und die Untersuchung von Harlow & Harlow an Rhesusaffen sowie die Deprivationsstudien von René Spitz bestätigten Bowlbys klinische Beobachtungen von Gefühllosigkeit bei einigen Kindern und Jugendlichen als Auswirkung von Trennungstraumata (vgl. Bowlby, 1995). 1958 veröffentlichte er seine Theorie zur Bindung in dem Aufsatz „The Nature of the Child’s Tie to his Mother“. Sein ausführliches theoretisches Konzept veröffentlichte Bowlby in seiner Trilogie „Bindung“ (1975), „Trennung“ (1976) und „Verlust, Trauer und Depression“ (1978). Durch die empirischen Untersuchungen seiner Mitarbeiterin Ainsworth wurde das klinisch formulierte Konzept von Bowlby grundlegend und dauerhaft beeinflusst. Nach ihrer ersten Zusammenarbeit mit Bowlby ging Ainsworth nach Kampala in Uganda und beobachtete dort im Rahmen ihrer Untersuchung 28 Ganda-Babys in ihrem häuslichen Umfeld. Sie kategorisierte in dieser Untersuchung erstmals drei Bindungsmuster (sicher, unsicher und nicht gebunden) und stellte einen Katalog von Bindungsverhaltensmustern auf. In darauffolgenden Studien konnte Ainsworth ihre Erkenntnisse, die sie in Uganda gesammelt hatte, erweitern und unterstützte die Theorien von Bowlby mit ihren empirischen Ergebnissen. Klaus E. Grossmann und seine Frau Karin Grossmann holten die Bindungstheorie nach Deutschland und führten in den vergangenen 30 Jahren eigene Forschungen im Bereich der Bindung durch (vgl. Grossmann & Grossmann, 2003).

Die Bindungstheorie hat sich in Fachkreisen etabliert und bildet eine Grundlage für die Erforschung, Beratung und Therapie im Bereich der Eltern-Kind-Beziehungen.

2 Bindung: Begriffsklärung und Definition

Schaut man in einem Wörterbuch oder Lexikon unter Bindung nach, findet sich überwiegend die Definition, dass Bindung eine dauernde, anhaltende emotionale Beziehung oder Verbundenheit eines Menschen zum Mitmenschen ist oder das innere Verhaftetsein an Werten, Ordnungen und Symbolen beziehungsweise zu deren Trägern (vgl. Schülerduden Psychologie, 2002; Großes Wörterbuch Psychologie, 2005; Harenberg Kompaktlexikon Band 1, 1996). Nach Aussagen von Bowlby agiert das Neugeborene auf der Grundlage eines „biologisch angelegten Verhaltenssystems“ (Bowlby, 1987), welches bei Trennung von der Bindungsperson, äußerer oder innerer Gefahr oder Bedrohung aktiviert wird (vgl. Grossmann & Grossmann, 2003). Das Neugeborene macht mit Verhaltensweisen wie Schreien oder Weinen auf sich aufmerksam und löst dadurch bei der Mutter oder Bezugsperson fürsorgliches Verhalten aus. Die Bezugsperson wendet sich dem Kind zu, indem sie es zum Beispiel auf den Arm nimmt, mit ihm spricht oder es stillt. Bowlby beschreibt Bindung als ein „emotionales Band“ zwischen der Mutter oder einer vergleichbaren Bezugsperson und dem Kind. Es entwickelt sich eine emotionale Beziehung, die dem Kind Nähe, Geborgenheit und Schutz vor Gefahren bietet. Die von ihm bezeichnete affektive Bindung sei eine „… Anziehungskraft, die ein Individuum für ein anderes Individuum besitzt “ (Bowlby, J. 1982. Das Glück und die Trauer, S. 89), und ihre Entstehung sei eine „… Folge sozialen Verhaltens der einzelnen Individuen “ ( Bowlby, J. 1982. Das Glück und die Trauer, S. 90). Die Mutter-Kind-Bindung beginnt nach Bowlby mit der Geburt und entwickelt sich in den ersten Lebensmonaten zu einer festen Bindung. Mit zunehmendem Alter nehmen die Menge und die Intensität des Bindungsverhaltens kontinuierlich ab. Das bedeutet aber nicht, dass Bindungsverhalten dann nicht mehr vorhanden ist. Bei erwachsenen Menschen zeigt es sich in Situationen, in denen sie ängstlich, unglücklich oder krank sind. Das spätere Bindungsverhalten hängt von den Erfahrungen ab, die der Mensch mit früheren Bezugspersonen gemacht hat. Um das Bestehen von Bindungen zu konzeptualisieren, hat Bowlby in seiner Bindungstheorie sieben Merkmale herausgearbeitet (vgl. Bowlby, J. 1982. Das Glück und die Trauer, S. 160). Kennzeichnend für Bindung sind:

