Entwicklung der Realschullehrpläne in Baden-Württemberg ab Mitte des 20. Jahrhunderts und ihre schultheoretischen und didaktischen Implikationen


Examensarbeit, 2012

202 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung und Forschungsziel

1 Curriculum, Lehrplan, Bildungsplan, Bildungsstandards - Wandel von Begriffen und Lehrplanentwicklung

2 Inhalte und Ziele von Lehrplänen

3 Der "Nachkriegs-Lehrplan" von 1952
3.1 Zur Entwicklung des Lehrplans (Politikfeldanalyse)
3.2 Aufbau, Struktur und Stundentafel
3.3 Fächer und fachliche Inhalte
3.4 Schultheoretische und didaktische Implikationen

4 Neue Ideen, neue Konzepte - Bildungsplan 1963 und Lehrpläne ab 1976

4.1 Zur Entwicklung der Lehrpläne (Politikfeldanalyse)
4.2 Aufbau, Struktur und Stundentafel
4.3 Fächer und fachliche Inhalte
4.4 Schultheoretische und didaktische Implikationen

5 Lehrplan 1984 - Leben und Lernen in Westdeutschland
5.1 Zur Entwicklung des Lehrplans (Politikfeldanalyse)
5.2 Aufbau, Struktur und Stundentafel
5.3 Fächer und fachliche Inhalte
5.4 Schultheoretische und didaktische Implikationen

6 "Wind of Change" - Lehrplan 1994
6.1 Zur Entwicklung des Lehrplans (Politikfeldanalyse)
6.2 Aufbau, Struktur und Stundentafel
6.3 Fächer und fachliche Inhalte
6.4 Schultheoretische und didaktische Implikationen

7 Bildungsplan 2004 - vom Lehren zum Lernen durch Kompetenzen
7.1 Zur Entwicklung des Lehrplans (Politikfeldanalyse)
7.2 Aufbau, Struktur und Stundentafel
7.3 Fächer und fachliche Inhalte
7.4 Schultheoretische und didaktische Implikationen

8 Aktuelle Entwicklungen

9 Forschungsfazit

10 Schlusswort

Literatur- und Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis

Anhang

Einleitung und Forschungsziel

Ebenso wie sich unsere Bildungslandschaft in der Bundesrepublik in den letzten Jahren und Jahrzehnten zu einem immer heterogeneren und mittlerweile sehr komplexen Konstrukt entwickelt hat1, haben sich auch die Lehrpläne an der Realschule in Baden-Württemberg stark verändert. Auf logischer Ebene ist dies selbstverständlich eine konsensfähige Schlussfolgerung, die man im Prinzip nicht erläutern müsste, jedoch wird bei oberflächlicher Betrachtung meist verkannt, welche Teilaspekte den Wandel der Lehr- und Bildungspläne beziehungsweise die Bildungsplanreformprozesse hervorrufen respektive begleiten. Dies nicht nur im Hinblick auf die stets wachsenden neuen Anforderungen an die Schülerinnen und Schüler oder die Lehrerschaft; mit der Zeit sind auch neue schultheoretische und didaktische Konzepte und Theorien implementiert worden.

Auf Bundesebene wurden und werden laufend Strukturdebatten geführt und neue Bildungsreformen veranlasst; ursprünglich mit dem Kerngedanken, das (gesamtdeutsche) Bildungswesen zu vereinfachen bzw. einen schleichenden Homogenisierungsversuch zu starten. Dass die Curricula der Realschule bislang alle versucht haben, das Konzept einer "realistischen Bildung", also der Vermittlung praktischer Fertigkeiten und "theoretischer Durchdringung lebensnaher Sachverhalte"2, aufrechtzuerhalten, wird beim Rezipieren dieser Arbeit schnell deutlich.

Ziel dieser wissenschaftlichen Hausarbeit soll primär sein, den inhaltlichen Wandel der Lehrpläne ab Mitte des 20. Jahrhunderts zu verfolgen und Gemeinsamkeiten wie Differenzen im historischen Kontext zu betrachten. Hierbei spielen die schultheoretischen und didaktischen Konzepte eine tragende Rolle. Ebenso soll aufgezeigt werden, inwiefern sich die Ansprüche an die Schüler- und Lehrerschaft geändert haben und welche neuen Begrifflichkeiten in den Vordergrund gerückt sind. Somit soll die Entwicklung von einem Lehrplan, der angibt, "was gelehrt werden soll", hin zu unserem aktuell gültigen und generalisierten Bildungsplan aus dem Jahr 2004, der angibt, "was junge Menschen im weitesten Sinne des Wortes "lernen sollen" "3, exemplarisch gezeigt werden. Ein weiterer Aspekt ist der formale und strukturelle Wandel innerhalb der Lehrpläne, auch im Hinblick auf die (neuen) gesellschaftlichen

Anforderungen und innerhalb eines gemeinsamen Europas. Es kann somit gesagt werden, dass der Fokus dieser Arbeit darauf gelegt wird, eine kontinuierliche Weiterentwicklung der Lehrpläne aufzuzeigen und zu überprüfen, inwiefern sich die schultheoretischen und didaktischen Ansätze an den jeweiligen historischen Kontext angepasst haben und welche neuen Anforderungen daraus für Schülerinnen und Schüler und Lehrerinnen und Lehrer entstanden sind.

1 Curriculum, Lehrplan, Bildungsplan, Bildungsstandards - Wandel von Begriffen und Lehrplanentwicklung

Nicht nur die Inhalte von Lehrplänen haben sich in den vergangenen sechzig Jahren stark gewandelt, auch die Definition, was ein Lehrplan bzw. Bildungsplan zu beinhalten hat, hat sich geändert. So war in den Allgemeinen Bestimmungen des Einführungserlasses im Entwurf eines Lehrplans für die Mittelschulen in Nordwürttemberg noch die Rede von "Frauenberufen" und einer durchschnittlichen Klassenstärke von fünfunddreißig bis vierzig Schülern in der Orientierungsstufe4. In den darauffolgenden Jahren zeichnen sich bereits die christlichen Werte und die Leitgedanken der Landesverfassung ab, indem die Rede von der "Ehrfurcht vor Gott", des "Friedensliebens und der Liebe zu Volk und Heimat" sowie "politischer Verantwortlichkeit" ist5. Petersens Gemeinschaftsbegriff und seine Definition der "Verbindung von Individual- und Sozialformen des Unterrichts"6wurden bereits Mitte der 60er Jahre in das Leitkonzept eingebettet und sind (teilweise) noch heute in modernisierter didaktischer Aufbereitung wiederzufinden. Dabei sind Lehrpläne auch stets ein Spiegel der Zeit: in ihnen findet sich der politische und gesellschaftliche Kontext einer Epoche wieder. Insbesondere die Qualität der Schulart wird von den Reformen der Lehrpläne bestimmt.

"Chancenungleichheit [...] (wurde) gemindert; tiefgreifende curriculare und strukturelle Veränderungen wurden durchgesetzt; die Demokratisierung des Schulalltags konnte - zumindest ansatzweise - verankert werden; die Humanisierung des pädagogischen Umgangs veränderte die Schule von Innen her. Heute machen sich europaweit Schulen auf den Weg, den reformpädagogischen Grundgedanken der Stärkung der Schülerinnen und Schüler und ihrer Rechte mit der Stärkung der einzelnen Institutionen zu verbinden."7

Das Lehrpläne von Zeit zu Zeit, in nicht zu großen Abständen, überprüft und an die veränderten Verhältnisse angepasst werden müssen8, liegt auf der Hand. In Baden- Württemberg geschieht dies seit den achtziger Jahren in Zehnjahresschritten. Dies dient nicht nur dem Wohl der Schülerinnen und Schüler, sondern auch dem der Lehrenden. Im Zuge eines sich immer weiter entwickelnden Europas haben sich die Ansprüche an die Lehr- und Lernmethoden, kurz: an die Didaktik, stark geändert. So war damals noch vom Lehrplan oder Curriculum die Rede, der den Lehrerinnen und Lehrern explizit und exemplarisch vorschrieb, was konkret zu lehren sei und welche Vermittlungsbasis anzustreben sei. So stellte der Lehrplan noch bis 1994 eine "verbindliche Vorgabe für den Unterricht"9dar, die in Jahrgangspläne unterteilt für jede Klassenstufe spezifisch alle zu lehrenden Inhalte aufführte. Der Handlungsspielraum war dementsprechend geschmälert, auf der anderen Seite konnte es allerdings zu so gut wie keinen Missverständnissen in der Auslegung des zu lehrenden Stoffes kommen. Der damals allgemeingültige Leitsatz eines Curriculums bzw. eines Lehrplans lautete: "Was der Lehrer zu unterrichten, ergo der Schüler zu lernen hat, steht im Lehrplan"10. Da ein Lehrplan allerdings weder omnivalent ist noch ewige Gültigkeit besitzt, müssen spezielle Lehrplanrevisionsprozesse stattfinden, um die zu lehrenden Komponenten und neuen didaktischen Erkenntnisse stets in den aktuellen zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext einbetten zu können. Hierfür wird noch heute die sogenannte policy-Analyse angewandt, die der anglo-amerikanischen Politikwissenschaft entstammt11. Mithilfe der policy-Analyse (zu Deutsch sogenannten Politikfeldanalyse) können zwar keine konkreten fachlichen oder didaktischen Inhalte festgelegt bzw. analysiert werden, jedoch dient sie bei der Konzeption neuer Lehrpläne hinsichtlich des "Versuchs, anhand der Kategorien der policy-Forschung einen möglichst offenen Begriffsrahmen zu entwickeln, der es erlaubt, die Instrumente im sozialen Prozeß, in dem Lehrpläne entstehen, angemessen zu beschreiben und der zugleich ohne besondere (modelltheoretische) Vorleistungen auf die Ergebnisse von Befragungen von Lehrplankommissionen angewandt werden kann"12. Dabei werden verschiedene Einflussfaktoren abgewogen, die bei der Konstituierung eines neuen Lehrplans von Bedeutung sein könnten. Während es in den siebziger Jahren noch ausreichend war, sich an den "didaktischen Strukturgittern" zur Konzeptualisierung neuer Lehrpläne zu orientieren, ist dies heute ein eher unzureichendes Verfahren. Bei letzterer Methode ging es vorranging um die Ergebnisse eines "pragmatischen fachdidaktischen Ansatzes, der in eine mittelfristige Strategie der Curriculumreform eingebettet ist"13. Im Vordergrund stand die "Untersuchung geeigneten Materials in einer vergleichbaren Weise, die Differenzierung heterogener Inhalte, die Integration fachspezifischer Gegenstände oder Fragestellungen in einen gemeinsamen Bezugsrahmen sowie um die Problematisierung gefundener Sachverhalte"14.

