Warum wurde „Carlos“ zum Terroristen? Eine Untersuchung der Geiselnahme in der Wiener OPEC-Zentrale 1975

Eine Analyse der Ursachen und seiner Legitimation


Seminararbeit, 2011

17 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Die Herausbildung der Analyse-Kategorien

3. Die Analyse
3.1. Push-Faktoren
3.2. Pull-Faktoren
3.3. Trigger
3.4. Vorbehalte gegenüber der westlichen Welt
3.5. Terrorist oder Freiheitskämpfer
3.6. Legitimation für das Töten

4. Zusammenfassung mit Tabelle

5. Schluss

Literaturverzeichnis Anhang

1. Einleitung

„Vor ihm kauerten die mächtigsten Männer der Welt auf der Erde. Gemessen an der Finanzkraft der Länder, die diese elf Ölminister repräsentierten, waren sie zusammengenommen gut und gerne 100 Milliarden Dollar schwer. Carlos und seiner Gruppe war es gelungen, die wohl reichste Geiselgruppe der Welt in ihre Gewalt zu bringen. Er genoß den Moment des Triumphes. Schließlich stellte er sich den zitternden Ministern vor: „Mein Name ist Carlos. Vielleicht haben Sie schon von mir gehört“ (Schröm 2004: 81).“

Ilich Ramírez Sánchez stammt aus Venezuela.[1] Sein Vater war Rechtsanwalt und bekennender Marxist. Gemeinsam mit seinen zwei Brüdern wurde er 1966 zur Ausbildung nach Europa geschickt. Zuerst machten die drei Brüder, die in Begleitung ihrer Mutter unterwegs waren, Station in London. Sie pflegten dort einen durchaus gehobenen Lebensstil. Als der Vater zu Besuch kam, stieß ihm das „bourgeoise“ Verhalten der Familie unangenehm auf. Um eine Ausbildung in seinem Sinne zu ermöglichen, musste sich Ilich Ramírez Sánchez an der Patrice-Lumumba-Universität in Moskau einschreiben. Das Leben in Moskau war mit dem in London zu dieser Zeit nicht zu vergleichen (Schröm 2004: 17f.). An der dortigen Universität herrschten strenge Regeln und ein enger Lehrplan. Ilich Ramírez Sánchez begann sich für Politik zu interessieren, obwohl er sich für Chemie eingeschrieben hatte. Die arabischen Kommilitonen schwärmten von Freiheitskampf der Palästinenser. Er war ebenfalls davon fasziniert (Schröm 2004: 18). Im Jahre 1970 beteiligte sich Ramírez Sánchez an einer nicht genehmigten Demonstration und flog von der Universität. Doch das kam ihm nicht ungelegen. Er reiste daraufhin nach Beirut und schloss sich im Alter von 20 Jahren der PFLP (Popular Front for the Liberation of Palestine) im Libanon an. Dort gab man Ilich Ramírez Sánchez den Kampfnamen „Carlos“.

Am 21. Dezember 1975 wurde Carlos durch die Geiselnahme in der Wiener OPEC-Zentrale zur Legende. Das Terrorkommando unter seiner Führung brachte rund 60 Personen in die Gewalt, darunter die 11 Ölminister der OPEC-Staaten (Maus 2010). Nach einer gelungen Ausreise aus Österreich und einer medienwirksamen Odyssee im Flugzeug durch Nordafrika wurden die Geiseln schließlich in Algerien gegen die Zahlung einer hohen Lösegeldsumme freigelassen, während Carlos und seinen Mitstreiter politisches Asyl in Algerien gewährt wurde (Schröm 2004: 105) .

Die Liste der weiteren Anschläge die ihm zugeordnet werden ist lang. Bis zu seiner Festnahme im Sudan 1994 und der Auslieferung an Frankreich war er der meistgesuchte Terrorist der Welt.

Doch warum wurde Ilich Ramírez Sánchez zu dem Terroristen Carlos? Was sind die Ursachen und worin sieht er die Legitimation für sein Handeln?

Diese Fragen werden in der folgenden Arbeit zu beantworten sein. Dabei wird anhand von verschiedenen Kategorien erläutert, warum Carlos zum Terroristen wurde. Die Grundlage für diese Analyse bietet das ausführliche Interview des Stern Reporters Stephan Maus, der Carlos persönlich im Hochsicherheitsgefängnis im französischen Poissy im vergangenen Jahr befragte.[2]

Zunächst werden dazu im folgenden Abschnitt die verschiedenen Analyse-Kategorien herausgebildet, bevor im Hauptteil der Arbeit die Aussagen von Carlos in diese Kategorien eingeordnet werden. Darauf folgt eine Zusammenfassung des Hauptteils, die anhand einer ausführlichen Tabelle veranschaulicht wird. Schließlich wird im Schlussteil ein kurzes Fazit gezogen und die eingangs gestellten Fragen beantwortet.

