Tod an der Mauer - Wie die Deutschen mit ihrer Vergangenheit umgehen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2012

27 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


INHALT:

1. Einführung

2. Zum Verhältnis von Vergangenheitsbewältigung und Erinnerungskultur – eine begriffliche Systematisierung

3. Die Berliner Mauer – von Anfang an eine ideologische Projektionsfläche

4. Erinnerungen an die Berliner Mauer – Vergangenheitsbewältigung zwischen Ostalgie und Mauertoden
4.1 Die juristische Vergangenheitsbewältigung
4.2 Die gesellschaftlich-moralische Vergangenheitsbewältigung

5. (K)eine Schlussbetrachtung

1. Einführung

„Wer ausreisen wollte konnte ganz normal einen Ausreiseantrag stellen und dann ausreisen. Ich kenne einige Leute die das taten, auch Ende '88 noch. Die sind dann eben ausgereist, kein Problem. Wer unbedingt über die Mauer kletten [sic!] mußte ist selbst Schuld wenn er Probleme hatte, denn J E D E R wußte daß dort geschossen werden kann. Diese Leute sind das Riskio [sic!] also bewußt eingegangen.„

Dies ist ein Online-Kommentar eines anonymen Lesers vom 12. August 2011 auf den Onlineartikel der Thüringer Allgemeinen „Thüringen gedenkt der Maueropfer“ (vgl. Mudra 2011).

Auf solche Äußerungen trifft man immer wieder im Internet aber auch im eigenen Umfeld von Seiten einiger Bürgern der ehemaligen DDR. Ohne Anspruch, dass solche Meinungen von einem Großteil der Bevölkerung in den neuen Bundesländern getragen werden, ergeben sich dennoch aus solchen Aussagen drei Fragen: Wie entstehen solche Meinungen? Wie können sich solche Meinungen in einer Gesellschaft, deren Norm- und Wertvorstellungen zumindest institutionell und judiziell das Menschenleben und die Freiheit des Einzelnen über die Gewalt des Staates stellt, halten? Und schließlich, welche Defizite stehen der Bewältigung der DDR-Vergangenheit im Weg?.

Bevor diese Fragen beantwortet werden können, muss geklärt werden was Vergangenheitsbewältigung eigentlich ist und in welchen Abhängigkeiten und Wechselwirkungen sie zu anderen Begrifflichkeiten sie steht. Dabei breitet sich ein weites Feld von Begrifflichkeiten und Deutungsversuchen auf. So muss in diesem Zusammenhang nach Erinnerung und nach deren Entstehung, nach Erinnerungskultur, nach Gedächtnis und kollektivem Gedächtnis, nach Vergangenheit und deren Aufarbeitung, selbst nach Identität und Verantwortung gefragt werden. Aber nicht diese Fragen allein reichen aus, sondern eine Systematisierung ist nötig um letztlich analytische Rückschlüsse auf die Entstehung und Bewahrung oben aufgeführter Meinung ziehen zu können. Dies soll Gegenstand des ersten Schwerpunktes der vorliegenden Arbeit sein, der sich im Spannungsfeld verschiedener Begrifflichkeiten orientiert und eine theoretische Grundlage für eine sich anschließende Analyse der Vergangenheitsbewältigung im Kontext der „Mauertoten“ erarbeitet. Im zweiten Teil der Arbeit sollen Ursachen des Entstehens und des Bewahrens von Erinnerungsschemata offen gelegt werden, die teilweise konträr zu den Grundwerten unserer Demokratie stehen. Dazu soll auf Basis der theoretischen begrifflichen Schematisierung von Vergangenheitsbewältigung, der Prozesse von Vergangenheitsbewältigung seit der Wiedervereinigung nachgezeichnet und deren Erfolg überprüft werden. Hierbei werden verschiedene Quellenarten herangezogen. Beispielsweise wird für eine Untersuchung der Umstände einer Flucht und Methoden des SED-Staates eine Akte der Staatssicherheit herangezogen. Gleichzeitig wird für die Analyse auch Material aus den Medien herangezogen und ausgewertet und vor dem Hintergrund von wissenschaftlichen Thesen der Sekundärliteratur reflektiert. Letztlich sollen aus der Analyse Thesen abgeleitet werden, die Defizite des bisherigen Prozesses der Vergangenheitsbewältigung thematisieren und Ansätze für deren Fortentwicklung geben sollen. Dabei entsteht eine durch die Vorgaben beschränkte Analysetiefe. Die Knappheit der vorgelegten Beispiele erscheinen dem Autor jedoch ausreichend für die daraus gezogenen Schlüsse.