1. Spezifität. Das Bindungsverhalten eines Menschen ist auf ein Individuum, meist die Mutter, gerichtet und entwickelt sich in den ersten neun Monaten des Lebens. Die Person, mit der das Kind am meisten sozial interagiert, wird die Hauptbindungsperson sein. Andere, wie zum Beispiel Großeltern, Geschwister, Tanten oder nicht zur Familie gehörende Betreuungspersonen, werden nach dem individuellen Grad der Bindungsbeziehung bevorzugt oder abgelehnt.
2. Dauer. Bis zum dritten Lebensjahr bleibt das Bindungssystem unmittelbar aktivierbar und wird mit zunehmendem Alter allmählich weniger aktiv. Somit kann eine Bindung über einen langen Zeitraum des Lebenslaufes andauern, bleibt oft bestehen oder kann nur schwer aufgegeben werden.
3. Emotionales Engagement. Die Entstehung und das Halten einer Bindungsbeziehung ist begleitet von vielen intensiven Gefühlen. Umgangssprachlich wird meist von Sich-„frisch“-Verlieben oder Über-jemanden-„Hinwegkommen“ gesprochen. Eine affektive Bindung aufzubauen, sie zu halten oder eine Trennung von der Bindungsperson zu überwinden, löst Gefühle wie Glück, Sicherheit, Wut oder Trauer aus. Diese Gefühle spiegeln die Qualität der Bindung eines Menschen zu einem anderen Menschen wider. Eine affektive Bindung bleibt somit über einen langen Zeitraum bestehen.
4. Ontogenese/individuelle Entwicklung. Das Bindungsverhalten entwickelt sich bei den meisten Kindern in den ersten neun Lebensmonaten gegenüber einer präferierten Person. Je mehr soziale Interaktionen mit dieser Person gemacht werden, desto wahrscheinlicher ist die Herausbildung einer Bindung zu dieser Person. Bis zum Ende des dritten Lebensjahres bleibt das Bindungsverhalten leicht aktivierbar und nimmt danach bei einer gesunden Entwicklung allmählich ab.
5. Lernen. Ein Schlüsselprozess in der Entwicklung der Bindung ist, das Vertraute vom Fremden unterscheiden zu lernen. Das aus der experimentellen Psychologie bekannte Reiz-Reaktions-System, durch Belohnung und Bestrafung zu lernen, spielt in der Entwicklung von Bindung eher eine geringe Rolle. Trotz wiederholter Bestrafung durch die Bezugsperson kann sich eine Bindung zu dieser entwickeln. Das biologische Programm Bindung setzt nur Beständigkeit voraus, es bestimmt nicht die Qualität der Bindung. Eine beständige Bezugsperson wird auch unabhängig von der Güte der Beziehung zu einer Bindungsperson.
6. Organisation. Das Bindungsverhalten wird in den Anfängen durch Reaktionen vermittelt, die nach eher einfachen Prinzipien organisiert sind. Vom Ende des ersten Lebensjahres an wird das Bindungsverhalten durch zunehmend kompliziertere Verhaltenssysteme vermittelt. Diese sind kybernetisch organisiert und stellen modellhaft die Umgebung und das Selbst dar. Durch Bedingungen wie Hunger, Fremdheit, Müdigkeit und allem, was Angst auslöst, werden die Verhaltenssysteme aktiviert. Ein Beenden des aktivierten Verhaltenssystems Bindung kann durch andere Bedingungen wie Hören oder Sehen der Bezugsperson oder die freundliche Interaktion mit ihr gelingen. Ist das Bindungsverhalten sehr stark aktiviert, kann es, um die Aktivierung zu beenden, erforderlich sein, dass das Kind die Bezugsperson berührt oder sich an sie klammert und von ihr getröstet wird. Im Gegenzug dazu hört ein Kind auf, Bindungsverhalten zu zeigen, wenn sich die Mutter im selben Raum befindet oder das Kind weiß, wo die Mutter ist. In diesem Fall tritt das Explorationsverhalten in Kraft und das Kind erkundet seine Umwelt.
7. Biologische Funktion. Die wahrscheinlichste Funktion des Bindungsverhaltens ist der Schutz vor lebensbedrohlichen Gefahren. Auch im Tierreich zeigt sich bei fast allen Säugetieren Bindungsverhalten. Die Jungen versuchen in der Regel in der Nähe eines Erwachsenen zu bleiben, um vor Gefahren, wie zum Beispiel Raubtieren, geschützt zu sein. (vgl. Bowlby, J. (1982). Das Glück und die Trauer, S. 160-162)

Das Bindungsverhalten hat eine große Bedeutung im menschlichen Leben und grenzt sich als eine Verhaltenskategorie vom Nahrungssuchverhalten und vom Sexualverhalten ab. Bowlby betont, dass sich das Konzept der Bindung wesentlich von dem der Abhängigkeit unterscheidet. Er sieht Unterschiede bei verschiedenen Merkmalen. So bezieht sich Abhängigkeit nicht spezifisch auf die Aufrechterhaltung von Nähe und ist nicht auf ein besonderes Individuum gerichtet. Abhängigkeit bedeutet nicht, dass eine dauernde Bindung entsteht und sie ist nicht unbedingt mit starken Gefühlen verbunden. Ihr wird auch keine biologische Funktion zugeschrieben. Bowlby betont des Weiteren die geringschätzige Wertimplikation des Begriffes Abhängigkeit, die dem Begriff der Bindung entgegengesetzt ist. Jemanden als abhängig zu bezeichnen, wirkt eher negativ und verachtend entgegen der Anerkennung, an jemanden stark gebunden zu sein. Bowlby hält das abwertende Element im Konzept der Abhängigkeit als eine „ fatale Schwäche “ (Bowlby, 1982) in der klinischen Anwendung und distanziert sich bewusst von diesem Begriff (vgl. Bowlby, J. (1982). Das Glück und die Trauer, S. 163).

In dem sechsten Punkt der Merkmale der Bindungstheorie, der Organisation, wird die Aktivierung des Bindungsverhaltenssystems und das Beenden dieser beschrieben. In diesem Punkt werden zwei weitere Verhaltensmuster erwähnt. Das Fürsorgeverhalten und das Explorations- oder Erkundungsverhalten. Wenn das Kind weiß, dass die Bezugsperson jederzeit erreichbar oder in Sichtweite ist, zeigt es kein Bindungsverhalten und erkundet neugierig seine Umwelt. Das Explorationsverhalten ist aktiviert, die Bezugsperson fungiert in der Zeit als „ sichere Basis “ (Bowlby, 1982) für das Kind. Bekommt das Kind Angst, Hunger oder wird es müde, so tritt das Bindungsverhalten wieder in Kraft und es wird den Kontakt zur Bezugsperson suchen. Dies zeigt, so Bowlby, dass die beiden Verhaltenssysteme zwar im Widerspruch zueinander stehen, sich normalerweise jedoch abwechseln (vgl. Bowlby, 1982). Das Fürsorgeverhalten steht in einer einander ergänzenden Beziehung zum Bindungsverhalten. Fürsorglich zu sein bedeutet nach Bowlby, dann verfügbar zu sein und zu antworten, wenn es gewünscht ist, und verständnisvoll zu reagieren und einzuschreiten, wenn dem Kind Gefahr droht. Für Bowlby hat das Fürsorgeverhalten einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung der psychischen Gesundheit eines Kindes. Ainsworth bestätigte die Annahme Bowlbys, dass feinfühliges Verhalten seitens der Bezugsperson eine wesentliche Grundlage für die Qualität der Bindung und der Entwicklung einer psychischen Gesundheit bildet. Auf ihr Konzept der Feinfühligkeit und die von ihr kategorisierten Bindungsstile gehe ich im folgenden Kapitel noch ausführlich ein.

