Die Kunst des Jurodstvo. Russische Aktionskünstler von Jurodivyj bis Pussy Riot


Hausarbeit (Hauptseminar), 2012

28 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das alte Jurodstvo
2.1. Definition
2.2. Die heilige Narrheit in der Orthodoxie

3. Das neue Jurodstvo
3.1. Moskauer Aktionismus
3.2. Die Verbindung zu Jurodstvo
3.3.Oleg Kulik als Hund
3.4. Aleksandr Brener
3.5. „Pussy Riot“

4. Schluss

Quellenverzeichnis

Internetquellen

Anhang

1. Einleitung

„Es ist ein Narr, ein Künstler, wenn wir Glück haben, ein ‚Narr in Christo‘. Wir sollten ihm zuhören.“ So die letzten Worte der „Künstlerrede“ von Hellmuth Matiasek. Doch was verbirgt sich dahinter? Was hat der Narr in Christo mit der Kunst zu tun? Die vorliegende Arbeit soll eben jene Fragen klären. Sie befasst sich mit der Tradition des Jurodstvo in der postmodernen russischen Kunst. Hierbei soll aufgezeigt werden, ob noch Verbindungen zwischen dem Narren in Christo und der Kunstszene des 20. Jahrhunderts bestehen und welcher Art diese sind. Dabei soll als erstes ein historischer Blick auf die Figur des Jurodivyj geworfen und sein Werdegang erklärt werden, bevor ein Bogen hin zur postmodernen Kunst und auch in die Neuzeit geschlagen wird.

Dabei orientiert sich die Arbeit an der Dissertation von Natalia Ottovordemgentschenfeldes, einer Studie, die sich der Phänomenologie und Typologie des Narren in Christo widmet. Zusätzlich wird für die Beschäftigung mit der postmodernen Kunst und dem neuen Jurodstvo auf das Buch Gesine Drews-Syllas zurückgegriffen, das sich ausführlich mit dem Moskauer Aktionismus und seinen Hauptvertretern Oleg Kulik und Aleksandr Brener beschäftigt. Für den letzten Abschnitt, in dem es um das höchste aktuelle Thema des Protests der russischen Punkband „Pussy Riot“ geht, wird auf Grund der Aktualität auf online-Quellen zurückgegriffen werden müssen.

2. Das alte Jurodstvo

2.1. Definition

„Das Jurodstvo, welches das kulturhistorische Bild Russlands bis zum 19. Jahrhundert geprägt hat, ist eine religiöse Lebensform, in der sich urtümliche, spezifische christliche Gaben und Kräfte äußern, die in ihrer Urform bereits in den Evangelien und in der Apostelgeschichte nachgewiesen werden können und die in den Frommen der russischen Kirche eine wirkungsvolle Neubelebung erfahren haben.“[1]

Das Wort Jurodstvo leitet sich vom russischen Adjektiv „jurodivyj“ (rus. Юродивый) ab, das etymologisch von den Begriffen „urod, urodina, urodstvo, urodlivost“ abstammt. Diese bedeuten so viel wie „Missgeburt, Scheusal, Krüppel, Ungeheuer, Entarteter".[2] In der Übersetzung des deutsch-russischen Wörterbuchs findet sich die Bedeutung „Narr in Christo, christlicher Asket, Gottesnarr, der sich aus Demut und Selbsterniedrigung für einen Idioten, Geistesgestörten oder Verrückten ausgibt“ sowie „einfältig, närrisch, geistesgestört, ein Wahnsinniger, Blödsinniger“.[3] Jurodivyj sei ein „Wahnsinniger, […]; das Volk halte Jurodivye für Gottesmänner, in deren bewusstseinslosen, unabsichtlichen Handlungen es nicht selten tiefen Sinn und sogar Vorahnung oder Vision finde.“[4]

Der Jurodivyj ist ein charismatischer Frommer, der mit seinem Leben den Weg Christi repräsentiert und dessen Weg ans Kreuz symbolisch imitiert. Er ist aber auch eine Figur, die übriggebliebene Elemente des Heidentums und des sich verbreitenden Christentums vereint.