Dieses Konzept war einerseits deutlich zu fachspezifisch und auf der anderen Seite unzureichend, um es auf einen generellen Kontext beziehen zu können. Während es damals noch üblich war, jeden didaktischen Anteil präzise zu konkretisieren und ihn in vorgefertigten "Strukturbestimmungen für Stundenmodelle"15festzuhalten, orientiert sich unser heutiger Bildungsplan eher an weitläufigeren Dimensionen, die sich an den neuzeitlichen Erkenntnisse der Erziehungswissenschaft, der Allgemeinen Pädagogik und der pädagogischen Psychologie bedienen. Haft und Hoppmann unterscheiden bei der Lehrplanentwicklung als policy-making 1985 in drei Dimensionen: die gesellschaftlich-politische Rahmung der Lehrplanentwicklung, die institutionell-administrative Rahmung und den konkreten Prozess der policy- Formulierung16. Folgende Abbildung verdeutlicht diese dimensionale Schichtung:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Lehrplanentwicklung als Policy-Making.

Ebenso unterschiedlich wie die Methoden, die herangezogen werden, um Lehrpläne zu revidieren, sind die Termini zum Lehrplan. 1809 noch "Schulplan"17genannt, hat sich der Begriff des "Curriculums" oder "Lehrplans" in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts in Deutschland etabliert. Die Definitionen um den Lehrplan hingegen sind grundverschieden, so heißt es im Wörterbuch der Pädagogik:

"Als Verwaltungsvorschrift oder Rechtsverordnung vom Kultusministerium eines Bundeslandes erlassene Bestimmung, die der pädagogischen Arbeit in Schule und Unterricht einen verbindlichen Rahmen gibt. Der Lehrplan ist auf bestimmte Schularten, Schulstufen, Lernbereiche und/oder Schulfächer bezogen. Er enthält i.d.R. Aussagen über allgemeine Bildungsziele, Erziehungsgrundsätze, didaktisch- methodische Konzepte sowie über konkretere Ziele, Themen, Inhalte und Vorschläge für den Unterricht in den einzelnen Lernbereichen bzw. Fächern. Im Rahmen der amtlichen Ziel-, Inhalts- und Zeitvorgaben in der Stundentafel gibt der Lehrplan den Lehrerinnen und Lehrern auf Grund ihrer pädagogischen Freiheit die Möglichkeit, Unterricht und Schulleben in der konkreten Situation vor Ort eigenverantwortlich zu gestalten. Dieser breite Spielraum der Lehrerschaft wird in einigen Bundesländern durch die Begriffe Richtlinien oder Rahmenrichtlinien zum Ausdruck gebracht."18

Andere wiederum definieren Lehrpläne als "verschriftlichte Dokumente zur Regulierung von Unterricht"19. Tatsache ist, dass sich der Begriff des "Lehrplans" bereits 1963 zu dem des "Bildungsplans" entwickelt hat, wenn auch damals noch einige paradoxe Formulierungen sowie die komplette Struktur gegen die heutige Definition eines Bildungsplans sprach. So waren nach wie vor die Grundsätze der Unterrichtsgestaltung sowie die Aufgaben der Lehrerinnen und Lehrer (relativ) streng reglementiert20und auch die Jahrgangspläne ließen wenig freien Gestaltungsspielraum zu. Der aktuelle Bildungsplan distanziert sich deutlich von der im neunzehnten Jahrhundert gängigen "enzyklopädischen Wissensbildung" und ferner von der "Bescheid-Wissens-Bildung", die sich im Verlaufe des zwanzigsten Jahrhunderts abgezeichnet hat21. An Stelle dessen rückte ein zentraler Kompetenzbegriff, der es den Lehrenden erlaubt, ihren Unterricht freier zu gestalten und den Schülerinnen und Schülern einen abwechslungsreicheres Lernen zu ermöglichen. Da viele Schulen sich über die Wirksamkeit ihrer Arbeit getäuscht haben, macht es sich der Bildungsplan von 2004 zur zentralen Aufgabe, die "Selbsttäuschung" zu vermeiden, indem er klare Maßstäbe für die Überprüfung stellt (sic!).22Unter anderem solle das "Modell der Praxisentwicklung"23künftig näher berücksichtigt werden. Abschließend wäre festzuhalten, dass die Termini "Curriculum", "Lehrplan" und "Bildungsplan" nicht zu stark zu bewerten sind, da sie einerseits intransparent sind und zum anderen sich ihre Inhalte nicht zwangsläufig mit dem semantischen Begriff decken. So ist der "Bildungsplan 1963" in seiner äußerlichen Struktur und innerlichen Konzeption gewiss noch kein Vergleich zum "Bildungsplan 2004".

Die konkreten Inhalte und Lernzielbeschreibungen, welche bereits 1980 von Westphalen beschrieben worden sind24, sind Bestandteile des Curricularen Lehrplanschemas25. Diese zielorientierten Formulierungen, welche insbesondere in den Lehrplänen der siebziger und achtziger Jahre zu finden sind, wurden 2004 flächendeckend von den Bildungsstandards abgelöst. Dabei ist Begriff der "Standards" bereits richtungsweisend, wenn man ihn in Bezug zu den Kompetenzen setzt, die er beinhaltet.

"Der Bildungsplan 2004 beschreibt für jedes Fach, jeden Fächerverbund und jedes Themenorientierte Projekt (TOP) Bildungsstandards. Bildungsstandards legen fest, über welche fachlichen, personalen, sozialen und methodischen Kompetenzen die Schülerinnen und Schüler bis zum Ende einer bestimmten Klassenstufe verfügen müssen."26

Somit sind die Bildungsstandards auf formaler Ebene als die inhaltlichen Anforderungen der jeweiligen Fächer und Fächerverbünde zu betrachten. Sie beinhalten innerhalb des Kompetenzbegriffs in einer innovativen Konzeption die Schlüsselqualifikationen, die während des Lehr- und Lernprozesses vermittelt werden sollen. Seit der Einführung des Bildungsplans von 2004 dienen sie in den Bildungsplänen der gedruckten Form als neuzeitliches Raster für die innere und äußere Differenzierung.

Welche weiteren konkreten Inhalte und Ziele die Lehrpläne in den vergangenen Dekaden beinhaltet respektive verfolgt und wie diese sich partiell gewandelt haben, wird nachfolgend berichtet.

2 Inhalte und Ziele von Lehrplänen

Die Inhalte und Ziele der Lehr- bzw. Bildungspläne an den Realschulen in Baden- Württemberg haben sich innerhalb der letzten Jahre, insbesondere mit der Bildungsplanreform 2004, signifikant verändert. Jedes Bundesland setzt andere Maßstäbe für die inhaltlichen Aspekte eines Lehrplans. So hält Kleinschmidt- Bräutigam fest, dass Bildungspolitiker "mit dem Weg 'einer inhaltlichen Entschlackung der Rahmenlehrpläne auf Standards und zentrale Kompetenzziele' neu akzentuierte Ziele der Unterrichtsentwicklung und damit der Schulentwicklung verfolgen"27. Dem sächsischen Lehrplanmodell liegen in seiner Entwicklung zum "Planungs- und Steuerungsinstrument"28folgende Intentionen zugrunde: Sicherung und Weiterentwicklung von Unterrichtsqualität, Vergleichbarkeit und Überprüfbarkeit von Lernprozessen, Unterstützung einer Innovation von Lehr- und Lernkultur, Wahrung von Kontinuität und eine größtmögliche Übereinstimmung aller Lehrpläne in Form und Struktur29. Inhaltlich betrachtet hat sich durch ein überholtes Vorgehensraster bei der Konsolidierung von Lehrplänen der Großteil geändert: war es noch bis zum Bildungsplan 1994 üblich, in Jahrgangsplänen jede einzelne Unterrichtseinheit genauer zu konkretisieren und exemplarisch deren Inhalte zu differenzieren, nimmt der Bildungsplan 2004 hiervon bereits Abstand.