Ainsworth benennt in einem ihrer Aufsätze eine Definition für Bindung, welche ich für wichtig erachte, da sie das nötige Wechselspiel zwischen Bezugsperson und Kind mit einbezieht.

„ (1) Bindung hei ß t Zuneigung. (2) Bindungen sind spezifisch und bedeuten Unterscheidung. (3) Bindung ist eine Handlung; sie ist ein Verhalten und damit beobachtbar. (4) Bindung ist ein aktiver Prozess; sie entsteht nicht einfach dadurch, da ß man ein passiver Empfänger von Stimulation ist. (5) Der Akt der Bindung beeinflu ß t die Reaktion des Objekts. Bindung ist ein zweiseitiger Prozess. Sie bedeutet Interaktion. “ (Ainsworth, Mary D. S. (1964). Muster von Bindungsverhalten, die vom Kind in der Interaktion mit seiner Mutter gezeigt werden. In: Grossmann & Grossmann (2003). Bindung und menschliche Entwicklung, S. 102)

Wie Ainsworth in dieser stichpunktartigen Abfolge definiert, ist Bindung ein Wechselspiel von emotionalem Verhalten zwischen der Bezugsperson und dem Kind. Sie ist dementsprechend nicht einfach da, sobald das Kind geboren ist, sondern unterliegt der Qualität der Interaktion zwischen Bezugsperson und Kind. Das Kind ist ein aktiver Interaktionspartner und signalisiert der Bezugsperson, wann Bedürfnisse nach Schutz und Nähe auftauchen und wann diese befriedigt werden wollen. Die Bezugsperson muss die Signale des Kindes erkennen und zuordnen können und angemessen darauf reagieren. Von Bedeutung ist dabei, wie genau das Verhalten von Kind und Bezugsperson zeitlich aufeinander abgestimmt ist und wie sich die Verhaltensweisen aufeinander beziehen. Kann die Bezugsperson in diesem Sinne angemessen auf die Signale reagieren, stellt dies eine Art Modellsituation dar. Die Entwicklung der Beziehung zum Kind wird gefördert und es wird dem Kind ermöglicht zu lernen, dass es durch sein Verhalten selbst etwas bewirken kann. Folglich ist die Interaktion zwischen Bezugsperson und Kind ein wichtiger Baustein der Bindungstheorie. Im folgenden Kapitel möchte ich näher darauf eingehen und ihre Notwendigkeit für die Qualität der Bindung darstellen.