2.2. Die heilige Narrheit in der Orthodoxie

„Jedes Volk hat seine Kulturkonstanten, das heißt seine bevorzugten, von Jahrhundert zu Jahrhundert wiederkehrenden Ideen, Motive, Verhaltensmodelle, die in ihrer Gesamtheit eine allgemeine Topik bilden.“[5] Für die russische Kultur stehen bei der Bildung solch einer Konstanten die Orthodoxie und die damit einhergehende Anerkennung der Kirche als staatlich im Vordergrund. Einer der wichtigsten Aspekte, die durch die Kirche geprägt sind, ist die Vorstellung vom Ziel und Wert des Lebens. Das Leben wird als Schwelle zur ewigen Existenz begriffen, wichtigste Lebensaufgabe ist die Vorbereitung auf den Tod. Sinn des Lebens ist das Streben nach Demut und Ergebenheit, woraus in der russischen Kultur eine Tendenz zur Geringschätzung irdischer Güter resultiert. Die Vergöttlichung oder Gottwerdung ist Sinn der menschlichen Existenz.[6]

Das Wort „Narr“ bedeutet im Allgemeinen ein geistig anormaler Mensch im weitesten Sinne, Narrheit steht für Dummheit, intellektuelle Beschränktheit aber auch für Geisteskrankheit. Im religiös-geistigen Sinn war das Narr bereits im Diesseits tot, auch die Hoffnung auf einen Aufstieg im Jenseits bleib verwehrt, da der Narr durch seine geistige Unfähigkeit nicht als Ebenbild Gottes galt. Im Mittelalter standen geistig und körperlich behinderte auf einer Stufe. Da man glaubte, Gott schuf den Menschen nach seinem Vorbild, war eine Vereinbarkeit des Gottesbildes mit einer physischen oder psychischen Einschränkung nicht möglich. „Im Mittelalter hatten die Narren eine wichtige Funktion und waren in der Gesellschaft unentbehrlich […], da sie das Abstoßende im Menschen verkörperten und somit eine sozialhygienische Rolle übernommen hatten, die sich durch in der Verachtung der Menschen äußerte.“[7]

Doch der Narr ist auch positiv konnotiert, so im „Narr in Christo“. Dieser will dem kreuztragenden Christus nachfolgen und ein Leben der Weltüberwindung führen. Ausgehend von der tragischen Geschichte des Leben Christi hat sich daraus eine breite Narrenliteratur, vor allem in Russland in der Gestalt des Jurodivyj, entwickelt. Um zu vermeiden, für einen Heiligen gehalten zu werden, führt Jurodivyj ein Leben als armes, unvollkommenes Wesen, dass auf jegliche Form menschlicher Würde und Verpflichtungen gegenüber der menschlichen Gesellschaft verzichtet. Die heilige Narrheit ist eine Form christlicher Frömmigkeit, sie ist Ausdruck des religiösen Lebens. Sie hat ihre eigene Theologie, die die Grundmotive christlicher Verkündigung aufgreift. Als Grundlage der Forschung um die heilige Narrheit gilt der Erste Brief des Paulus an die Korinther: „Wie sind Narren um Christi willen […]. Hat nicht Gott die Weisheit dieser Welt zur Torheit gemacht?“[8] Hier gibt es verschiedene Auslegungsformen des Geschriebenen. So beschreibt Aleksandr Men`[9] die heilige Narrheit als „Torheit Gottes“ in ihrer radikalsten Prägung. Daraus folgt ein einfacher Schluss: ist Gott töricht, so ist der einfache, ebenfalls törichte Mensch, der nach Gottes Ebenbild gefertigt wurde, näher am Heil und an Gott, als jener gebildete. Die Umkehrung der Deutung, dass nun die Dummen den Klugen voraus sind, führt zu einer neuen, bisher gänzlich unbekannten Seinsordnung. Denn auch in der Bibel steht „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr“[10] Die wahre Weisheit liegt im christlichen Sinne also bei den „Unmündigen“, die wie die Kinder sind, im traditionellen Sinne die Nicht-Weisen, die Narren.[11]