Nachfolgende Abbildungen vergleichen einen Ausschnitt des Lehrplanbereiches der evangelischen Religionslehre in Klassenstufe sieben bzw. Klassenstufen sechs und sieben der Bildungspläne 1994 und 2004. Daraus wird ersichtlich, dass im Bildungsplan 1994 noch explizite Vermittlungsvorschriften in den Lehrplaneinheiten verankert waren. Es werden konkrete Unterrichtsbeispiele skizziert und deren Inhalte der Lehrkraft bereits vorentlastet, indem die Kernaspekte erläutert werden. Es lässt sich ebenfalls erkennen, dass im Bildungsplan 2004 auf derart explizite Vorgaben kein Wert mehr gelegt wird. In jenem ist nicht mehr von Lehrplaneinheiten die Rede, sondern lediglich von "Vermittlungsdimensionen"30. Diese geben einen Überblick über die zu vermittelnden Inhalte und skizzieren grob, welche Aspekte vermittelt werden können; eine Verbindlichkeit ist jedoch hier nicht weiter erkennbar.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Lehrplaneinheit 7.2.1 P, Evangelische Religionslehre im Bildungsplan 1994.

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Abbildung 3: Dimension: Gott, Kompetenzen und Inhalte für Evangelische Religionslehre, Klasse 8, Bildungsplan 2004.

Allein dieser Vergleich macht einem die Entwicklung der Lehrplaninhalte über die letzten Jahrzehnte hinweg deutlich. In den vorangegangen Lehr- und Bildungsplänen waren insbesondere Kerncurricula für die inhaltliche und didaktische Vermittlung vorgesehen. Die eigene Unterrichtsgestaltung mit selbst herangezogenen Inhalten war aus diesem Grunde für den Lehrenden sehr gering gehalten. Seit dem Bildungsplan 2004 hat sich das Verhältnis zwischen Kern- und Schulcurricula entspannt und bietet den Lehrerinnen und Lehrern sowie den Schülerinnen und Schülern mehr Handlungsspielraum für eine individuelle Unterrichtsgestaltung.

"Für die einzelnen Fächer der einzelnen Schulart werden Kerncurricula verbindlich vorgegeben. Sie nehmen zwei Drittel der Unterrichtszeit der Schülerinnen und Schüler in Anspruch. Der Sinn der Kerncurricula ist, erstens ein Maß der erwarteten Lern- und Unterrichtsleistungen zu definieren und damit zweitens den Freiraum für das schuleigene Curriculum zu sichern. [...] Die Schulcurricula sollen von den Schulen selbst erarbeitet werden. Aus diesem Planungsvorgang wie aus seiner selbstständigen Ausführung wird ein erhöhtes Interesse für und ein intensiver Einstand in die projektierte pädagogische Aufgabe erwartet. Die Schulcurricula werden durch bestimmte Leitgedanken (zur Bedeutung des jeweiligen Faches im jeweiligen Bildungsgang) geordnet. Die im Bildungsplan 2004 genannten Motive lauten „Erweiterung des Repertoires“ und „Vertiefung/Intensivierung“ des Umgangs mit bestimmten gewünschten, in den örtlichen Gegebenheiten angelegten Lernmöglichkeiten."31

In Berlin gelten schulinterne Curricula als Teil des Schulprogramms als "eine Antwort der Schule auf die Notwendigkeit der Qualitätsentwicklung und -überprüfung von Unterricht"32. Sie gehören allerdings nicht zu den inhaltlichen Bestandteilen eines Lehrplans.

Ab 1984 wurden die Lehr- und Bildungspläne in Baden-Württemberg in einem Abstand von zehn Jahren revidiert und reformiert. Bis zur Etablierung des Bildungsplans von 1994, welcher den Titel "Bildungsplan" aufgrund seines formalen Aufbaus und seiner Inhalte eigentlich noch nicht verdient hatte, waren Stundentafeln ein fester Bestandteil der Lehrpläne. Sie standen in direktem Bezug zu den zu vermittelnden Inhalten und sollten den Lehrenden als Anhaltspunkt für die daraus resultierenden Stoffverteilungspläne dienen. Bereits in der Interimszeit zwischen den beiden Weltkriegen war es üblich, diese Stundentafeln in die Lehrpläne zu integrieren. Nachfolgend ein Beispiel aus dem Lehrplan der Volksschuloberstufe in Preußen anno 1922:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Stundentafel der Volksschuloberstufe in Preußen, 1922

Die Stundentafeln sind aktuell nicht mehr Bestandteil des Lehrplans, sie werden separat und auch nicht mehr nach Jahrgangsstufen, sondern als Gesamtsumme der Sekundarstufe I in einer Kontingentstundentafel angegeben. Die Schulleitung kann die Stunden je nach Bedarf und Möglichkeit frei auf die Jahrgangsstufen verteilen. Hierbei wird selbstverständlich nach wie vor Wert auf ein ausgeglichenes Stundenverhältnis gelegt.

Der Basisinhalt eines jeden Lehrplans besteht in den fachlichen Inhalten und den zu vermittelnden Kenntnissen der einzelnen Jahrgangsstufen. Seit 2004 hat sich die Kultusministerkonferenz darauf geeinigt, dass "die Einführung von Bildungsstandards (...) ein neuer Baustein in (die) Struktur (der) Bildungspläne (sei)"33. Somit sind die zu vermittelnden Inhalte nicht mehr stufenweise untergliedert, sondern es werden immer zwei Jahrgangsstufen zusammengefasst und die bis zum Ende der höheren Jahrgangsstufe zu lehrenden fachlichen Inhalte und Kompetenzen aufgeführt. Dies wird später als Doppelstufenprinzip bezeichnet. Bereits im Vorwort des Lehrplans 1952 ist davon die Rede, dass "die den einzelnen Fächern beigegebenen Richtlinien für die unterrichtliche Behandlung (...) nicht bindende Vorschrift, sondern Anregungen sein (sollen)"34. Dem widerspricht jedoch der Aufbau der nachfolgenden Lehrpläne. Mit Einführung des Lehrplans von 1963, der im Laufe der Jahre häufig revidiert worden ist, sind im Zuge der Loseblattsammlung auch die Lehrplaneinheiten vorgestellt worden. Diese stellen die Vermittlungssequenzen für die zu lehrenden Inhalte pro Jahrgangsstufe in den einzelnen Fächern dar. So werden beispielsweise für das Fach Deutsch in den Jahrgangsstufen fünf und sechs Ziele und Hinweise der zu lehrenden fachlichen Inhalte tabellarisch nebeneinander aufgelistet35. Der Vorteil für die Lehrerinnen und Lehrer bestand hierin, als dass die Unterrichtsinhalte konkret vorgegeben waren und das Kerncurriculum praktisch den kompletten Unterrichtsablauf reguliert hat. Die Curriculumreform in den siebziger und achtziger Jahren36hat unter anderem dazu beigetragen, dass bei der Strukturierung und Konstituierung neuer Lehr- und Bildungspläne der Anteil der Kerncurricula und somit die Vorgaben zur konkreten Vermittlung fachlicher Inhalte reduziert wird bzw. werden.

Neben den fachlichen Inhalten formuliert ein Lehrplan allerdings auch Ziele und Wirkungsabsichten. Diese beziehen sich insbesondere auf den Erziehungs- und Bildungsauftrag der Realschule37. In den Lehrplänen der vorangegangenen Jahrzehnte besaß ein Lehrplan vor allem den Status der Vermittlungsgrundlage38. Schnell allerdings zeichnete sich hier ein Wandel ab. Die immense Wichtigkeit der Formulierung allgemeiner Unterrichtsziele hob sich im Laufe der Lehrplanreform immer mehr hervor:

"Allein vom Stofflichen her ist aber das Problem der Unterrichtsinhalte nicht zu lösen. Immer neue Lernaufgaben wurden den Schülern aufgebürdet (Schulstreß-Debatte!); nur weniges wurde als überholt ausgesondert. Immer stärker setzte sich daher in der Lehrplanentwicklung der Gedanke vom Primat der Ziele durch. Gefragt wurde nicht mehr zuerst: 'Was soll gelernt werden?', sondern: 'Wozu soll etwas gelernt werden?' Durch das Kriterium begründeter Ziele, so hoffte man, würde das Problem der stofflichen Überflutung der Schule auf die Dauer gelöst werden können."39

Da die Lehrpläne der Realschule in Baden-Württemberg curricular modifiziert sind, stehen die Lernziele, aber (nach Nipkow) auch die Lernorganisation sowie das

Instrumentarium der Lernkontrolle zur Überprüfung der Lernleistungen der Schüler im Vordergrund unserer Lehrpläne40.