2.1 Mutter-Kind-Interaktion und Qualität der Bindung

Interaktionen umfassen den kompletten Bereich menschlicher Kontakte. Die Interaktion ist ein Prozess der gegenseitigen Beeinflussung von Menschen in sozialen und zwischenmenschlichen Situationen. Sie umfasst gleichzeitig die Dimensionen Denken, Fühlen und Handeln (vgl. Großes Wörterbuch Psychologie, 2005). Dem emotionalen Austausch zwischen Mutter und Säugling schreibt Bowlby eine große Bedeutung in Hinblick auf die soziale und kognitive Entwicklung zu (Bowlby, 1982). Studien von Beebe und Lachmann (1988) und von Brazelton (1974) zeigen, dass Mütter und Kinder in ausgewogener Weise miteinander kommunizieren können. Der Säugling und seine Mutter sind dabei aktive Partner, die jeweils ihren Beitrag leisten und die Interaktion gegenseitig bestimmen (vgl. G. Schmücker; A. Buchheim, 2002. In: Klinische Bindungsforschung). Daniel N. Stern ist der Ansicht, dass der Säugling schon ab dem dritten Lebensmonat in der Lage ist, eine Kontrolle über die Einleitung, Fortsetzung, Beendigung und Vermeidung des Kontakts mit der Mutter auszuüben. Durch die Blickrichtung kann der Säugling das Niveau und das Ausmaß der Interaktion selbst kontrollieren. Er kann den Blick halten, sich abwenden oder die Augen schließen, um Ablehnung zu erkennen zu geben. Auch kann der Säugling durch Anblicken, Lächeln oder Lautäußerungen den Kontakt wieder aufnehmen (vgl. Stern, 2003). Ainsworth spricht in ihrem Aufsatz „Die Interaktion zwischen Mutter und Säugling und die Entwicklung von Kompetenz“ von der Bedeutung „ signalgebender Verhaltensweisen “ (Ainsworth, 1974) als einen wichtigen Beitrag des Säuglings zur Mutter-Kind-Interaktion. Sie hebt dabei das Weinen als eines der bedeutendsten Verhaltensweisen hervor, da der Säugling dadurch seine Mutter oder Bezugsperson aus weiterer Entfernung in größere Nähe holen kann. Dies soll aber nicht ausschließen, dass die Mutter oder Bezugsperson auch andere Verhaltensweisen als Signale wahrnehmen kann. Dazu muss sie dem Säugling aber nah sein, um diese auch erkennen zu können. Daher hebt Ainsworth die Bedeutung des Weinens hervor. Ainsworth meint, dass die frühen Signale noch nicht die konkrete Absicht beinhalten zu kommunizieren. Für sie scheint es eher unwahrscheinlich, dass Kommunikation schon vor dem zehnten Lebensmonat absichtlich geschieht. Sie bezieht sich dabei auf die Ausführungen Piagets zu seinen sensomotorischen Phasen (vgl. Ginsburg, Herbert P.; Opper, Sylvia, 1998) und den Aussagen Bowlbys über den Wechsel von festen Handlungsmustern zu zielkorrigiertem Verhalten (Bowlby, 1982). Jedoch ist sie auch der Ansicht, dass ein Säugling, wie oben beschrieben, durch ausdrucksstarkes, signalisierendes Verhalten Kontrolle ausüben und versuchen kann, das Verhalten seiner Mitmenschen zu beeinflussen (Ainsworth, 1974). In der Interaktion mit der Mutter oder anderen Bezugspersonen verfeinert der Säugling sein Signalverhalten und kann somit immer gezielter darauf Einfluss nehmen, wie die Interaktionspartner auf ihn reagieren. Hierbei ist zu erwähnen, dass sich Interaktion zwischen zwei Individuen durch mindestens vier verschiedene Verhaltensebenen zeigen kann: durch Mimik, Gestik, Körperhaltung und Sprache (vgl. E. Hédervári-Heller, 2003). Für eine feinfühlige Mutter sind die Signale des Säuglings verständlich. Sie nimmt sie wahr, interpretiert sie richtig und reagiert angemessen und prompt darauf (Ainsworth, 1974). Eine feinfühlige Mutter ist in der Lage, sich in die Situation des Kindes hineinzuversetzen und ihre Reaktion zeitlich auf die Signale des Kindes abzustimmen. Sie verhält sich dem Kind gegenüber weder ablehnend noch zurückweisend. Eine emotional weniger unterstützende Mutter lenkt das Interaktionsgeschehen eher auf ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse, nimmt die Signale des Kindes verzerrt oder gar nicht wahr und trägt somit zu einer negativen Beeinträchtigung des Wohlbefindens des Kindes bei. So wird eine wenig feinfühlige Mutter eventuell das Schreien des Kindes so interpretieren, dass es müde ist und es ins Bett legen, obwohl es mit dem Schreien vielleicht den Wunsch nach Nähe äußert. Oder sie interpretiert die Pausen beim Stillen oder Füttern als Sättigung und beendet diese. Manche Mütter fühlen sich vielleicht vom Verhalten ihres Kindes persönlich angegriffen und sind der Meinung, es wolle sie ärgern, indem es oft quengelt und schreit. Ainsworth hat in ihren Forschungen zur Mutter-Kind-Bindung drei Hauptkomponenten für die Fähigkeit der Mutter benannt, die Kommunikation ihres Kindes richtig zu interpretieren.

1. Die Wahrnehmung: Die Mutter muss zureichend zugänglich gegenüber den Mitteilungen des Kindes sein, bevor sie feinfühlig reagieren kann. Sie muss verfügbar sein, um die Signale des Kindes wahrzunehmen. Diese Verfügbarkeit allein reicht nicht aus, denn die Mutter kann in der Nähe ihres Kindes sein, muss aber die Signale deswegen noch nicht einfühlsam wahrnehmen. Dazu benennt Ainsworth einen weiteren wichtigen Aspekt. Sie beschreibt dazu unterschiedlich niedrige und hohe „Schwellen“ der Wahrnehmung. Eine sehr einfühlsame Mutter mit einer niedrigen Schwelle wird auch auf die feinsten Signale des Kindes achten, während eine Mutter mit einer sehr hohen Schwelle als unachtsam und womöglich unzulänglich erscheint. Dieser zweite Aspekt ist stark verbunden mit der Interpretation der Signale des Kindes. Man könnte meinen, dass eine feinfühlige Mutter mit einer sehr niedrigen Schwelle der Wahrnehmung die Signale ihres Kindes auch immer richtig interpretiert. Ainsworth betont aber, dass dies nicht immer der Fall sein muss und dass manche Mütter geringste Signale wie Mundbewegungen oder Anspannungen falsch interpretieren.

2. Die Wahrnehmung darf nicht verzerrt sein: Mütter, die die Signale ihres Kindes verzerrt wahrnehmen, tendieren dazu, eigene Wünsche, Bedürfnisse und Fantasien auf ihr Kind zu projizieren, die Bedürfnisse des Kindes zu verleugnen oder abwehrend auf die Signale zu reagieren. Mütter, die die Signale ihres Kindes weniger verzerrt wahrnehmen, haben mehr Einsicht in ihre Wünsche und Bedürfnisse und können dadurch die Signale des Kindes besser einschätzen. Sie sind sich auch darüber bewusst, dass ihr eigenes Verhalten das Verhalten und das Wohlbefinden des Kindes beeinflusst.

3. Das Einfühlungsvermögen: Bevor eine Mutter feinfühlig reagieren kann, muss sie sich in die Wünsche und Gefühle des Kindes einfühlen können. Sie muss sich in das Kind hineinversetzen können und die Dinge aus der Perspektive des Kindes sehen. Ein Mangel an Einfühlungsvermögen führt dazu, dass die Mutter zwar die Signale des Kindes wahrnimmt und richtig interpretiert, jedoch nicht angemessen darauf reagiert.

