Die soziale Mächtigkeit als Voraussetzung für den Koalitionsbegriff einer Gewerkschaft

Eine kritische Stellungnahme zur einschlägigen Rechtsprechung und Literatur


Examensarbeit, 2012

46 Seiten, Note: 8 Punkte - befriedigend


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

Literaturverzeichnis

A. Eine Gewerkschaftslandschaft im Umbruch

B. Die soziale Mächtigkeit als Voraussetzung für den Koalitionsbegriff
I. Der uneinheitliche Koalitionsbegriff
II. Begriff der sozialen Mächtigkeit
1. Herleitung der Mächtigkeit
2. eHerhDEFErklärung der Mächtigkeit
3. Kriterien für die Mächtigkeit
a) Durchsetzungsfähigkeit und Annahmen gegen diese
b) Organisatorische Leistungsfähigkeit
c) Kritik an der bis dato bestehenden Rechtspraxis
aa) Gewichtung der Kriterien
bb) Bewertung der Kritik nach der Kriteriengewichtung
cc) Mögliches Aufkeimen alter Kritik
4. Funktionen der Mächtigkeit
III. Der einheitliche Gewerkschaftsbegriff
1. Auslegung des Wortlauts
2. Historische Auslegung
IV. Lehre vom relativen/funktionalen Gewerkschaftsbegriff
1. Die soziale Mächtigkeit im Prozessrecht
2. Die soziale Mächtigkeit im Betriebsverfassungsrecht
3. Die soziale Mächtigkeit im Personalvertretungsrecht
4. Die soziale Mächtigkeit im Mitbestimmungsrecht
5. Zwischenergebnis
V. Verfassungsrechtliche Kritik an der sozialen Mächtigkeit
1. Schutzbereich von Art. 9 III GG
a) Persönlicher Schutzbereich
b) Sachlicher Schutzbereich
2. Abgrenzung von Eingriff und Ausgestaltung
3. Eingriff in die kollektive Koalitionsfreiheit
a) Eingriff in die Koalitionsbildungsfreiheit
b) Eingriff in die Koalitionsbetätigungsfreiheit
4. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
a) Die Mächtigkeit im Tarifvertragsrecht
b) Die Mächtigkeit in anderen arbeitsrechtlichen Gesetzen
5. Verstoß gegen die individuelle Koalitionsfreiheit
6. Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz
7. Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz
a) Ungleichbehandlung gegenüber mächtigen Arbeitnehmerkoalitionen
b) Ungleichbehandlung gegenüber nichtmächtigem Gegenspieler
c) Ungleichbehandlung „junger“ gegenüber etablierter Koalitionen
8. Verstoß gegen den Koalitionspluralismus
9. Internationale Regelungen zur Koalitionsfreiheit
10. Zwischenergebnis
VI. Alternativkonzepte zur sozialen Mächtigkeit
1. Relative Tariffähigkeit
2. Das Prinzip des freien Spiels der Kräfte
a) Erweiterte Inhaltskontrolle
b) Nachträgliche Missbrauchskontrolle
3. Zwischenergebnis