Die für einen hauptsächlich auf dem Kerncurriculum basierenden Lehrplan typische Anordnung in Spalten war insbesondere in den Jahren 1963 bis noch hin zur Einführung des Bildungsplans 1994 eine gängige Methode. Entsprechend verschiedener didaktischer Kategorien, die unter anderem auch die fachlichen Lernziele beinhalteten, konnte die Lehrkraft spezifisch die zu lehrenden Inhalte auf einen Blick entnehmen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 5: Die vier Kategorien des Curricularen Lehrplans

Die oben gezeigte Abbildung korrespondiert mit dem formalen Aufbau der Lehrpläne, die in Form der Loseblattsammlung erschienen sind. Weitere Ziele eines Lehr- bzw. Bildungsplans bestehen darin, den Lehrkräften den allgemeinen Bildungsauftrag näher zu erläutern. So ist im Bildungsplan 1994 davon die Rede, dass "alle Unterrichts- und Erziehungsarbeit darauf ab(ziele), den Selbstfindungsprozeß der Schülerinnen und Schüler auf dem Weg vom Kindes- zum Jugendalter zu begleiten und die Entwicklung der Grundpersönlichkeit zu fördern"41. Solche pädagogischen Floskeln waren in den vorangegangenen Lehrplänen eher von untergeordneter Wichtigkeit, da sie sich partiell in den didaktischen Formulierungen wiederspiegelten. Im aktuellen Bildungsplan von 2004 werden die übergeordneten Ziele vorrangig im Teil der Bildungsstandards festgehalten. Diese lassen sich letztlich "nicht aus dem Bildungsplan herauslösen"42, jedoch sind sie (allgemein betrachtet) die wesentlichen Zielsetzungen und prägen die Leitidee des Bildungsplans.

Somit ist das Hauptziel des aktuellen Bildungsplans die Aufteilung in verschiedene Bereiche, hauptsächlich aber die Kombination erzieherischer Ziele, fachlicher Inhalte und didaktischer Komponenten. Diese sollen konzeptionell allerdings so aufgebaut sein, dass die Lehrerschaft nicht von einem "Richtfinger" geleitet wird noch die Schüler den "Nürnberger Trichter"43"eingeflößt" bekommen. Somit kann festgehalten werden, dass sich das Hauptziel eines Lehrplans davon wegbewegt hat, lediglich die fachlichen Inhalte minuziös in ihrer Konzeption und Vermittlung darzulegen, und heute sowohl den Auftrag der Schule wie auch den Inhalt der Fächer und Fächerverbünde kombiniert.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die grundlegenden Prinzipien für die Konzeption und Strukturierung eines Bildungsplanes aus folgenden Komponenten besteht:

"Im Bildungsplan kommt (1) eine bestimmte Vorstellung vom Auftrag der Schule zur Geltung; werden (2) die von den Schülern und Schülerinnen zu erreichenden Ziele aufgeführt - unterschieden als (a) Erfahrungen, die sie machen, und „Einstellungen“, die sie daran gewinnen sollen, (b) „Fähigkeiten“, die sie beherrschen sollen, und (c) „Kenntnissen“, die sie haben sollen; werden (3) die didaktischen und methodischen Prinzipien genannt, denen zu folgen ist; werden (4) die Maßnahmen und Einrichtungen aufgeführt, die der Sicherung des Auftrags, der Ziele und der Prinzipien dienen."44

Eben diese Kombination pädagogischer Grundprinzipien und fachlicher Inhalte, die spätestens seit 2004 endgültig in der Konstitution des neuen und noch gültigen Bildungsplans angestrebt worden ist, setzt der allgemeinen Bildung an Realschulen in Baden-Württemberg neue Maßstäbe.

3 Der "Nachkriegs-Lehrplan" von 1952

"Veränderungsprozesse im Bildungswesen werden im allgemeinen danach unterschieden, auf welchen Teilbereichen sie sich auswirken, ob sie quantitativen oder qualitativen Charakter haben, wie sie das Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Bereichen berühren, ob sie sich mehr im Organisatorischen oder im Ökonomischen primär auswirken. Ein weitaus wichtigerer Faktor zu ihrer Erfassung wird meist übersehen, nämlich das Tempo, in dem sie sich entwickeln, die Reichweite, die sie besitzen und ihre Placierung im historischen Ablauf. Schon ein flüchtiger Überblick zeigt, daß größere Veränderungen im Bildungswesen unter ähnlichen Umständen erfolgen. Sie stehen häufig mit geschichtlichen Katastrophen in Zusammenhang. Reform und Katastrophe scheinen den gleichen Fahrplan zu haben; die Katastrophe geht davon aus, die Reformen pflegen fast gesetzmäßig im Abstand zu folgen. Je enger der zeitliche Zusammenhang von Katastrophe und Reform ist, desto tiefer kann offenbar die Einwirkung verändernden Handels sein. [...] Die Reformpädagogik des 20. Jahrhunderts steht mit dem 1. Weltkrieg in Zusammenhang, und die Reformwelle, deren Auslaufen gegenwärtig beklagt wird, gehört in die Nachfolge des 2. Weltkriegs."45

3.1 Zur Entwicklung des Lehrplans (Politikfeldanalyse)

Mit dem Ende des Dritten Reiches und des Naziregimes in Deutschland stellte sich nicht nur für die gesamte Welt eine neue Ära ein, auch das deutsche Schulsystem wurde grundlegend überdacht und neu konzipiert. Unter Hitler wurde 1938 endgültig der radikale deutsche Schulzwang eingeführt, der in den darauffolgenden Jahren bis heute als "Schulpflicht" bezeichnet wird46. Vor 1938 war die Unterrichtung zu Hause als Ausnahme noch genehmigt, es bestand lediglich eine "Unterrichtspflicht", keine Schulpflicht47. Nach 1945 stand die Schulpolitik in den Westzonen und der Bundesrepublik vor diversen Problemen, wobei zu den vergleichsweise kleineren Problemen "die 'Säuberung' der Schulen von nationalsozialistischen Inhalten" gehörte48. Dies gestaltete sich jedoch schwieriger als gedacht, da partiell die tiefen und weitreichenden Einflüsse der nationalsozialistischen Prägung der deutschen

Bevölkerung auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges noch zu spüren waren. Hierbei gilt es auch, die damaligen politischen Umstände zu betrachten:

"Nach dem vollständigen Zusammenbruch des 'Dritten Reiches' wurde die Regierungsgewalt in Deutschland von den vier Besatzungsmächten dezentral ausgeübt. Infolgedessen entwickelten sich Bildungspolitik und Schulreform der Nachkriegszeit in den einzelnen Besatzungszonen den Schultraditionen und Gesellschaftsvorstellungen der jeweiligen Besatzungsmacht entsprechend unterschiedlich. Entgegen den Vereinbarungen des Potsdamer Abkommens, das 'die endgültige Umgestaltung des deutschen politischen Lebens auf demokratischer Grundlage' vorsah, waren nämlich 1945 zentrale deutsche Verwaltungsabteilungen nicht eingerichtet worden. Der Alliierte Kontrollrat aber, der für die Einheitlichkeit der Regierungsmaßnahmen in den Besatzungszonen sorgen und über "alle Deutschland als Ganzes betreffende Fragen" entscheiden sollte, wurde im Zuge der wachsenden Ost-West-Spannungen zunehmend funktionsunfähiger."49

Es galt somit neue Verwaltungsinstitutionen und Behörden zu schaffen, deren Aufgabe es fortan sein sollte, die Homogenität des Bildungswesens und der Schulfragen zu gewährleisten und sich mit Bildungsfragen und -reformen zu beschäftigen. Des Weiteren sollte ein struktureller und inhaltlicher Umbruch des Schulwesens respektive der Bildungsinhalte erfolgen. Es tauchte erstmals der Begriff der "Reeducation" als "gesellschaftliche Restauration und schulische Konsolidierung nach 1945" auf50. Den größten Einfluss von den westlichen Besatzungsmächten auf den Lehrplan ab 1952 sowie die Änderung und Neustrukturierung des deutschen Schulsystems weg von einer "vertikalen Zweiteilung des deutschen Schulwesens in eine niedere und eine höhere Schullaufbahn" hin zu einem zweigestuften Gesamtschulsystem übten die Amerikaner aus. Sie setzten sich entsprechend der "Kontrollratsdirektive Nr. 54 über die 'Grundlegenden Richtlinien für die Demokratisierung des Erziehungswesens in Deutschland' " entschieden für eben diese "Demokratisierung des deutschen Erziehungswesens und (eine) tiefgreifende schulische Strukturreform" ein51.