(vgl. Ainsworth, M. (1974). Feinfühligkeit versus Unfeinfühligkeit gegenüber den Mitteilungen des Babys. S. 415)

Die Qualität der Interaktion zwischen Mutter und Kind ist ein wichtiger Hinweis auf die Feinfühligkeit der Mutter. Eine angemessene Reaktion auf die Situation oder Antwort auf die Kommunikation des Kindes sind von großer Bedeutung. Dabei spielt auch die Schnelligkeit der Antwort oder Reaktion eine Rolle. Werden die Signale des Säuglings in der von Ainsworth beschriebenen, feinfühligen Art von der Mutter beantwortet, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich während des ersten Lebensjahres des Kindes eine sichere Bindung entwickelt. Demnach wird die Mutter bei Gefahr oder Bedrohung zur „sicheren Basis“ (siehe Kapitel 1) für das Kind, um Schutz und Geborgenheit zu suchen. Eine emotional weniger feinfühlige Mutter wird ihrem Kind nicht diese sichere Basis bieten können, da das Kind aufgrund der ablehnenden und unbefriedigenden Erfahrungen mit ihr den Kontakt in einer Notsituation meiden wird und nur wenig Bindungsverhalten zeigt. Das Kind hat sich an die Verhaltensbereitschaften seiner Mutter angepasst und gelernt, dass intensive Bedürfnisse nach Nähe und Geborgenheit nicht mit intensivem Bindungsverhalten seitens der Mutter beantwortet werden.

2.1.1 Bindungsverhalten und Bindungsmuster

Ainsworth hat in ihrem Aufsatz von 1964 mit dem Titel „Muster von Bindungsverhalten, die vom Kind in der Interaktion mit seiner Mutter gezeigt werden“ einen Katalog für Bindungsverhaltensmuster entwickelt. Aus ihren Beobachtungen in Afrika, wo sie eine Kurzzeit- Längsschnittstudie bei 28 Babys in der Interaktion mit ihren Müttern durchgeführt hat, kategorisierte sie verschiedene Muster von Bindungsverhalten. Es handelte sich dabei um Kinder zwischen zwei und fünfzehn Monaten, welche in einem Abstand von zwei Wochen zu Hause beobachtet wurden.

Ainsworth definiert Bindungsverhalten als „… ein Verhalten, durch das eine differenzierende, gefühlsm äß ige Beziehung mit einer Person oder einem Objekt entsteht; es beginnt damit eine Kette von Interaktionen, die dazu dienen, die gefühlsm äß ige Beziehung zu festigen. “ (Ainsworth, Mary D. S. (1964). Muster von Bindungsverhalten, die vom Kind in der Interaktion mit seiner Mutter gezeigt werden. In: Grossmann & Grossmann (2003). Bindung und menschliche Entwicklung, S. 102) Wie schon im ersten Kapitel beschrieben, ist Bindungsverhalten nach Bowlby ein angeborenes Verhaltenssystem, welches die Entwicklung der Bindung zur Mutter ermöglicht und fördert. Das Kind übernimmt mithilfe der Verhaltensmuster einen aktiven Teil in der Interaktion mit seiner Mutter und trägt somit zur Entwicklung der Bindung bei. Wie im zweiten Teil beschrieben, hängt die Qualität der Bindung von der Art der Interaktion und dem Fürsorgeverhalten der Mutter ab. Die von Ainsworth identifizierten Verhaltensmuster der Kinder bilden zusammen einen Katalog von Verhaltenskomponenten der Bindung an die Mutter. Zu den Verhaltensmustern gehören:

1. Differenzierendes Weinen: Wenn das Baby von einer fremden Person gehalten wird, fängt es an zu weinen, nimmt die Mutter es auf den Arm, hört es auf zu weinen. Wenn eine fremde Person versucht, das weinende Baby zu trösten, weint es weiter und lässt sich nur durch die Mutter beruhigen. Ainsworth beschreibt bei diesem Verhaltensmuster die Schwierigkeit zwischen der Mutter als Objekt oder als Teilobjekt. In ihren Beobachtungen wurde den weinenden Kindern meist die Brust angeboten, wodurch es schwierig ist zu beurteilen, ob nun die Mutter oder nur die Brust das Verhalten beruhigt und tröstend wirkt.
2. Differenzierendes Lächeln: Das Baby lächelt häufiger in Interaktionen mit der Mutter als in Interaktionen mit anderen Personen.
3. Differenzierendes Vokalisieren: Das Baby ist wie beim Lächeln eher zum Vokalisieren in der Interaktion mit der Mutter bereit als in der Interaktion mit anderen Personen.
4. Visuell-motorische Orientierung in Richtung der Mutter: Ist das Baby gerade nicht in der Nähe seiner Mutter, kann sie aber sehen, wird es den Blick so gut es geht durchgängig in ihre Richtung wenden. Wird es von einer anderen Person gehalten, kann diese Person spüren, dass das Baby seine motorische Orientierung in Richtung seiner Mutter aufrechterhält.
5. Weinen, wenn die Mutter weggeht: Wenn die Mutter das Gesichtsfeld des Babys verlässt, beispielsweise in einen anderen Raum geht, und das Kind durch eigene visuellmotorische Orientierungsreaktion die Mutter nicht wieder ins Blickfeld holen kann, fängt das Kind an zu weinen.
6. Nachfolgen: Sobald das Kind krabbeln kann, weint es nicht mehr, wenn die Mutter sich aus dem Blickfeld entfernt, sondern folgt ihr überallhin. Wird das Bemühen, der Mutter zu folgen, durch Hindernisse oder Personen eingeschränkt, fängt das Kind an zu weinen.
7. Klettern: Das Baby klettert über seine Mutter und erkundet somit ihren Körper, ihr Gesicht, die Haare und die Kleidung. Ainsworth hat dieses Verhaltensmuster mit aufgenommen, da die Kinder sehr viel häufiger über ihre Mutter klettern als über andere Personen.
8. Das Gesicht vergraben: Auch dieses Verhalten wurde nur in Beziehung zur Mutter beobachtet und kommt oft dann vor, wenn das Kind von einer Erkundung seiner Umwelt zurückkehrt oder während des Kletterns auf ihr.
9. Exploration von einer sicheren Basis aus: Wenn das Kind krabbeln oder sich anderweitig fortbewegen kann, fängt es an, sich von der Mutter weg zu bewegen und seine Umwelt zu explorieren oder mit anderen Personen zu interagieren. Das Kind vertraut beim Verlassen der Mutter darauf, jederzeit zu ihr zurückkehren zu können, wenn es möchte. Die Mutter ist somit eine sichere Basis. In starkem Kontrast zu diesem Vertrauen steht die Verzweiflung des Kindes, wenn die Mutter sich von sich aus wegbewegt.
10. Klammern: Ainsworth konnte das Muster des Klammerns erstmals bei Kindern mit einem Alter von 25 Wochen beobachten. Die häufigsten Beispiele für Klammern waren mit Angst verbunden, am eindeutigsten ausgelöst durch eine fremde Person. Das Kind klammerte sich panisch an seine Mutter und konnte von ihr aus die fremde Person ohne zu weinen anschauen. Versucht die Mutter, das Kind der Person zu geben, schreit das Kind, klammert sich verzweifelt an die Mutter und widersetzt sich jeglichen Versuchen, es von der Mutter zu trennen.
11. Die Arme zum Grüßen heben: Nachdem die Mutter nach einer gewissen Abwesenheit wieder auftaucht, hebt das Kind zur Begrüßung die Arme, lächelt und zeigt durch Äußerungen wie Jauchzen, Quieken oder erfreutes Rufen, wie es sich freut, die Mutter zu sehen.
12. Zum Grüßen in die Hände klatschen: Dieses Muster ähnelt sehr dem vorigen, jedoch klatscht das Kind in die Hände, anstatt die Arme zu heben.
13. Annäherung durch Hinbewegen: Wenn das Kind krabbeln kann, beendet es seine Grußreaktion, indem es so schnell wie möglich zu seiner Mutter krabbelt und sich an sie schmiegt. Auch das Hinkrabbeln ist durch Lächeln und freudige Laute gekennzeichnet.