C. Rechtsvergleichender Ausblick

Ehrenwörtliche Erklärung

LITERATURVERZEICHNIS

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

A. Eine Gewerkschaftslandschaft im Umbruch

Die „Beschäftigung mit dem Arbeitskampfrecht lässt gelegentlich an den Versuch denken, sich in einem Urwald zurechtzufinden.“[1] Schwerpunkt dieser Arbeit ist zwar nicht das Arbeitskampfrecht, dennoch trifft diese Metapher des ehemaligen Bundesarbeitsgerichtspräsidenten Wißmann zu. Denn kaum ein anderes Thema im Arbeitsrecht ist so umstritten und vielseitig diskutiert wie das des Erfordernisses der sozialen Mächtigkeit für den Gewerkschaftsbegriff.[2] Dies liegt nicht zuletzt daran, dass der Gesetzgeber mit einer Entscheidung im Sinne der marginal überwiegenden Literaturauffassung auf sich warten lässt. Brisanz erlangt die seit einem halbem Jahrhundert bestehende Thematik durch die sich im Umbruch befindende Gewerkschaftslandschaft. Bedingt wird dies einerseits durch die Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit bei Tarifpluralität im Jahre 2010[3]. Demnach können in einem Betrieb für ein und dieselbe Regelungsmaterie auf verschiedene Arbeitsverhältnisse verschiedene Tarifverträge Anwendung finden.[4] Die damit verbundene Stärkung kleinerer Spartengewerkschaften begünstigt die Bildung neuer derselben. Von einem „Sieg des Berufsgruppenegoismus über den gewerkschaftlichen Großgruppenegoismus“ ist die Rede.[5] Die Mitglieder dieser Spartengewerkschaften sehen ihre Interessen in einer für sie zugeschnittenen Vereinigung besser vertreten. So gibt es allein für die Luftfahrt gleich drei Berufsgewerkschaften.[6] Andererseits geht der Trend weg von den „großen“ Gewerkschaften hin zu den „kleinen“. Dies zeigen unter anderem die in den letzten Monaten aufgrund fehlender Mächtigkeit für nicht tariffähig erklärten Gewerkschaften wie der Beschäftigtenverband Industrie, Gewerbe, Dienstleistung (BIGD)[7] oder auch Medsonet[8]. Schließlich tragen die zunehmende Bedeutung von Firmentarifverträgen auch mit kleineren Gewerkschaften und die sinkenden Mitgliederzahlen in Gewerkschaften der Aktualität Rechnung.[9] Ungeachtet der näheren Klärung des Begriffs der sozialen Mächtigkeit ergibt sich schon aus dem Wortlaut, dass diesem Erfordernis für große Gewerkschaften keinerlei Bedeutung und damit praktische Auswirkungen zukam. So mutiert der anfangs noch eher rechtstheoretisch geführte Meinungsstreit zu einem für die Arbeitswelt relevanten Konflikt. Ziel dieser Arbeit ist es, den seit langem vor allem im Bereich des Tarifrechts geführten, und durch die Rechtsprechung vom einheitlichen Gewerkschaftsbegriff auf weitere Bereiche erstreckten Streit im Sinne des Art. 9 III GG aufzulösen. Dabei wird vor allem auch danach gefragt, inwiefern eine soziale Mächtigkeit überhaupt erforderlich ist und was darunter zu verstehen ist. Schließlich werden im Schrifttum vorzufindende, auf den Bereich des Tarifrechts fokussierende alternative Lösungsansätze zur sozialen Mächtigkeit unter dem Gesichtspunkt der Effektivität und Zweckmäßigkeit überprüft.

B. Die soziale Mächtigkeit als Voraussetzung für den Koalitionsbegriff

Zur Einordnung der Problematik in den richtigen Kontext müssen Begriffe voneinander abgegrenzt und vor allem die soziale Mächtigkeit erläutert werden.

I. Der uneinheitliche Koalitionsbegriff

Strikt voneinander zu trennen sind die Begriffspaare des verfassungsrechtlichen und des arbeitsrechtlichen Koalitionsbegriffs.[10]

Wenn Art. 9 III GG von Vereinigungen spricht, so versteht man darunter Arbeitnehmer- und Arbeitgeberkoalitionen. Sind die Kriterien der freien Bildung, Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, eine körperschaftliche Struktur, Unabhängigkeit und Gegnerfreiheit erfüllt, handelt es sich um eine verfassungsrechtliche Koalition, die in den Schutzbereich des Art. 9 III GG fällt.[11] Nach ganz herrschender Meinung ist für die Koalitionseigenschaft i.S.v. Art. 9 III GG aber keine Tariffähigkeit, und damit auch keine soziale Mächtigkeit erforderlich.[12] Sollten Arbeitnehmerkoalitionen also nicht sozial mächtig sein, ändert dies nichts an deren grundsätzlich grundrechtlich verbürgtem Schutz.[13] Der Einheitstheorie[14], nach der man nur beim Vorliegen von Tariffähigkeit – und damit dem Erfordernis der sozialen Mächtigkeit genüge getan werden muss – verfassungsrechtliche Koalition ist, ist nicht zu folgen.[15] So soll Art. 9 III GG dem Schutz aller Vereinigungen, die die Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen anstreben, dienen. Die Art und Weise der Zweckverfolgung steht den Koalitionen zur freien Wahl.[16] Ferner würden dadurch die nicht tariffähigen Arbeitnehmervereinigungen nur durch Art. 9 I GG geschützt.[17] Demnach ist der Trennungstheorie[18], die die Tariffähigkeit als nicht notwendigen Bestandteil des verfassungsrechtlichen Koalitionsbegriffs sieht, der Vorzug zu gewähren.