Hingegen der Bemühungen der Besatzungsmächte blieben jedoch anfangs größere Erfolge aus und "die Entwicklungen im deutschen Bildungswesen nach 1945, obwohl ihnen eine der größten historischen Katastrophen der deutschen Geschichte vorausging, (wiesen) zunächst keine größere Bewegung auf."52Die Ursache hierin, so Heid und Vath, sei gewesen, dass zunächst ein "Schub" durch die Besetzung des ehemaligen Reichsgebietes verhindert worden war und noch kein Zwang bestanden hatte, "sich mit der Notwendigkeit und den Zielen einer allgemeinen Bildungsreform [...] eingehend zu beschäftigen"53. Hieraus resultierten auch die ersten neuen Probleme im Nachkriegsdeutschland. Die Bevölkerung war noch zu stark von den Kriegserlebnissen und auch teilweise noch von ideologischen Einflüssen geprägt, als dass ein Umschwung im Bildungswesen einfach durchzuführen gewesen wäre. Die notwendigen Kontrollinstanzen waren noch sehr unkoordiniert bzw. man war sich über die Struktur und den Aufbau jener Schulüberwachungsinstrumente noch nicht vollständig im Klaren. Zwar konnten sich schleichend Neuerungen und Bildungsreformen durchsetzen, allerdings waren diese in ihren Anfangsstadien noch schwammig und wurden nicht von allen begrüßt. Somit zeigte es sich, dass "die Reedukationspolitik mit diesem Schulverständnis an gemeinsame Reformtraditionen (zwar) anknüpfte, (...) jedoch keineswegs zu einer gemeinsamen und einheitlichen Schulpolitik zwischen den westlichen Besatzungsmächten einerseits und den westdeutschen Schulbehörden andererseits (führte). Die Demokratisierungsbestrebungen [der westlichen Besatzungsmächte] (wären) ebenso wie die Umerziehungspläne [...] in den Nachkriegsjahren zunehmend auf Widerstand in den Schulverwaltungen, politischen Parteien und Verbänden (gestoßen), die ohne "grundlegende Korrekturen an die schulischen Verhältnisse [von 1945] wieder anknüpfen wollten."54

In Hinblick auf den Bereich der Realschule waren diese Bestrebungen, in schulgeschichtlichem Kontext betrachtet, von einer Neuordnung des Schulwesens betroffen. Mit der Mittelschulreform von 1938 wurde veranlasst, dass lediglich noch die "einsprachige Mittelschule" als Mittelschule gelten solle. Somit verlor "die 'alte Realschule' (hiermit) ein Bildungsziel, das bisher ihre Attraktivität ausgemacht hatte, (nämlich) die Obersekundareife", welche mit "ihren (fünf) Schuljahren unter der (sechs)jährigen Mittelschule (stand).55

"[...] Zusätzlich wertete die 'Verordnung über die Vorbildung und die Laufbahnen der deutschen Beamten" die 'mittlere Reife' der Mittelschulen auf, schaffte die alte Obersekundarstufe formell ab, stellte aber eine Gleichberechtigung zwischen dem Abschlußzeugnis der Mittelschule und einem sechsjährigen Oberschulbesuch her. Damit war die Realschule seit 1832 erstmals vom Berechtigungswesen ausgeschlossen, denn sie bot (seinerzeit) nur einen fünfjährigen Kursus an. Von diesem Eingriff hat sich die Realschule offensichtlich nicht wieder erholt. Denn die neue Realschule nach 1945 ist die alte (einsprachige) Mittelschule; und die Schüler mit dem Ziel der alten Obersekundareife gehen seitdem (wie auch schon früher natürlich) nach sechs Schuljahren von einer Vollanstalt ab."56

Dies sollte sich als nur einer der aus den Reformen resultierten Missstände erweisen. Es ist klar ersichtlich, dass die neue gesamtdeutsche Situation vor allem in Hinblick auf die poltischen Wandlungen große Neuerungen nach sich ziehen musste. Mit dem Zusammenschluss der Länder Baden und Württemberg entstand 1952 im Zuge der politischen Umstrukturierung das heutige Bundesland Baden-Württemberg. Insbesondere die innerpolitischen Differenzen der Parteien untereinander führten zu weiteren nachteilbringenden Diskrepanzen im Schulwesen und auch zu Mängeln im Lehrplan von 1952. So rückte, nachdem dies im Dritten Reich als verpönt galt, die Frage des religiösen Einflusses wieder ins Zentrum bei der Konzeption neuer Bildungsreformen. So sahen die CSU sowie beide christliche Kirchen (die evangelische und die römisch-katholische) im Gegensatz zur SPD und der amerikanischen Besatzungsmacht "die Ursache für die 'nationalsozialistische Entartung' nicht in der undemokratischen Klassenstruktur der deutschen Gesellschaft, sondern [...] machten sie für diese Entwicklung in erster Linie den Mangel an Religiosität in der Bevölkerung verantwortlich"57. Spätestens hier zeigt sich, vor welchen enormen gesellschaftlichen Herausforderungen die damalige Bildungsreform stattfand. Nicht nur, dass ein grausamer Weltkrieg Millionen Tote forderte und bis zum Fall Hitlers enormen Einfluss auf das geistige Gut in den Köpfen der Bevölkerung ausübte, auch über dessen Ende hinaus waren die Auswirkungen und (negativen Effekte) dieser Epoche stark zu spüren. Und eben "diese Situation - seinerzeit als "Schulchaos" heftig kritisiert - sorgte dafür, daß auch jetzt wieder wie schon in der Weimarer Republik die Forderung nach einer länderübergreifenden Vereinheitlichung der Bildungspolitik laut wurde"58. Dieser Umstand wurde allerdings bis dato nicht erreicht, da die deutsche Bildungslandschaft bis heute von strukturell- bürokratischer Heterogenität gezeichnet ist. Die damals wichtigste Instanz für die bildungspolitischen Fragen sowie die Konstituierung und Erstellung eines ersten "Nachkriegslehrplans" war die Ständige Konferenz der Kultusminister (KMK), welche seit 1951 regelmäßig als "Gesprächs- und Vermittlungsforum (...) in Erziehungs- und Bildungsfragen" fungiert.59Welche neuen Strukturen und fachlichen sowie fachdidaktischen Ansätze in den Lehrplan von 1952 verwoben worden sind und welche alten Strukturen sich darin widerspiegeln, zeigen die nachfolgenden Punkte.

3.2 Aufbau, Struktur und Stundentafel

Der Lehrplan von 1952 trat als "Entwurf eines Lehrplans für die Mittelschulen in Nordwürttemberg" mit dem Erlass des damals sogenanntes Kultministeriums vom 28. März 1952 U II A Nr. 2664 in Kraft60. Dabei sind "die den einzelnen Fächern beigegebenen Richtlinien für die unterrichtliche Behandlung (...) nicht bindende Vorschriften, sondern Anregungen (...)"61. Daraus wird ersichtlich, dass ein Reformdenken in der Gestaltung des freiheitlichen Denkens und der Strukturierung der unterrichtlichen Inhalte stattgefunden haben muss. Während des Dritten Reiches bot sich dem ein sehr konträres Bild. In den Allgemeinen Bestimmungen des Lehrplans von 1952 werden schnell einige der damals wesentlichen Kernaspekte des Unterrichts und der Ziele des Bildungsauftrages der Realschule ersichtlich, die in fachterminologischer Hinsicht noch gar nicht existierte, es ist von Mittelschulen die Rede.

Die damalige Sekundarstufe I umfasse, wie auch heute noch, sechs Klassen. Die Schülerinnen und Schüler der Grundschule konnten die damalige "Mittelschule", insofern deren Leistungen ausreichten, nach der vierten Klasse besuchen; schwieriger gestaltete sich ein Wechsel aus der fünften Klasse der Volksschule (vergleichbar mit der heutigen Hauptschule) in die "erste Klasse" (Klasse fünf) der Mittelschule62. Interessant, wenn auch für damals üblich, sind die Richtbestimmungen für die Klassenstärke - an Mittelschulen in Baden-Württemberg betrug sie 1949 durchschnittlich in der amerikanischen Besatzungszone 41,3 Schülerinnen und Schüler63. Dies deckt sich mit den Bestimmungen des Lehrplans, welcher für die ersten vier Klassenstufen empfiehlt, dass diese "in der Regel nicht mehr als vierzig, [in den] Klassen fünf und sechs nicht mehr fünfunddreißig Schüler"64unterrichtet werden sollen. Dabei wird hier die jeweilige Obergrenze angesprochen, konträr dazu wird allerdings als Vorschrift festgehalten, dass die neunte Klasse nur gebildet werden könne, wenn eine Mindestklassenstärke von zwanzig Schülerinnen und Schüler zu Stande käme65. Besondere Regeln diesbezüglich galten auch für den Handarbeit und Werkunterricht.

Den Allgemeinen Bestimmungen nach soll die Realschule, damals noch Mittelschule, insbesondere den praktisch-orientierten Jungen und hauswirtschaftlich bzw. sozial interessierten Mädchen dienen.