(vgl. Ainsworth (1964). Muster von Bindungsverhalten, die vom Kind in der Interaktion mit seiner Mutter gezeigt werden. S. 104-107)

Die ersten drei Muster bedeuten die Unterscheidung der Mutter zu anderen Personen, während die darauffolgenden Muster die Sorge seitens des Kindes über den Aufenthaltsort der Mutter zeigen. In den letzten drei Mustern hat Ainsworth die Reaktionen des Grüßens als Bindungsverhalten klassifiziert. Sie hatte die Beobachtung gemacht, dass einige Kinder es gewohnt waren, von den Müttern beim Schlafen allein gelassen zu werden oder oft abgesetzt zu werden. Diese Kinder zeigten ihre Bindung eher durch eine freudige Begrüßung der Mutter als durch Verzweiflung und Angst, wenn diese wegging.

Die gesamte Entwicklung der Bindung beschreibt Ainsworth als vier Hauptphasen, die jeweils ohne klare Grenzen ineinander übergehen. In den ersten Wochen nach der Geburt gibt es eine Phase der „ unterschiedslosen Ansprechbarkeit “ (Ainsworth, 1964) auf alle Personen. Danach folgt eine Phase von „ differenzierender Ansprechbarkeit “ (Ainsworth, 1964) auf die Mutter. Die Ansprechbarkeit auf andere Personen bleibt jedoch bestehen. Das Kind unterscheidet aber nun zwischen der Mutter und anderen Personen, was sich durch die ersten drei Verhaltensmuster der Bindung zeigt. Diese Phase konnte zwischen dem zweiten und dritten Lebensmonat durch differenziertes Weinen beobachtet werden. Daran schließt sich eine Phase „ scharf definierter Bindung “ (Ainsworth, 1964) an die Mutter an. Personen aus dem Umfeld des Kindes und fremde Personen wurden von dem Kind auffallend weniger freundlich beachtet. In dieser Phase zeigen sich die Muster Nachfolgen, Klammern und Weinen, wenn die Mutter weggeht, sehr häufig und beständig. Wie in Punkt neun beschrieben, wurde die Mutter zu einer sicheren Basis für das Kind. Die vierte Phase der „ klaren Bindung “ (Ainsworth, 1964) vermischt sich mit der dritten Phase und das Kind beginnt Bindungen an andere Personen aus seinem Umfeld zu entwickeln. Oft sind dies der Vater oder Großeltern und Geschwister, aber auch andere Pflegepersonen. Das Kind zeigt dann auch in Bezug auf diese Personen die oben erläuterten Verhaltensmuster von Bindung. In dieser Phase bildet sich die Fähigkeit heraus, die Bindung an die Mutter von den Bindungen an andere Personen zu unterscheiden. Damit einher geht die Angst vor fremden Personen, die meist auch Fremdeln oder Fremdelphase genannt wird.

Ainsworth betont in ihrem Aufsatz, dass sich die von ihr kategorisierten Verhaltensmuster von Bindung tendenziell, mit der Mutter als Objekt, zusammen organisieren. Es müssen aber nicht alle Verhaltensmuster gleich stark auftreten. So kann sich die Bindung bei einigen Kindern so zeigen, dass sie protestieren, wenn die Mutter weggeht, und klammern, wenn sie wiederkommt. Andere Kinder können Bindungsverhalten eher durch freudige Begrüßungen, Lächeln und Lautäußerungen zeigen. Ainsworth stellt drei Bindungsverhaltensweisen heraus, welche sie für markant und aufschlussreich hält. Sie war erstaunt über die eigene Initiative, die in den Verhaltensmustern von dem Kind ausgeht. Das lässt sie zu der Überlegung führen, „… da ß das Kind nicht durch Stimulation oder durch die passive Befriedigung von Bedürfnissen des leiblichen Wohls, sondern zum gro ß en Teil durch seine eigene Aktivität gebunden wird “

(Ainsworth, Mary D. S. (1964). Muster von Bindungsverhalten, die vom Kind in der Interaktion mit seiner Mutter gezeigt werden. In: Grossmann & Grossmann (2003). Bindung und menschliche Entwicklung, S. 109). Sie misst der aktiven Initiative eine große Bedeutung bei und sieht in der Interaktion zwischen Mutter und Kind eine wechselseitige Anregung und Beeinflussung der Entwicklung der Bindung. Einen weiteren Aspekt sieht sie in dem Aufrechterhalten der Bindung oder des Bindungsverhaltens aus der Ferne. Bindungsverhalten muss nicht mit körperlich engem Kontakt enden, was sich an den Mustern des Verhaltens gut erkennen lässt. Die Mutter fungiert als sichere Basis und die Interaktion kann auch über eine Entfernung stattfinden, wenn das Kind und die Mutter sich sehen und hören können. Der letzte Punkt, den Ainsworth hervorhebt, ist der, dass sich die Bindungen an andere Personen sehr schnell nach der Bindung an die Mutter entwickeln können, wenn das Kind die Gelegenheit hat, mit anderen Personen zu interagieren (Ainsworth, 1964).