Um als arbeitsrechtliche Koalition, und damit als Gewerkschaft qualifiziert zu werden, bedarf es aber nach herrschender Meinung zusätzlich zu den Merkmalen einer Koalition i.S.v. Art. 9 III GG unter anderem immer auch einer sozialen Mächtigkeit.[19] Im Zuge dessen wird von den Koalitionen Tariffähigkeit verlangt.[20] Somit kann festgestellt werden, das eine Gewerkschaft immer auch Koalition gemäß Art. 9 III GG, letztere aber nicht immer eine Gewerkschaft ist. Die Klärung der Frage, was unter sozialer Macht zu verstehen ist, und warum in diesem Zusammenhang von Tariffähigkeit gesprochen wird, ist Aufgabe des nächsten Abschnitts.

II. Begriff der sozialen Mächtigkeit

Der auch mit Durchsetzungsfähigkeit[21], Verbandsmacht[22] oder Leistungsfähigkeit[23] synonym[24] umschriebene Begriff der sozialen Mächtigkeit ist nicht einheitlich definiert, sondern ergibt sich vielmehr aus der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts[25]. Die Terminologie wird dabei teils synonym, teils unterschiedlich aufgefasst. Insbesondere in der Literatur ist kein klarer Konsens zu entdecken. Dieser sehr zu Verwirrung beitragende Zustand soll durch eine prägnante Darstellung des Begriffs vermieden werden.

1. Herleitung der Mächtigkeit

Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts[26] im Jahre 1964 zur Tariffähigkeit waren Ausgangspunkt für die Entwicklung des Mächtigkeitserfordernisses durch das BAG.

Ersteres erklärte, dass der mit der Tarifautonomie zu verfolgende Zweck eines sinnvoll geordneten Arbeitslebens nur durch Tarifverträge erreicht werden kann. Dieser im öffentlichen Interesse liegende Zweck kann deshalb nur den Koalitionen zuteil kommen, die der Aufgabe auch gewachsen sind. Um dies sicherzustellen, müssen an die Tariffähigkeit gewisse Mindestanforderungen geknüpft werden.[27]

Das BAG sah sich jedoch schon vor dieser Grundsatzentscheidung dazu berufen, die Tariffähigkeit auszugestalten, sodass es diese bereits im Jahre 1956 von der Arbeitskampfbereitschaft abhängig machte.[28] In der oben genannten Entscheidung kritisierte das BVerfG[29] dies jedoch, sodass das BAG immer mehr von diesem Erfordernis absah, bis es schließlich das Kriterium der sozialen Mächtigkeit entwickelte.[30] Ob dieses nun der Austausch[31] oder die Weiterentwicklung[32] der Arbeitskampfbereitschaft war, sei dahingestellt. Jedenfalls folgerte das BAG zum ersten Mal im Jahre 1968 unter Bezugnahme auf die Verfassungsrechtsprechung, das unter diese Mindestanforderungen auch die soziale Mächtigkeit falle.[33] Dem ist jedoch nicht uneingeschränkt zuzustimmen, da das BVerfG die zu erfüllenden Mindesterfordernisse in der genannten Entscheidung auch zugleich aufzählte, unter denen sich aber kein Hinweis auf die soziale Mächtigkeit befand. Allerdings hat es dem Gesetzgeber zugebilligt, im Interesse der Ordnung und Befriedigung die Teilnahme am Tarifvertragssystem von weiteren, in Art. 9 III GG nicht genannten Merkmalen abhängig zu machen.[34] Somit waren die den noch gestaltungsoffenen Art. 9 III GG betreffenden Ausführungen des BAG grundsätzlich verfassungsrechtlich unbedenklich, aber von Art. 9 III GG her auch nicht geboten.[35]