2. Die Herausbildung der Analyse-Kategorien

Bevor in die Analyse selbst eingestiegen werden kann, müssen verschiedene Analyse-Kategorien herausgebildet werden. Nach der Lektüre verschiedener Werke von Terrorismusexperten konnten vor allem bei Heinrich Krumwiede[3], Louise Richardson[4] und Hamed Abdel-Samad[5] weiterführende Informationen für verschiedene Kategorien gefunden werden. Teilweise konnten einige Überschneidungen in den Ansichten der Autoren festgestellt werden, auch wenn diese dafür andere Schlagwörter nutzten. Ebenfalls gemeinsam haben alle Autoren, dass sie auf dem Gebiet der Terrorismusforschung Ursachenforschung betreiben.

In seinem Aufsatz „Ursachen des Terrorismus“ spricht Heinrich Krumwiede unter anderem von den „Push-Faktoren“, den „Pull-Faktoren“ und dem „Trigger“ als Rahmen- und Prozessbedingungen für Terrorismus (Krumwiede 2004: 36-39). Diese drei Faktoren sollen jeweils eine Analyse-Kategorie bilden.

Bei den Push-Faktoren handelt es um die Faktoren, die Terroristen zum Handeln antreiben (Krumwiede 2004: 36). Krumwiede zählt soziale Unzufriedenheit/soziale Empörung, ethnisch-religiöse Benachteiligung und (Neo-)Kolonialismus zu den Wichtigsten.

Bei den Pull-Faktoren handelt es sich, um die Ziele, die Terroristen durch ihr Handeln erreichen wollen (Krumwiede 2004: 37). Krumwiede nennt in seinem Werk die angestrebten Ziele, die erhofften Gratifikationen und Nutzenkalküle als wichtigste Pull-Faktoren. Dabei spielen immaterielle Gratifikationen, wie der öffentliche Bekanntheitsgrad und Prestige genauso eine Rolle, wie die rationale Kosten-Nutzen-Rechnung bei einer terroristischen Aktivität (Krumwiede 2004: 36f). Der Gedanke der Kosten-Nutzen-Kalkulation von Terroristen wird auch von Max Abrahms in dessen „Strategic Model“ aufgegriffen (Abrahms 2008: 80). Dagegen zählt Louise Richardson Ruhm zu ihren drei Rs (Rache, Ruhm und Reaktion), die Terroristen zum Handeln bewegen (Richardson 2007: 133). Sie wollen Prestige und Aufmerksamkeit für sich und ihre Sache erringen, um die Erniedrigung auszugleichen, die sie ihrer Ansicht nach erlitten haben (Richardson 2007: 133).

Als Trigger definiert Krumwiede das Ereignis, das zu der zur Entstehung von politischen Gewaltorganisationen führt, größere Gewaltaktionen auslöst und so „wie der berühmte Tropfen das Fass zum Überlaufen bringt“ (Krumwiede 2004: 39). Als Beispiel nennt er die Tötung des Studenten Benno Ohnesorg durch einen Polizisten im Zuge der Demonstrationen gegen den Besuch des Schahs von Persien in Berlin 1967. Auf dieses Ereignis beriefen sich deutsche linksradikale Gruppen wie die Rote Armee Fraktion (Krumwiede 2004: 39; Waldmann 2004: 143, Crenshaw 1990: 117). Der Terrorismusexperte Peter Waldmann spricht in diesem Zusammenhang von „Schlüsselereignissen“ (Waldmann 2004: 141).

Krumwiede nennt in seiner Arbeit weitere Rahmenbedingungen, wie die politischen, ökonomischen und geografischen Ermöglichungsfaktoren sowie weitere Prozessbedingungen, wie die Veränderung der Rahmenbedingungen, die organisatorische Faktoren und die Eigendynamik (Krumwiede 2004: 38f.). Alle diese Punkte spielen für eine nähere Betrachtung der Forschungsfrage im Fall von Carlos nur eine untergeordnete Rolle.

Zusätzliche drei Kategorien konnten aus den Werken von Hamed Abdel-Samad und Louise Richardson gewonnen werden.

Abdel-Samad macht in seinem Aufsatz die Vorbehalte gegenüber der westlichen Welt und vor allem gegenüber der USA als einen Grund für die Radikalisierung (Abdel-Samad 2004: 226). Seine Ausführungen beziehen sich zwar auf Muslime, doch auch wenn Carlos erst später zum Islam konvertierte, könnte der Hass auf die westliche Welt eine Ursache für sein Handeln sein. Weitere Faktoren die Abdel-Samad nennt, beziehen sich zu speziell auf die Ursachen des heutigen islamischen Terrorismus und kommen für eine Beschäftigung mit Carlos nicht in Frage. Dazu zählen unter anderem die Entfremdung in einer fremden Gesellschaft oder eine emotionale und soziale Isolierung (Abdel-Samad 2004: 197-200).