Welches Bindungsmuster das Kind während seiner ersten Lebensjahre entwickelt, wird also weitgehend davon beeinflusst, wie sich die Interaktion zwischen Mutter und Kind entwickelt. Ob sie harmonisch miteinander interagieren und die Mutter feinfühlig auf die Bedürfnisse reagiert oder ob sie die Signale ignoriert und eher notdürftig mit dem Kind interagiert. Aus zahlreichen prospektiven Forschungsstudien über die sozio-emotionale Entwicklung der ersten fünf Lebensjahre stammen Belege für die oben genannten Zusammenhänge vom Bindungsverhalten zwischen Mutter und Kind. Drei hauptsächliche Bindungsmuster, die sich in den ersten Lebensjahren herausbilden, sind zusammen mit den familiären Bedingungen, die sie fördern, verlässlich identifiziert. Ainsworth begann während der 1960er Jahre mit der Forschungsarbeit und konnte mithilfe der „Fremden Situation“ mehrere Bindungsmuster klassifizieren. In den USA wurden ihre Forschungsergebnisse dann von Main, Kaplan & Cassidy und Sroufre erweitert und ausgebaut und auch in Deutschland von Karin und Klaus Grossmann übernommen und weiterentwickelt. In der „Fremden Situation“ werden Mutter und Kind in einen Raum gebracht, in dem sich zwei Stühle und eine Spielecke befinden. Durch einen Einwegspiegel und ein Mikrofon wird das Geschehen von mehreren Beobachtern dokumentiert. Die Dauer der Beobachtungen beläuft sich auf circa zwanzig Minuten, wobei die einzelnen Episoden in je drei Minuten unterteilt sind. Die Mutter setzt das Kind in der ersten Episode in die Spielecke und nimmt selbst auf einem der Stühle Platz. Nach ein paar Minuten betritt eine für das Kind fremde Person den Raum und setzt sich auf den zweiten Stuhl. Sie nimmt erst mit der Mutter und dann mit dem Kind Kontakt auf. Nach ein paar weiteren Minuten verlässt die Mutter möglichst unauffällig den Raum. Die fremde Person setzt sich wieder auf den Stuhl und interagiert nicht mehr mit dem Kind, versucht aber das Kind zu trösten, wenn es das Fehlen der Mutter bemerkt. Nach einer variablen Zeitspanne spricht die Mutter laut vor der Tür, sodass das Kind sie hören kann und öffnet nach einer kurzen Pause die Tür. Sie bleibt vorerst im Türrahmen stehen, um die Reaktion des Kindes abzuwarten. Dann grüßt sie das Kind und tröstet es. Wenn sich das Kind beruhigt hat, soll sie versuchen, es wieder zum Spielzeug zu setzen und verlässt mit einem Abschiedsgruß erneut den Raum. Nun wendet sich die fremde Person dem Kind von Anfang an aktiv zu und versucht mit dem Kind zu interagieren. Nach ein paar Minuten betritt die Mutter wieder den Raum und begrüßt das Kind. Die „Fremde Situation“ ist somit beendet (vgl. Ainsworth, 1969). Aus den empirischen Daten der Beobachtungen klassifizierten Ainsworth und ihre Kollegen drei Hauptbindungsmuster, die Bowlby wie folgt beschreibt.

Kinder mit einer „sicheren Bindung“ haben die Gewissheit, dass ein Elternteil, meist die Mutter, ihnen in angstauslösenden Situationen zur Seite steht und ihnen hilft. Das Kind fühlt sich bei der Entdeckung seiner Umwelt ermutigt und fähig, damit umzugehen. Die Mutter ist für das Kind leicht verfügbar, feinfühlig gegenüber den Signalen des Kindes und reagiert liebevoll, wenn das Kind Schutz und Trost sucht.

Kinder mit einer „ängstlich-ambivalenten“ Bindung sind sich unsicher, ob die Mutter ansprechbar, verfügbar oder hilfreich ist, wenn sie in angstauslösenden Situationen Hilfe und Schutz brauchen. Diese Kinder haben die Erfahrung gemacht, dass die Mutter willkürlich verfügbar und hilfreich ist. Sie entwickeln Trennungsängste und klammern häufig. Des Weiteren explorieren sie ihre Umwelt nicht so stark und eher ängstlich im Gegenzug zu sicher gebundenen Kindern. Dieses Verhalten rührt von wiederholten realen oder angedrohten Trennungen und wenig elterlichem Beistand her.

Kinder mit einer „ängstlich-vermeidenden“ Bindung haben keine Zuversicht, dass die Mutter hilfreich auf ihre Signale reagiert, sondern erwarten, dass sie abgewiesen werden. Diese Kinder versuchen es erst gar nicht, Liebe und Unterstützung zu fordern, sie vermeiden Körperkontakt und Nähe suchendes Verhalten. Sie zeigen keine deutlichen Trennungsängste und ignorieren ihre Mutter bei deren Wiederkehr.