"Die Mittelschule soll der Erziehung und Ausbildung der Jungen und Mädchen dienen, die nach Anlage und Neigung geeignet erscheinen, an verantwortlicher Stelle in Wirtschaft, Landwirtschaft und Verwaltung oder in hauswirtschaftlichen, pflegerischen, sozialen und technisch-künstlerischen Frauenberufen zu wirken. Sie vermittelt eine geistig-praktische Ausbildung, indem sie ihre Schüler an lebens- und wirklichkeitsnahen Unterrichtsgegenständen zu vertieften Erkenntnissen führt."66

Hierbei fällt auf, dass Frauenberufe als Begriff semantisch klassifiziert werden. Dies deutet auf eine damals noch wirksame Differenz im Männer- und Frauenbild hin, eine typische Diskrepanz für die damalige Epoche. Wie ersichtlich wird, sollen sich Jungen bzw. heranwachsende Männer eher praktisch-technisch, und Mädchen bzw. heranwachsende Frauen eher hauswirtschaftlich-sozial orientieren. Die zu vermittelnden Unterrichtsinhalte sollten, im Gegensatz zu heute, "mehr in die Tiefe als in die Breite gehen"67. Es wird fernen festgehalten, dass "lebens- und wirklichkeitsnahe Unterrichtsgegenstände, die den Schüler persönlich angehen, (...) bei der Auswahl den Vorzug (verdienen)"68. Hier schimmern erste didaktische Ansätze durch und sie scheinen für die heutige Auffassung moderne Ansätze der Unterrichtsmethodik aufzuzeigen. Auch wenn die Entnazifizierungsversuche, so Klafki, auch im Zuge der "Restauration des dreigliedrigen Schulwesens" eher "halbherzig" gewesen zu sein scheinen69, hat es dennoch "weitreichende Veränderungen der Methodenkultur gegeben, die [...] als Fortschritt [betrachtet werden können]"70. Des Weiteren solle der Unterricht die Bildungsneugier der Lernenden wecken und sie, durch die in den Unterrichtsfächern fachlich vermittelten Inhalte, auf ein späteres (Berufs-)Leben vorbereiten. Ergänzend zur Unterrichtsmethodik wird hier von der Anwendung des sogenannten "Epochenunterrichts"71gesprochen:

"Der Lehrer wird alle Mittel anwenden, die der inneren Sammlung der Schüler dienen können; dazu gehört vor allem die der Wirklichkeit entsprechende Verknüpfung der Unterrichtsgegenstände, mindestens in den praktischen Anwendungsaufgaben, aber auch durch die Anwendung des sogen. Epochenunterrichts. Um die Leistung der Schule zu steigern, sind insbesondere bei älteren Schülern Lehrer mit erhöhter Vorbildung für einzelne Gebiete zu verwenden."72

Dies deutet darauf hin, dass die qualitativen Anforderungen bei der Selektion der Lehrkräfte damals geschwankt haben mussten, da nach heutigen Standards keine Kategorisierung in Lehrkräfte mit "erhöhter" und "ausreichender" (Vor-)Bildung notwendig ist, da unser Ausbildungsstandard es uns erlaubt, ein homogenes Bildungsniveau der Lehrerinnen und Lehrer als Ausgangsprämisse für einen guten Unterricht zu schaffen. Der Erziehungs- und Bildungsauftrag im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik wird nach Auffassung des vorliegenden Lehrplans von 1952 als gleich gewertet, so "(müssen) sich Fach- und Klassenlehrer (...) stets vor Augen halten, daß die Erziehungsaufgabe der Mittelschule ebenso wichtig ist wie die geistige Schulung"73. Hier zeigt sich ein weiteres Konträr zu der Auffassung von Schule im Dritten Reich, die insbesondere Wert auf die geistige Erziehung im propagandistischen Sinne, metaphorisch gesprochen, auf "die Einimpfung des nationalsozialistischen Giftes"74, legte.

Bei der Betrachtung der Stundentafel fällt zuerst auf, dass neben der Unterteilung in die einzelnen Jahrgangsstufen eine weitere jahrgangsstufeninterne Differenzierung in Stunden für Knaben und Mädchen vorgenommen worden ist. Die einzelnen Fächer erhalten ein verbindliches Deputat vorgegeben, dass innerhalb einer Jahrgangsstufe von der Fachlehrkraft zu vermitteln ist. Besonders auffällig ist hierbei, dass Jungen keinerlei Handarbeitsunterricht erfahren und Mädchen in den höheren Klassenstufen jeweils eine Stunde weniger in Englisch, Mathematik sowie den Naturwissenschaften Physik und Chemie unterrichtet werden. Dies zeugt wieder von einer genderspezifischen Unterscheidung, die das damalige Gesellschaftsbild stark geprägt hat und bereits in der Allgemeinen Aufgabe des Lehrplans festgehalten worden ist. Die Gesamtstundenanzahl für Jungen und Mädchen allerdings ist in jeder Klassenstufe identisch und beträgt einunddreißig Wochenunterrichtsstunden. Die Gesamtsumme der Unterrichtsstunden bis zu Klasse 10 beträgt somit für beide Geschlechter einhundert sechsundachtzig Unterrichtsstunden (hierbei ist der Wahlbereich "Wahlfrei" nicht berücksichtigt worden)75. Folgende Abbildung zeigt die Stundentafel des Lehrplans von 1952:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 6: Stundentafel des Lehrplans 1952.

Für die unterrichtliche Organisation respektive die Einteilung in eine geschlechtergetrennte Unterrichtung muss ein erhöhter bürokratischer bzw. formeller Aufwand betrieben worden sein, da bei der Akkumulation der Stunden minuziös die jahrgangsspezifischen Stunden hochgerechnet und auf die Geschlechter kontextbedingt hochgerechnet worden sind.

3.3 Fächer und fachliche Inhalte

Die Stundentafel (vgl. Abbildung 6) deklariert explizit, welche Fächer mit wie viel Unterrichtsstunden pro Woche unterrichtet werden sollen. In folgende Kategorien können die in den Jahrgangsstufen eins bis sechs (Klassen fünf bis zehn) zu unterrichtenden Fächer kategorisiert werden:76

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten77 78

Im Wahlbereich kommen hinzu: Sport und Spiel (bis Klasse 8), Chor (bis Klasse 10), Kurzschrift (Stenografie) und Maschinenschreiben (ab Klasse 9). Die Fächer decken weitestgehend die heutigen Bereiche der zu lehrenden fachlichen Inhalte ab. Was zu damaligem Zeitpunkt noch fehlte, war das Angebot einer zweiten Fremdsprache bzw. ein wirtschaftliches Fach (vgl. EWG).

Die fachlichen Inhalte sind allesamt gegliedert und in ihre zu vermittelnden Einheiten bzw. Sequenzen unterteilt worden. Dabei wird eine Leithierarchie ersichtlich, wie sie bei Kerncurricula üblich ist. Die zu vermittelnden Unterrichtsinhalte mögen zwar, so die Allgemeinen Bestimmungen des Lehrplans von 1952, keine Verbindlichkeit zeigen, sondern nur "Anregungen" sein79, jedoch zeigt sich hier in der Konzeption des Lehrplans in Bezug auf diese Aussage ein Paradoxon. Die zu vermittelnden Unterrichtsgegenstände sind so explizit dargelegt, dass, zum einen, wenig eigener Handlungsspielraum (insbesondere in Hinblick auf die damaligen [medialen] Möglichkeiten) für die Lehrkraft übrig bleibt und, zum anderen, die meisten Lehrkräfte die Inhalte wohl trotz allem als verbindlich ansahen, da insbesondere Schulcurricula zu damaligem Zeitpunkt noch nicht etabliert worden waren bzw. nur in äußerst geringer Form. Allein anhand der Unterteilung des Muttersprachlichen Unterrichts wird schnell bewusst, welche minuziöse Detailplanung den Lehrerinnen und Lehrern zu damaliger Zeit noch vorgelegt worden war: So musste der "Deutschunterricht (...) die wesentliche Voraussetzung für die geistige Ausbildung der Schüler schaffen, indem er ihr Sprachvermögen entwickelt und pflegt [...] (sowie) in ihnen das Gefühl der Verantwortung für ihre eigene sprachliche Haltung (wecken)80. Solche Floskeln sind in weniger rhetorischer Form auch heute noch Bestandteil der Formulierungen unseres Bildungsplanes, allerdings nicht in Verbindung mit einer derartig expliziten Planung des Unterrichtsstoffes. So wird beispielsweise für den Fachbereich Deutsch der ersten Jahrgangsstufe respektive der fünften Klasse die "Gewöhnung an das gute Buch"81mittels genauer Literaturvorgaben instruiert, welche Inhalte zu lehren seien. Zwar sind die Literaturvorschläge an dieser Stelle eindeutig, weniger explizit ist allerdings hier das didaktische Ziel: es ist lediglich die Rede von einer "planmäßigen Erziehung zum häuslichen Lesen"82(vgl. Klasse fünf) bis hin zur "gelegentlichen Aussprache über die gelesenen Werke in der Klasse [...]"83(vgl. Klasse zehn). Somit steht weniger die Reflexion im Vordergrund, als vielmehr die Reproduktion des gelernten Stoffes. Der extrem hohe Status des muttersprachlichen Unterrichts im Fach Deutsch als Ausgangslage für "den sprachlichen Verkehr des praktischen Lebens"84kann als maßgebend für andere fachliche Inhalte angesehen werden. So umfassen die Ausführungen der Unterteilung des Deutschunterrichts in seine einzelnen Komponenten wie Sprecherziehung, Lesen, Sprachkunde, Rechtschreiben, Aufsatz und Schreiben etwa dreizehn Seiten, die Inhalte und didaktischen Ziele des Englischunterrichts jedoch nur gute fünf, ebenso wie die des Mathematikunterrichts. Der Mathematikunterricht führte nur wenig explizite Vermittlungsbeispiele auf und übte sich eher hinsichtlich vager Zielformulierungen, wie beispielsweise "Sicherheit im Gebrauch der Längenmaße", "Übungen im Schätzen [...] von Strecken" und "mündliches und halbschriftliches Rechnen auf allen Gebieten"85. Die zu vermittelnden Inhalte im Fach Mathematik konkretisieren sich erst ab Klasse neun und zeigen Beispiele wie "Zinsberechnung in Sparkassen" und "Gleichungen ersten Grades mit ein und zwei Unbekannten"86. Im Fach Physik wird gemäß der Stundentafel inhaltlich für Jungen und Mädchen differenziert und andere Maßstäbe vorgegeben. In Englisch schlägt sich dies sogar in der Anzahl der Klassenarbeiten nieder, so werden für Jungen "acht, in Mädchenklassen sechs Klassenarbeiten"87veranschlagt. In den ersten Klassen der Primarstufe werden vom Lehrplan für das Fach Englisch sogar noch (geschlechterzusammenfassend) zehn bis zwölf Klassenarbeiten veranschlagt, heute sind es in der Regel nicht mehr als vier. Als Beispiel für die engmaschig vorgegebenen fachlichen Inhalte dient die in Abbildung 7 verdeutlichte Übersicht der Unterrichtsgegenstände des Werkunterrichts für Jungen in den Jahrgangsstufen zwei bis fünf (Klassen sechs bis neun). Hieran kann man erkennen, dass das kerncurriculare Prinzip, das noch vierzig weitere Jahre bis in den "Bildungsplan 1994" verfolgt worden ist, sich vorrangig an fachlichen Inhalten und weniger an didaktischen Leitideen orientiert. Dies soll vor allem die Durchführung der unterrichtlichen Inhalte sichern und verwandelt somit den Lehrplan in "ein technisch perfektes Instrument zur Steuerung und Steigerung der Lernleistung"88. Abbildung 7 will dieses Instrumentarium anhand eines konkreten Beispiels verdeutlichen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 7: Werkunterricht. Fachliche Inhalte der Klassen 6 bis 9. Lehrplan 1952.