Der Rechtsbegriff der sozialen Mächtigkeit wurde demnach nicht durch einen Akt der Legislative, sondern durch die Judikative des BAG geschaffen. Diese wurde in den letzten 50 Jahren immer wieder Gegenstand höchstrichterlicher Rechtsprechung[36]. Eine Zusammenfassung dessen, was nun konkret darunter zu verstehen ist, veranschaulicht der nächste Abschnitt.

2. Erklärung der Mächtigkeit

Auf jede Rechtsprechung einzeln einzugehen würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen und wäre auch nicht zweckdienlich. Deshalb wurden die aussagekräftigsten Entscheidungen zusammengeführt.

Demnach versteht man unter der sozialen Mächtigkeit die „Durchsetzungskraft einer Arbeitnehmervereinigung gegenüber dem sozialen Gegenspieler, die sicherstellt, dass dieser wenigstens Verhandlungsangebote nicht übersehen kann. Ein angemessener, sozial befriedigender Interessensausgleich kann nur zustande kommen, wenn die Arbeitnehmervereinigung so leistungsfähig ist, dass sich die Arbeitgeberseite veranlasst sieht, sich auf Verhandlungen über eine tarifliche Regelung einzulassen und zum Abschluss eines Tarifvertrages zu kommen.“[37]

Was bei der Rechtsprechungsrecherche vor allem ins Auge fällt, ist die variierende Gebrauchsweise der Merkmale der Mächtigkeit, Durchsetzungs-, Leistungs- und Druckausübungsfähigkeit. So findet man den das Thema dieser Arbeit den Namen gebenden Begriff erstmals im Jahre 1977 in einer Entscheidung, also erst neun Jahre nach der ersten.[38] Die Jahre der Diskussionen haben aber gezeigt, dass sich der Begriff der sozialen Mächtigkeit in der Literatur als zusammenfassende Umschreibung dieser Anforderungen durchgesetzt hat.[39] Welche dies im Einzelnen sind und was darunter zu verstehen ist, wird nun erläutert.

3. Kriterien der Mächtigkeit

Mächtigkeit ist nach Ansicht des BAG nur anhand objektiver Kriterien feststellbar.[40] Hierzu zählt auf der einen Seite die Durchsetzungsfähigkeit und auf der anderen Seite die organisatorische Leistungsfähigkeit.

a) Durchsetzungsfähigkeit und Annahmen gegen diese

Durchsetzungsfähigkeit gegenüber dem sozialen Gegenspieler bedeutet nicht, dass die Arbeitnehmerkoalition die Chance des vollständigen Sieges haben muss. Es muss nur erwartet werden können, dass sie aufgrund ihrer Mitglieder- oder Organisationsstärke vom Gegner ernst genommen wird.[41]

Was allgemein gesagt werden kann, ist, dass eine hohe Mitgliederzahl einer Vereinigung als Indiz für die Durchsetzungsfähigkeit anerkannt ist. Absolute Zahlen hierfür werden jedoch nicht genannt. Die Mitgliederzahlen sind auch nicht mit Blick auf die gesamte Arbeitnehmerschaft zu sehen, sondern relativ auf den Organisationsbereich, für den sich der Verband zuständig erklärt.[42] Hierbei wird immer wieder vom Organisationsgrad einer Gewerkschaft gesprochen, der die Gesamtzahl der in der Gewerkschaft organisierten Arbeitnehmer ins Verhältnis zur Gesamtzahl der Beschäftigten in diesem Betätigungsfeld setzt. Je höher dieser ist, desto höher sei auch die Indizwirkung. In der Vergangenheit konnte auch ein geringer Organisationsgrad die geforderte Durchsetzungskraft belegen, wenn es sich bei den Verbandsmitgliedern vornehmlich um Schlüsselkräfte handelt.[43] Begründet wurde dies mit den drohenden wirtschaftlichen Schäden im Falle eines Arbeitskampfes, der die Fähigkeit, Druck auszuüben, hinreichend belegt.[44] Dies soll nun seit dem GKH-Beschluss im Jahre 2010 scheinbar unbeachtlich für die Feststellung der Tariffähigkeit sein.[45] Dies würde eine nicht nur unerhebliche Auswirkung auf die künftige Entwicklung des Koalitionsspektrums bedeuten.[46]