(vgl. Bowlby (1995). Elternbindung und Persönlichkeitsentwicklung)

Ainsworth hat anhand ihrer empirischen Daten aus der „Fremden Situation“ weitere Bindungsmuster klassifizieren können. Dabei handelt es sich um Untergruppen von den oben genannten drei Bindungsmustern. Die Hauptbindungsmuster ließen eher eine Unterscheidung der Schwere der Belastung in Trennungssituationen zu, während die Verhaltensmuster bei der Wiedervereinigung von Mutter und Kind eine Grundlage für spezifische Untergruppen boten. Ainsworth klassifizierte mit ihrer Forschungsgruppe acht weitere Gruppen von Bindungsmustern. Die Kleinkinder der Gruppen mit sicherer, ängstlich-ambivalenter und ängstlich-vermeidender Bindung konnten aufgrund von bestimmten Arten von Verhaltensmustern innerhalb einer der Hauptgruppen einer spezifischen Untergruppe zugeordnet werden. Ainsworth und ihre Forschungskollegen, unter anderem Mary Main und Silvia Bell, erkannten bestimmte Arten von Verhaltensweisen als Reaktionen auf den Stress in der „Fremden Situation“ und identifizierten so zusammengehörige Gruppen von Kleinkindern innerhalb einer Hauptgruppe. Für die Klassifikation der Untergruppen wurde die Aufmerksamkeit vermehrt auf die Interaktion zwischen Mutter und Kind während der Wiedervereinigungsphase gelegt. Es stellte sich heraus, dass die Untergruppen eine bessere Grundlage für die Klassifikation individueller Unterschiede boten als die weit gefassten Hauptgruppen.

2.1.2 Die Beständigkeit der Bindungsmuster

Die genannten Hauptbindungsmuster sind prospektiven Studien zufolge relativ beständig, da die Eltern oder Bezugspersonen dem Kind unverändert begegnen und sich das jeweilige Muster somit selbst fortdauernd aufrechterhält. Kinder mit einer sicheren Bindung scheinen von Grund auf ausgeglichener, fröhlicher und weinen nicht so oft und bekommen daher auch mehr positive und liebevolle Aufmerksamkeit durch ihre Eltern. Kinder mit ängstlich-ambivalenter Bindung, die viel weinen und klammern, oder Kinder mit ängstlich-vermeidender Bindung, die sich distanzieren, haben die Erfahrung gemacht, fordernder auftreten zu müssen, um Zuwendung zu erlangen. Zudem sind die elterlichen Reaktionen bei den letzteren Bindungsmustern vermehrt negativ und werden durch ein noch mehr forderndes Kind sicher nicht positiver. Laut Bowlby ist das ursprüngliche Bindungsmuster jedoch durchaus modifizierbar, sodass sich mit verändertem elterlichen Verhalten auch das Bindungsmuster wandeln kann, so lange das veränderte Verhalten anhält (Bowlby, 1995). Er bezieht sich in dieser Aussage auf die Studien von Sroufe (1985), in denen dieser demonstrierte, dass individuelle Bindungsmuster nicht wegen des angeborenen kindlichen Temperamentes so beständig seien, sondern dass sie zunehmend internalisiert werden und in modifizierter Form auf andere Personen übertragen werden können. In einer prospektiven Studie gelang es Sroufe (1983), anhand des individuellen Bindungsmusters von zwölf Monate alten Kindern zuverlässig deren späteres Verhalten im Kindergarten vorherzusagen. In dieser Studie zeigte sich, dass sicher gebundene Kinder von den KindergartenerzieherInnen als beliebt, kooperativ, kreativ und anpassungsfähig beschrieben wurden. Kinder mit einer ängstlich- vermeidenden Bindung wurden dagegen eher als feindselig, unsozial, emotional isoliert und gleichzeitig als geltungsbedürftig beschrieben. Die Kinder mit einer ängstlich-ambivalenten Bindung wurden als impulsiv, leicht frustrierbar und angespannt, aber auch als hilflos und passiv beschrieben (vgl. Bowlby, 1995). Auch andere prospektive Studien zur Beständigkeit des Bindungsmusters, unter anderem von Main und Cassidy, Wartner oder Grossmann & Grossmann, haben aufgezeigt, dass das Bindungsmuster bei einjährigen Kindern auch noch drei bis sechs Jahre später besteht (vgl. Bowlby, 1995). Das setzt aber voraus, dass das elterliche Verhalten relativ gleich bleibt, um ein Bestehen des Bindungsmusters zu gewährleisten. Karin Grossmann beschreibt in einem ihrer Artikel „Frühe Bindungen und psychische Sicherheit bis ins junge Erwachsenenalter“ (In: Frühförderung interdisziplinär, 24. Jg., S. 55-64 (2005).

[...]

Ende der Leseprobe aus 100 Seiten

Details

Titel
Die Notwendigkeit der Elternbildung
Hochschule
Fachhochschule Lausitz in Cottbus
Note
1,3
Autor
Jahr
2011
Seiten
100
Katalognummer
V210334
ISBN (eBook)
9783656379805
ISBN (Buch)
9783656380528
Dateigröße
1072 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Theoretischer Schwerpunkt liegt auf der frühen kindlichen Entwicklung und Elternschaftsmodellen, aktuelle Studie zum Druck dem Eltern in der Erziehung ausgesetzt sind, angelehnt an Sinus-Milieus, mit Aussicht auf Möglichkeiten der präventiven Arbeit schon in der Sekundarstufe, um Überforderung und Unwissen vorzubeugen.
Schlagworte
Bindungstheorie, Elternschaftsmodelle, frühkindliche Entwicklung, Sinus Milieus, Entwicklungsschritte, elterliches Verhalten, kindliches Temperament, Erziehungskompetenz, intuitive Elternschaft, Bindungsbeziehung, innere Arbeitsmodelle
Arbeit zitieren
Diplom Sozialpädagogin/Sozialarbeiterin (FH) Bettina Knobloch (geb. Kanis) (Autor:in), 2011, Die Notwendigkeit der Elternbildung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/210334

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