Aus Platzgründen wird auf eine ausführliche Darstellung der Literatur- und Forschungslage an dieser Stelle verzichtet. Es sei aber auf den Sammelband von Klaus-Dietmar Henke „Die Mauer. Errichtung, Überwindung Erinnerung“ (vgl. Henke 2011) hingewiesen, auf die detaillierte Darstellung von Erinnerung an die DDR durch Carola S. Rudnik (vgl. Rudnik 2011) sowie auf die theoretische Überlegungen von Helmut König zum Thema Vergangenheitsbewältigung (vgl. König 1998), die eine zentrale Argumentationsgrundlage dieser Arbeit bereitstellen.

2. Zum Verhältnis von Vergangenheitsbewältigung und Erinnerungskultur
– eine begriffliche Systematisierung

Um die Wirkung und das Zustandekommen von Erinnerungen und Aussagen über Zeitgeschichte nachzeichnen und eventuelle Defizite aufdecken zu können, soll zunächst das Forschungsfeld begrifflich eingegrenzt und systematisiert werden. Hierzu werden verschiedene Ansätze, teils Standarttheorien, aber auch unscharfe Ansätze verglichen, aufeinander bezogen und letztlich zum speziellen Zweck der vorliegenden Arbeit in einer eigenen Theoriegrundlage zusammengeführt.

Als Rahmenbegriff soll hier der Begriff der Vergangenheitsbewältigung dienen. Ursprünglich war Vergangenheitsbewältigung stark an den ethischen und moralischen Umgang mit der Vergangenheit des Nationalsozialismus geknüpft. Nach der Wiedervereinigung und dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde der Begriff jedoch zum universalen Terminus für politik- und sozialwissenschaftliche Analysen, die den Umgang demokratischer Staaten mit ihrer vordemokratischen, bisweilen diktatorischen Vergangenheit, untersuchten (vgl. König et al. 1998: 7).

Gleichwohl wurde der Begriff dadurch zu einem unscharfen Sammelterminus, der zu vielen Seiten offen scheint und sich nicht zur analytischen Betrachtung und diskursiven Ursachenforschung eignet. So werden der Vergangenheitsbewältigung beispielsweise justizielle, politische und historische Ebenen zugeordnet, jedoch auf deren Eingrenzung verzichtet (vgl. Schweizer 1998: 12ff). Andererseits wird ihr personelle und materielle Aufarbeitung zugeschrieben (vgl. Rudnick 2011: 20), selten jedoch wird der Begriff in seinem Gesamtumfang fassbar dargestellt.

Am ehesten scheint für eine analytische Betrachtung der Rolle der Berliner Mauer als Objekt, Ort und Projektionsfläche von Vergangenheitsbewältigung das begriffliche Verständnis und die Wesensauffassung von Helmut König dienlich zu sein:

„Unter Vergangenheitsbewältigung ist die Gesamtheit jener Handlungen und jenes Wissens zu verstehen, mit der sich die jeweiligen demokratischen Systeme in ihren nichtdemokratischen Vorgängerstaaten verhalten. Es geht dabei vor allem um die Frage, wie die neu etablierten Demokratien mit den strukturellen, personellen und mentalen Hinterlassenschaften ihrer Vorgängerstaaten umgehen und wie sie in ihrer Selbstdefinition und in ihrer politischen Kultur zu ihrer jeweiligen belastenden Geschichte stehen.“ (König 1998: 375).

Neben dieser allgemeinen Definition bietet König ein systematisches Verständnis von Vergangenheitsbewältigung an. Er attestiert Vergangenheitsbewältigung bestimmte Merkmale bezüglich deren Ziel, Aufgaben, Ebenen und Akteuren. Diese sollen im Anschluss dargelegt, diskutiert und in das weitere Begriffsfeld eingeordnet werden.

Das Ziel der Vergangenheitsbewältigung – so König – ist die Gegenwart vor der Wiederholung der Geschichte zu bewahren und einen politischen Neubeginn zu etablieren. Zur Erfüllung dieses Zieles müsse sich Vergangenheitsbewältigung folgenden Aufgaben stellen: 1. Verbot von belasteten Organisationen, 2. Bestrafung der Täter, 3. Disqualifizierung belasteter Personen, 4. Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer und 5. Öffentliche Aufarbeitung der Vergangenheit (vgl. ebd. 379).