Ferner kann ein Indiz für die Durchsetzungsfähigkeit sein, wenn sich Verbände durch Abschlüsse von Tarifverträgen aktiv ins Tarifgeschehen mit eingebracht haben. Dies lasse Rückschlüsse auf die Durchsetzungsfähigkeit zu.[47] Bei kontinuierlichen Regelungen seien nicht einmal der Inhalt und die Umstände des Zustandekommens des Tarifvertrags ausschlaggebend.[48] Sollten jedoch noch keine Abschlüsse getätigt worden sein, ist fiktiv darauf abzustellen, ob die Koalition dazu in der Lage wäre.[49] Dies ist jedoch nicht ansatzweise justiziabel und daher abzulehnen.[50] Es fragt sich jedoch, welche abgeschlossenen Tarifverträge für eine Indizwirkung sprechen bzw. welche davon ausgenommen werden sollen.

Schein- und Gefälligkeitstarifverträge sollen keinerlei die Durchsetzungsfähigkeit bestätigende Wirkung erhalten.[51] Während es sich beim Scheintarifvertrag nur der äußeren Form, nicht aber dem Inhalt nach um einen Tarifvertrag handelt, liegt ein Gefälligkeitsvertrag vor, wenn lediglich der Abschluss eines Tarifvertrags zum Zwecke der Erlangung der Gewerkschaftseigenschaft verfolgt oder der Arbeitgeberseite dadurch willentlich Vorteile zukommen sollen.[52]

Ferner dürfen geschlossene Tarifverträge nicht einem Diktat der Arbeitgeberseite entspringen.[53] Inwiefern dieses Ausschlusskriterium der Richtsicherheit dienlich ist, ist mehr als fragwürdig. So müsste, um dies festzustellen, immer eine Inhaltskontrolle durchgeführt werden, was eine unzulässige Tarifzensur darstellt.[54]

Neu ist, dass in Tarifgemeinschaft mit anderen Koalitionen getätigte Tarifabschlüsse die Tariffähigkeit nicht positiv indizieren können.[55] Grund dafür ist, dass nicht festgestellt werden kann, auf welcher Durchsetzungsfähigkeit der beteiligten Koalitionen die Tarifabschlüsse beruhen.[56]