Richardson bezieht sich in ihrem Werk auf den Soziologen Mark Juergensmeyer. Dieser fragte den der Gründer der Hamas, Dr. Abd el-Asis al-Rantissi[6], in welcher Hinsicht die Hamas missverstanden werde (Richardson 2007: 75). Dieser antwortete: „Sie denken wir seien die Angreifer. Das ist das größte Missverständnis. Wir sind nicht die Angreifer, wir sind die Opfer“ (Richardson 2007: 76). Daraus geht die fünfte Analyse-Kategorie hervor. Wie sieht sich Carlos? Sieht er sich selbst als den Terroristen, wie wir ihn in Erinnerung behalten werden oder als einen Freiheitskämpfer?

Die letzte Analyse-Kategorie wird sich mit der Legitimation für das Töten auseinandersetzen. Richardson sieht Terroristen als „handlungsorientierte Menschen, die in handlungsorientierten Gruppen operieren“ (Richardson 2007: 138). Eines ihrer drei Rs ist die Rache. Diese wird zum Beispiel auf palästinensischen Plakaten deutlich, wo es heißt: „Das Recht auf Rache ist unser“ (Richardson 2007: 127). Doch ist dies auch für Carlos die Legitimation unschuldige Menschen töten zu dürfen? Um vor sich selber und anderen solch drastisches Handeln zu rechtfertigen, bedarf es einer sehr starken Überzeugung richtig gehandelt zu haben. Welche Antwort wird Carlos darauf haben?

3. Die Analyse

Nachdem 6 Analyse-Kategorien herausgearbeitet werden konnten (davon 5 die sich mit den Ursachen des Terrorismus beschäftigen und eine die sich mit der Legitimation des Terrorismus beschäftigt), wird nun anhand des Interviews mit Carlos überprüft, inwieweit sich seine Aussagen in die Analyse-Kategorien einordnen lassen. Damit kann einerseits festgestellt werden, welche Ursachen und welche Legitimation Carlos für sein Handeln sah und ob es sich dabei für eine bei Terroristen „typische“ Denkweise handelt.

3.1. Push-Faktoren

Maus: „Sie selbst betrachten sich ja als professionellen Revolutionär im Dienste Palästinas...“

Carlos: „Aber ja! Wie Lenin. Wie Stalin. Wie Trotzki. Das sind professionelle Revolutionäre“ (Maus 2010).

Carlos beruft sich in seiner Aussage auf große Namen des Kommunismus. Als Antrieb für sein terroristisches Handeln kristallisiert sich die Ablehnung der bestehenden Ordnung und die Überzeugung vom Kommunismus als gerechterer Regierungsform heraus.

Carlos: „Die Revolution ist sehr konkret. Das ist nichts Abstraktes. Die Revolution ist eine Veränderung sozialer Strukturen, die den Arbeiter ausbeuten“ (Maus 2010).

Aus dieser Aussage resultiert, dass er in der Absicht handelt das bestehende System verändern zu wollen. Demnach scheint ihn seine politische Idealvorstellung dazu bewegt haben, das bestehende System in der westlichen Welt auf seine Art und Weise zu bekämpfen.

[...]


[1] Der Vater benannte seine Söhne aus Verehrung nach Vladimir Ilich Lenin, dem Gründer der Sowjetunion.

[2] Maus, Stephan 2010: „Verräter töten wir“, in: Stern, 12.08.2010, Heft 33, http://www.reporter-forum.de/fileadmin/pdf/Reporterpreis_2010/Artikel_im_Vorfeld/Verraeter_toeten_wir.pdf; 16.02.2011.

[3] Krumwiede, Heinrich 2004: Ursachen des Terrorismus, in: Waldmann, Peter (Hrsg.) Determinanten des Terrorismus, Weilerswist, 29-84.

[4] Richardson, Louise 2007: Was Terroristen wollen. Die Ursachen der Gewalt und wie wir sie bekämpfen können, Frankfurt am Main.

[5] Abdel-Samad, Hamed 2004: Radikalisierung in der Fremde? Muslime in Deutschland, in: Waldmann, Peter (Hrsg.) Determinanten des Terrorismus, Weilerswist, 189-240.

[6] Al-Rantissi wurde 2004 gezielt aus einem Apache-Helikopter der israelischen Luftwaffe im Gaza-Streifen in seinem Auto getötet.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Warum wurde „Carlos“ zum Terroristen? Eine Untersuchung der Geiselnahme in der Wiener OPEC-Zentrale 1975
Untertitel
Eine Analyse der Ursachen und seiner Legitimation
Hochschule
Universität der Bundeswehr München, Neubiberg  (Institut für Politikwissenschaft)
Veranstaltung
Grundlagen und Trends der Terrorismusforschung
Note
1,3
Autor
Jahr
2011
Seiten
17
Katalognummer
V209539
ISBN (eBook)
9783656374930
ISBN (Buch)
9783656375449
Dateigröße
629 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
warum, carlos, terroristen, eine, analyse, ursachen, legitimation
Arbeit zitieren
M.A. Florian Hideg (Autor:in), 2011, Warum wurde „Carlos“ zum Terroristen? Eine Untersuchung der Geiselnahme in der Wiener OPEC-Zentrale 1975 , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/209539

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