Diese Prozesse berühren verschiedene Ebenen und werden auf diesen von unterschiedlichen Akteuren geprägt. Helmut König unterscheidet zwischen drei Ebenen: Zunächst identifiziert er die Ebene des politischen Systems, auf der institutionelle Regelungen zum Umgang mit Vergangenheit durch Legislative, Regierung oder Justiz getroffen werden (ebd.). Der fälschlicherweise oft mit Vergangenheitsbewältigung gleichgesetzte Begriff der Vergangenheitspolitik kann tatsächlich nur für die Ebene des politischen Systems parallel zur Vergangenheitsbewältigung verstanden werden (vgl. Frei 1996: 14) . Daran wird auch deutlich, dass die Ebenen der Vergangenheitsbewältigung nicht zwangsläufig das oben aufgeführte Ziel bedingen, sondern eher als Bereich zu verstehen sind, in dem das Ziel durch die Akteure gefördert werden kann, aber auch gegen das oben aufgeführte Ziel wirken kann[1]. Daneben beschreibt Helmut König die Ebene der politischen Kultur, die durch eine Vielzahl gesellschaftlicher Gruppen und Organisationen in der öffentlichen Diskussion geprägt ist (vgl. König 1998: 379). Hierbei hat König jedoch ein sehr enges Verständnis von politischer Kultur, denn er geht in seiner Beschreibung davon aus, dass politische Kultur einen Raum für Auseinandersetzungen einzelner Akteure oder Gruppen ist, in denen Standards für die Akzeptanz von Positionen, Verantwortung, Aufklärung und Erinnerung ausgehandelt werden (vgl. ebd: 387). Einen solchen Raum der ausgehandelten Deutung nannte der Politikwissenschaftler Karl Rohe politische Deutungskultur (vgl. Rohe 1994: 8ff). Politische Deutungskultur sei nur ein Teil von politischer Kultur. Der zweite Teil von politischer Kultur besteht aus der politischen Soziokultur. Darunter sind der Versuch der „Normalbürger“ den politischen Alltag symbolisch zu durchdringen und die daraus entstehenden Denk-, Rede- und Handlungsgewohnheiten dieser Bürger zu verstehen (vgl. ebd.). Die Beschreibung der politischen Soziokultur kann parallel zu Helmut Königs dritter Ebene, politischer Mentalität, gesehen werden. Diese ist durch die Einstellungen, Meinungen oder Verhaltensweisen der Bevölkerung zur Vergangenheit geprägt (vgl. König 1998: 379). Folglich ist es nur die Begrifflichkeit und die historische Zweckmäßigkeit, die Königs Ebenen von der politikwissenschaftlichen Vorstellung von politischer Kultur abweichen lässt. Die Prozesse, die Rohe zwischen Deutungskultur und Soziokultur skizziert, treffen folglich auch für die Ebene der politischen Kultur und politischen Mentalität von König zu. Rohe beschreibt die Deutungskultur als eine Metakultur zur Soziokultur, die durch ihre Deutungsmacht starken Einfluss auf die Soziokultur ausübt (vgl. Rohe 1994: 8ff). Der gleiche Zusammenhang muss zwischen politischer Kultur nach Königs Vorstellung und der von ihm beschriebenen politischen Mentalität bestehen.

Bevor hier die Parallelen zwischen Rohes politischer Kultur, Königs Ebenen der Vergangenheitsbewältigung und dem Begriff der Erinnerungskultur gezogen werden, sollen noch die Akteure von Vergangenheitsbewältigung genannt werden. Akteure sind Handelnde, die an der Bewältigung der oben genannten Aufgaben beteiligt sind und sich dabei auf den Ebenen bewegen. Akteure können zu den „Tätern“ oder zu den „Opfer“[2] gehören. Es können aber auch Vertreter verschiedener Generationen, Politiker oder andere gesellschaftliche Akteure sein (vgl. König 1998: 387).