3.4 Schultheoretische und didaktische Implikationen

Nach dem Fall des Dritten Reiches mussten die alliierten Siegermächte grundlegende Neuordnungen für das deutsche Schulsystem beschließen. Die vor dem Kriegsende geltenden schultheoretischen Implikationen waren stark idealistisch vom Ideal der Nazis geprägt, um der "gleichgeschalteten Erziehung im rechten 'Geiste' " gerecht werden zu können89. Die Umstrukturierung des deutschen Bildungswesens, englisch "Reeducation", welche im Potsdamer Abkommen 1945 verabschiedet wurde, bestimmte somit, dass das "Erziehungswesen in Deutschland (künftig) überwacht werden (müsse), daß die nazistischen und militaristischen Lehren völlig entfernt werden (müssen) und eine erfolgreiche Entwicklung der demokratischen Ideen möglich gemacht [werden müssen]"90.

"In der Kontrollratsdirektive Nr. 54 vom Juni 1947 benannten die vier (sic!) Siegermächte die Grundsätze für ein derartiges Schulwesen:

- [...]

- Aufbau des Bildungssystems nach folgendem Prinzip: 'Alle Schulen für den Zeitraum der Pflichtschulzeit sollten ein zusammenhängendes Bildungssystem darstellen. Die Abschnitte der Elementarbildung und der weiterführenden Bildung sollten zwei aufeinanderfolgende Stufen der Unterweisung bilden, nicht zwei Wege oder Abschlüsse der Ausbildung nebeneinander, die teilweise übereinstimmen.' "91

Jedoch führten diese anfangs vielversprechenden Änderungsmaßnahmen nicht zwangsläufig zu den Effekten und Veränderungen, die man sich erhoffte. Zwar waren Änderungen im Bildungswesen spürbar, jedoch waren diese eher von geringerem Ausmaße und die Umsetzung eines demokratischen Denkprozesses stellte sich nur schleichend ein. Das Hauptproblem bestand wohl darin, dass "das (primäre) Ziel der Entnazifizierung (...) zu eng (war), als daß es Gelegenheit geboten hätte, den Gesamtzusammenhang der Bildungsprobleme und die Zukunft des Bildungssystems zu diskutieren."92Dies ist in der Konzeption und Umsetzung des Lehrplans von 1952 noch deutlich zu erkennen - es fehlt in erster Linie an pädagogischen Ideen und neuen Konzepten, um das veraltete Schulsystem von Grund auf zu reformieren. Das Kerncurriculum, das nach wie vor Hauptbestandteil des damaligen Lehrplans ist, lässt deutlich zu wenig pädagogischen Handlungsspielraum übrig. Die Besatzungsmächte, insbesondere die Amerikaner, haben mit ihrem "Reeducation"- Programm versucht, einen Teil ihrer Bildungskultur in unsere Gefilde zu bringen und sie mit einem demokratischen Fundament in unser damaliges Refugium zu integrieren und dauerhaft zu etablieren. Jedoch impliziert die Demokratisierung des Bildungs- und Schulsystems den Abbau der Ungleichheiten und Bildungschancen93. Dieser Demokratisierungsprozess fand allerdings in jener Epoche noch nicht statt. Dieser Umstand bzw. Missstand lässt sich allein schon anhand der inneren Differenzierung der Stundentafel festlegen, in welchem nach wie vor zwischen Jungen- und Mädchenbildung differenziert wird. Auch wenn die "Mittelschule [...] für (generell) gut begabte Kinder [bestimmt ist], die mit praktischer Veranlagung eine größere Fähigkeit zum Erwerb theoretischer Erkenntnisse verbinden" ist nach wie vor von "hauswirtschaftlichen Frauenberufen"94die Rede. Von einem Emanzipierungsprozess bzw. einem gesellschaftlichen Wandel, der an dieser Stelle hätte impliziert werden können (vergleichsweise mit dem Emanzipierungsprozess in den Nachkriegsjahren) ist im Lehrplan allerdings nichts zu finden. Man konnte nach wie vor von einer schulpolitischen Sackgasse sprechen, deren äußere Bildungsreform zwar auf die zweckmäßige Distanzierung von historisch negativ assoziierten Begrifflichkeiten abzielt, jedoch fand so gut wie keine "innere Reform" statt. Die Gründe hierfür waren mitunter gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ursprungs:

"Die bildungspolitische Beschränkung auf schulische Detailreformen und die fraglose Traditionsfortbeschreibung in der pädagogischen Theoriebildung über Schule (...) wurden möglich, weil sich bis weit in die fünfziger Jahre hinein die Öffentlichkeit gegenüber der sozialselektiven Grundstruktur des traditionellen Schulsystems bemerkenswert kritiklos verhielt. Zum einen sorgten der wirtschaftliche Aufschwung in der Bundesrepublik und damit zusammenhängend eine weitverbreitete soziale Zufriedenheit in der Bevölkerung dafür, daß die Bildungspolitiker keinerlei Anlaß sahen, ihre restaurative Grundeinstellung aus der Nachkriegszeit zu überprüfen oder gar aufzugeben."95

Hieran wird ersichtlich, dass die damaligen Umstände den Demokratisierungsprozess, der insbesondere von den Amerikanern angestrebt worden ist, erschwerten und dessen Umsetzung in Hinblick auf bildungspolitische Neuerungen verlangsamten. Letztlich basierte der Mangel an Kritik des minimalistisch reformierten Schulsystems auf der Folge weit verbreiteter psychologischer und soziologischer Theorien über die Dreiteilung der Begabungen und Berufe in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft96. Es war traurige Tatsache, dass "diese psychologischen und soziologischen Begabungs- und Berufstypologien (...) die Begabungsentwicklung wie eine unumstößliche Naturgesetzlichkeit (behandelten) und (...) damit aufs Neue die überkommenen schulischen Formen der Begabungsauslese als gesellschaftliche Elitenbildung (rechtfertigte)"97.

Fortschritte allerdings sind in der pädagogischen Grundförderung bzw. der Charakterbildung der Lernenden zu erkennen. So ist "sowohl im persönlichen Verkehr innerhalb der Klassen- und Schulgemeinschaft wie im Unterricht (...) jede Gelegenheit zur Bildung des Gemüts und des Charakters zu nutzen98. Hieran werden pädagogische Konzepte , die unseren heutigen zwar im Ansatz ähneln, erkenntlich, jedoch war die Umsetzung jener Ideen eine andere Sache. Der Lehrplan von 1952 war nach wie vor stark feinzielorientiert und basierte auf der Vorstellung, dass Unterrichtsstoff stark vertieft werden müsse und ein breitgefächertes Spektrum an zu lehrenden Inhalten eher nicht notwendig sei99. Es fehlten nach wie vor Ansätze einer sorgfältigen und kritischen Verarbeitung sowie die Ergebnisse einer grundlegenden Curriculumforschung100. Zumindest waren didaktische Ansätze mittlerweile in die jeweiligen Fachbereiche des Lehrplans integriert worden. Zwar kristallisierten sich an dieser Stelle noch keine wissenschaftlich fundierten Fachdidaktiken heraus, jedoch waren allgemeine didaktische Ansätze entwickelt und auf diverse Fächer generalisiert übertragen worden.