Die ältesten Grundlagen für die Phänomenologie rund um Jurodstvo finden sich bereits in Ägypten und im Byzantinischen Reich. In Ägypten entstand das Wort „monach“ (Mönch), dass „Alleinlebender“ bedeutet.[12] In Erzählungen um die Eremiten taucht auch die heilige Narrheit auf: „Wer wird Narr um Gottes willen, den wird Gott weise machen.“[13] Von hier aus verbreitete sich die Vorstellung von Selbstverleugnung und Selbsterniedrigung, dem das russisch-orthodoxe Modell des Jurodstvos entstammt. Auch hier entwickelte sich die frühe Form der Selbsterniedrigung aus Demut und sich töricht stellen, um die Verachtung andere auf sich zu ziehen. Im Byzantinischen Reich wird das griechische Wort „salós“ für den Geisteskranken, Närrischen gebraucht und erhält erst später die zusätzliche Bedeutung „Selbsterniedrigung“.[14]

In Russland werden die Legenden des heiligen Narren aus dem elften bin 14. Jahrhundert überliefert, die Blütezeit liegt jedoch im 16. Jahrhundert. Etwa 30 bis 50 Jurodivye sind in Russland heiliggesprochen worden, weitaus mehr werden vom Volk als Heilige verehrt. Zum besseren Verständnis des Jurodstvo sind griechische Heiligenviten geeigneter, da in den ursprünglichen russischen Quellen nachträglich zu viel verändert worden ist. Jene Quellen besagen, dass der Jurodivyj einer ist, der sich um Christi willen verrückt oder dumm stellte. Er gilt als verrückter, der hinter seinem Wahnsinn Heiligkeit, Weisheit und Frömmigkeit verbirgt, sein eigentliches Wesen also hinter einer Maske versteckt.[15] Jurodivyj ist Träger der Ordnung des Gottesreiches, der in eine Welt voll Verrücktheit und Besessenheit hinabsteigt.

[...]


[1] Ottovordemgentschenfelde, S. 55.

[2] Vgl. Ottovordemgentschenfelde, S. 58

[3] http://de.pons.eu/russisch-deutsch/

[4] Ottovordemgentschenfelde, S. 58.

[5] Ottovordemgentschenfelde, Natalia (2003), Jurodstvo, S. 17.

[6] Vgl. Ottovordemgentschenfelde (2003), S. 17-19.

[7] Ottovordemgentschenfelde, S. 42.

[8] Ottovordemgentschenfelde, S. 45.

[9] Men‘, Alexandr, zitiert nach: Ottovordemgentschenfelde, S. 12.

[10] Matthäus Kapitel 5, Psalm 51,19.

[11] Ottovordemgentschenfelde, S. 41-48.

[12] http://de.wiktionary.org/wiki/

[13] Ottovordemgentschenfelde, S. 51.

[14] Vgl. Ottovordemgentschenfelde, S. 51.

[15] Vgl. Ottovordemgentschenfelde, S. 57.

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Die Kunst des Jurodstvo. Russische Aktionskünstler von Jurodivyj bis Pussy Riot
Hochschule
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald  (Institut für Slawistik)
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
28
Katalognummer
V209882
ISBN (eBook)
9783656378167
ISBN (Buch)
9783656587910
Dateigröße
1122 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
kunst, jurodstvo, russische, aktionskünstler, jurodivyj, pussy, riot
Arbeit zitieren
Anne Lorentzen (Autor:in), 2012, Die Kunst des Jurodstvo. Russische Aktionskünstler von Jurodivyj bis Pussy Riot, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/209882

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