Neben dem Begriff der Vergangenheitsbewältigung taucht seit 1990 der Begriff der Erinnerungskultur in der Wissenschaftssprache zunehmend auf und ist inzwischen Leitbegriff der modernen Kulturgeschichtsforschung geworden (vgl. Conelißen 2010). Auch hier ist die Suche nach einem analytisch-systematischen Verständnis schwer. So findet sich die offene Definition von Christoph Cornelißen:

„Es erscheint [...] sinnvoll Erinnerungskultur als einen formalen Oberbegriff für alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse zu verstehen, seien sie ästhetischer, politischer oder kognitiver Natur.“ (Cornelißen 2003: 555)

Eine solche offene Beschreibung wirkt auf der Suche nach einer systematischen Betrachtung des Begriffes eher unbefriedigend. Folgt man jedoch der weiteren Beschreibung, erscheinen interessante Parallelen zur Vorstellung von politischer Kultur nach Rohe und der Ebenen von Vergangenheitsbewältigung nach König:

„Der Begriff umschließt mithin neben Formen des ahistorischen oder sogar antihistorischen kollektiven Gedächtnisses alle anderen Repräsentationsmodi von Geschichte, darunter den geschichtswissenschaftlichen Diskurs sowie die nur ‚privaten’ Erinnerungen, jedenfalls soweit sie in der Öffentlichkeit Spuren hinterlassen haben.“ (ebd.)

Nach dieser Beschreibung kann Erinnerungskultur ebenfalls in zwei Ebenen geteilt werden. In Anlehnung an die soziopolitische Kultur soll hier die soziohistorische Kultur eingeführt werden. Die soziohistorische Kultur ist demnach geprägt durch den Einzelnen, dessen Erinnerung durch die eigene Erfahrung von Zeitgeschichte und Einflüsse der historischen Deutungskultur geprägt ist, bspw. dem kollektiven Gedächtnis oder dem geschichtswissenschaftlichen Diskurs. Gleichwohl können Akteure dieser Ebene ahistorische oder gar antihistorische Vorstellungen haben.

Historische Deutungskultur ist parallel zu politischer Deutungskultur zu verstehen. Hier wird durch Diskurse von Eliten mit Deutungsmacht, beispielsweise geschichtswissenschaftlicher Natur, Einfluss auf Einstellungen, Meinungen oder Verhaltensweisen der Bevölkerung – also der soziohistorischen Kultur – genommen. Dabei hat Erinnerungskultur in Abgrenzung zu Geschichtskultur, aber auch zu den Ebenen von Vergangenheitsbewältigung nach König eine funktionale Komponente. Erinnerungskultur hebt stärker auf die Formierung einer historisch begründeten Identität ab (vgl. ebd.).

In das dichotome Feld von Erinnerungskultur lässt sich auch das Konzept des kollektivem Gedächtnis einordnen. Der Begriff des „kollektiven Gedächtnisses“ wurde von Maurics Halbwachs 1925 eingeführt und beschreibt das kollektive Gedächtnis als das, „was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihrem gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren kann“ (zit. n. Uhl 2009: 39). Diese Vorstellung steht der Auffassung von Erinnerungskultur sehr nahe und kann als Produkt von Erinnerungskultur angesehen werden.

[...]


[1] Beispielweise beschreibt Norbert Frei, dass die Vergangenheitspolitik nach 1949 zunächst nicht das Ziel verfolgte eine Wiederholung der Geschichte zu verhindern, sondern die Vergangenheitspolitik zunächst den „Entnazifizierungsgeschädigten“, den Mitläufenr und sogar teilweise verurteilten Kriegsverbrechern zugute kam (vgl. 1996: 14)

[2] Die Kategorien Täter und Opfer sind schwer fassbar und oft ist eine klare Zuordnung problematisch. Eine ausführliche Auseinandersetzung kann hier nicht erbracht werden, wird aber durch Katja Schweizer ausführlich

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Tod an der Mauer - Wie die Deutschen mit ihrer Vergangenheit umgehen
Hochschule
Technische Universität Dresden  (Geschichte)
Veranstaltung
Hauptseminar: Die Mauer. Errichtung, Überwindung, Erinnerung
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
27
Katalognummer
V209189
ISBN (eBook)
9783656368717
ISBN (Buch)
9783656369486
Dateigröße
981 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
mauer, deutschen, vergangenheit
Arbeit zitieren
David Jugel (Autor:in), 2012, Tod an der Mauer - Wie die Deutschen mit ihrer Vergangenheit umgehen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/209189

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