Alle fachspezifischen Lehrpläne wiesen in ihrer konzeptionellen Strukturierung dasselbe Muster auf: Ziel - Stoff - Behandlung. Dabei wurde in den Zielen festgelegt, welche Legitimationsbasis dem zu vermittelnden Stoff vorausgeht und welche Zukunftsbedeutung es die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler darstellen würde. In diesem Punkt bewegen wir uns sehr nah an gängigen Konzeptions- und Reflexionsprinzipien für die Gestaltung ausführlicher Unterrichtsentwürfe bzw. bei der Stunden- oder Unterrichtseinheitenplanung. So formuliert der Fachbereich Deutsch im Lehrplan von 1952 als ein Ziel, dass "die Schüler im Sprechen so gewandt sein und treffsicher werden (sollen), wie es der besonderen Bildungsaufgabe der Mittelschule und deren Ausrichtung auf das praktische Leben entspricht."101Dies ist zwar noch sehr vage formuliert, jedoch werden deutliche Versuche erkennbar, den Unterrichtsstoff vor dessen Vermittlung zu legitimieren und kritisch zu überdenken. Im Bereich des Schreibens sind die Zielformulierungen bereits konkreter: "Die Schrift der Schüler soll flüssig und leicht zu lesen sein, in ihrem Gesamtbild einen sauberen und gefälligen Eindruck machen und mit der Zeit ein persönliches Gepräge annehmen"102. Dies zeigt, dass im "Nachkriegslehrplan" die Ansätze hinsichtlich des Wunsches nach einer eigenen Persönlichkeitsausprägung erkennbar sind. Die stofflichen Aspekte des Lehrplans sind, nicht wie die Zielbeschreibungen, jahrgangskonform unterteilt und beinhalten die zu vermittelnden Unterrichtsthemen und -gegenstände. So soll beispielsweise im Erdkundeunterricht der vierten Jahrgangsstufe das Überthema "Afrika" thematisiert werden. Unterteilt werden die zu vermittelnden Unterthemen in konkrete Unterrichtsvorschläge, die in aufzählender Weise für den Lehrkörper ein Orientierungsraster schaffen sollen. In der Thematik "Nordafrika" sind somit "die Atlasländer als Ergänzung der europäischen Mittelmeerländer" sowie "der Islam, die Sahara, das Nilland mit seinen modernen Bewässerungsanlagen (und) der Suezkanal"103Bestandteil des Stoffes. Diese kerncurriculare Gliederung wurde bis in den Bildungsplan von 1994 aufrecht erhalten und von vielen Lehrerinnen und Lehrern als verbindliche Legitimationsbasis für deren Unterricht angesehen. In der Behandlung wurden die didaktischen Ansätze für die einzelnen Unterrichtsfächer nachgestellt. Sie folgten strukturell nach den stofflichen Inhalten und Zielbestimmungen der einzelnen Fächer. Diese didaktischen Ansätze schufen, nach dem die Didaktik während des Dritten Reiches stark in den Hintergrund getreten ist, neue Horizonte. Unterrichtsmethodik wurde als konkreter Bestandteil in den Lehrplan integriert und stellte, ebenso verbindlich wie die unterrichtlichen curricularen Inhalte, eine Basis für modernere Bildungsinnovationen dar. Didaktische Leitideen sind mit dem Lehrplan von 1952 reflektiert und die Auswirkungen auf die Schülerschaft kritisch abgewogen worden. Dieses Konzept entstammte höchstwahrscheinlich als Konsequenz der amerikanischen "Reeducation"-Maßnahme.

[...]


1Stolz u. Schwarz 1994, 47

2ebd., 51

3 Bildungsplan Realschule 2004, 7

4Lehrplan Mittelschulen Nordwürttemberg 1952, 35

5Bildungsplan Realschule 1963, 5

6Speck 1978, 110

7Popp u. Reh 2004, 181

8 Westphalen 1980, 41

9Bildungsplan Realschule 1994, 9

10b:e tabu 1974, 7

11Mackert 1992, 9

12Mackert 1992, 9

13 Brügelmann 1975, 87

14ebd.

15Rutt 1974, 39

16 a.a.O., 12

17Kemper 1984, 83

18Schaub u. Zenke 2000, 1370

19Grob u. Merki 2001, 123

20Bildungsplan Realschule 1994, 11f.

21Bildungsplan Realschule 2004, 8

22ebd.

23Fuhr u. Dauber 2002, 115

24Westphalen 1980, 47ff.

25 ebd., 43f.

26 www.bildung-staerkt-menschen.de

27www.berlin.de

28comenius Institut 2004, 2

29ebd.

30 Bildungsplan Realschule 2004, 27

31Bildungsplan Realschule 2004, 17

32 www.berlin.de

33Bildungsplan Realschule 2004, 6

34Lehrplan Mittelschulen Nordwürttemberg 1952, 33

35Lehrplan Realschule 1976, LPH 4/1977, 19

36Stolz und Schwarz 1994, 53

37Bildungsplan Realschule 1994, 9ff.

38Westphalen 1980, 41

39 ebd.

40ebd., 42

41Bildungsplan Realschule 1994, 10

42Bildungsplan Realschule 2004, 9

43www.tourismus.nuernberg.de

44 a.a.O.

45Heid u. Vath 1978, 80f.

46netzwerk-bildungsfreiheit.de

47ebd.

48 Lundgreen 1981, 94

49Kemper 1990, 231

50ebd.

51ebd.

52 Heid u. Vath 1978, 81

53Heid u. Vath 1978, 81

54Kemper 1990, 234

55 Lundgreen 1981, 94

56Lundgreen 1981, 94

57Kemper 1990, 241

58 ebd., 243

59Kemper 1990, 243

60Lehrplan Mittelschulen Nordwürttemberg 1952, 33

61ebd.

62ebd., 35

63 Education Research Section 1949

64Lehrplan Mittelschulen Nordwürttemberg 1952, 35

65ebd., 35

66ebd.

67ebd.

68ebd.

69Klafki 1985a, 131f.

70 Meyer 1987, 77

71Lehrplan Mittelschulen Nordwürttemberg 1952, 35

72ebd.

73ebd.

74 Lundgreen 1981, 21

75Lehrplan Mittelschulen Nordwürttemberg 1952, 36

76Lehrplan Mittelschulen Nordwürttemberg 1952, 36

77bis Jahrgangsstufe fünf (Klasse neun) nur für Jungen

78 nur für Mädchen

79Lehrplan Mittelschulen Nordwürttemberg 1952, 33

80ebd., 37

81ebd., 38

82ebd., 39

83 ebd., 41

84ebd., 37

85Lehrplan Mittelschulen Nordwürttemberg 1952, 90f.

86ebd., 91

87ebd., 87

88 b:e tabu 1974, 91

89Lundgreen 1981, 23

90ebd., 24

91ebd., 24f.

92 Heid u. Vath 1978, 81

93Rutt 1974, 23

94Lundgreen 1981, 57

95 Kemper 1990, 246

96Kemper 1990, 246

97ebd., 247

98Lehrplan Mittelschulen Nordwürttemberg 1952, 36

99ebd., 35

100 Westphalen 1980, 39

101Lehrplan Mittelschulen Nordwürttemberg 1952, 37

102ebd., 49

103 ebd., 65

Ende der Leseprobe aus 202 Seiten

Details

Titel
Entwicklung der Realschullehrpläne in Baden-Württemberg ab Mitte des 20. Jahrhunderts und ihre schultheoretischen und didaktischen Implikationen
Hochschule
Pädagogische Hochschule Ludwigsburg  (Institut für Erziehungswissenschaft)
Veranstaltung
Wissenschaftliche Hausarbeit zur Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Realschulen nach der RPO I v. 24.08.2003
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
202
Katalognummer
V209078
ISBN (eBook)
9783656365457
ISBN (Buch)
9783656366133
Dateigröße
11749 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Eine historische Darstellung der Entwicklung der Landeslehr- rsp. Bildungspläne des Landes Baden-Württemberg ab 1950 bis 2004 an Mittel- bzw. Realschulen. Die Arbeit fokussiert insbesonderse die Thematik des jeweiligen bildungspolitischen bzw. historischen Kontextes sowie die konzeptionelle Rahmung des jeweiligen Bildungsplans. Die einzelnen Bildungspläne werden anhand fachlicher und fachdidaktischer Implikationen miteinander verglichen. Abschließend erfolgt eine Evaluierung des Autors in Hinblick auf die gegenwärtige Bildungsplanproblematik in Bezug auf die diffizile Bildungslandschaft in BW.
Schlagworte
Lehrplan, Bildungsplan, Bildungsplan 2004, Realschule, Baden-Württemberg, RS, RS BW, Bildungsplan Realschule 2004, Lehrpläne Realschule Baden-Württemberg
Arbeit zitieren
Marcel Misterek (Autor:in), 2012, Entwicklung der Realschullehrpläne in Baden-Württemberg ab Mitte des 20. Jahrhunderts und ihre schultheoretischen und didaktischen Implikationen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/209078

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