Verworren ist die Rechtslage bei Tarifverträgen, die von den Vertragsparteien teilweise oder vollständig übernommen wurden, den Anschlusstarifverträgen. Während bis zum Jahre 2006 eine Indizwirkung grundsätzlich abgelehnt wurde[57], verwarf das BAG diese Sichtweise und ging davon aus, dass der Abschluss von solchen Übereinkommen ein Zeichen von Stärke einer Koalition sei, weil sich die Arbeitgeberseite zu diesen nicht veranlasst zu fühlen braucht.[58] Diese wurden letztlich den originären Tarifverträgen gleichgestellt, da auch hier keine nähere Feststellung hinsichtlich des Zwecks und der Umstände des Abschlusses erforderlich war.[59] Nach neuester Rechtsprechung[60] nimmt der BAG wieder eine Kehrtwende vor, und scheint den Anschlusstarifverträgen bei der Beurteilung der Durchsetzungsfähigkeit nun überhaupt keine Bedeutung mehr beimessen zu wollen. Denn es spricht unmissverständlich, aber ohne Begründung, davon, dass lediglich originär ausgehandelte Tarifverträge vergangenheitsbasierte Orientierungswerte liefern können.[61] Dahinter könnte der Gedanke mit der Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit stecken. Bis zum Jahre 2006 konnte ein Verband seine Tariffähigkeit lediglich durch den Abschluss originärer Tarifverträge nachweisen. Dies brachte aber den großen Nachteil mit sich, dass sich diese Tarifverträge von bereits in einschlägigen Zuständigkeitsbereich vorhandenen kaum durch bessere Arbeitsbedingungen abheben konnten.[62] Mehr ins Gewicht fiel jedoch die Tatsache, dass aufgrund der Tarifeinheit im Betrieb, der Arbeitgeber von originären Tarifverträgen mit abweichenden Regelungen keinen Nutzen, und wegen dem Bestreben nach einheitlichen Regelungen auch kein Bedürfnis hatte.[63] Somit konnten nur Anschlusstarifverträge Abhilfe schaffen, will ein Verband nicht Tarifverträge mit schlechteren Arbeitsbedingungen schließen.[64] Um wohl diese Misere zum größten Teil zu vermeiden, schloss das BAG im Jahre 2006 auch Anschlusstarifverträge in den Kreis der Indizienträger mit ein. Nachdem die Rechtsprechung von der Tarifeinheit im Betrieb aber 2010 wegfiel, ist das Bedürfnis nach Anschlusstarifverträgen scheinbar nicht mehr so hoch.[65] Dies ist jedoch nicht wünschenswert, da sie bei „Wahrung der Koalitionsvielfalt zu einer gewillkürten Tarifeinheit führen“.[66]

[...]


[1] Zitat vom ehemaligen BAG-Präsident Wißmann, übernommen von Kissel, Vorwort, V f.

[2] Löwer, in Kunig, Art. 9 Rn. 96.

[3] BAG NZA 2010, 1068, 1071.

[4] Junker, Rn. 577.

[5] Rieble, SAE 2006, 89, 90.

[6] Rieble, SAE 2006, 89, 90: Piloten (Vereinigung Cockpit), Flugbegleiter (Unabhängige Flugbegleiter Organisation) und Fluglosten (Gewerkschaft der Flugsicherung)

[7] ArbG Duisburg vom 22.08.2012, Aktenzeichen: 4 BV 29/12.

[8] ArbG Hamburg vom 17.05.2011, Aktenzeichen: 1 BV 5/10.

[9] Giere, S. 19.

[10] Von schlichten und mächtigen Gewerkschaften spricht Gamillscheg, S. 436.

[11] Siehe dazu: Junker, Rn. 451 ff.

[12] BVerfGE NJW 1995, 3377; BAG NJW 2311, 1386; Höfling, in: Sachs, Art. 9 Rn. 59; Kemper, in: Starck, Art. 9 Abs. 3 Rn. 109; Rüthers, ZfA 1982, 237, 247; Höfling, RdA 1999, 182 ff.

[13] BAG AP Nr. 30 zu § 2 TVG III 2; BAG AP Nr. 24 zu Art. 9 GG; BVerfGE 4, 96, 107.

[14] Begriff von Hemmen, S. 38.

[15] Nipperdey, RdA 1964, 361; Meissinger, AuR 1955, 1 ,3; Schnorr, RdA 1955, 3, 7; Säcker, S. 61.

[16] BVerfGE 18, 18, 32; 58, 233, 247; BAG AP Nr. 30 zu § 2 TVG.

[17] BAG AP Nr. 30 zu § 2 TVG; Hemmen, S. 38 f.

[18] Begriff von Hemmen, S. 38.

[19] BVerfGE 100, 214, 223; BAGE 23, 230, 324; BAG AP Nr. 24 zu Art. 9 GG

[20] BAGE 23, 230, 324; BAG AP Nr. 24 zu Art. 9 GG.

[21] BAGE 53, 347, 356; 64, 16, 20; BVerfGE 58, 233, 251.

[22] BAG DB 1978, 1279, 1279; BAGE 53, 347, 357; BVerfGE 58, 233, 246.

[23] BAGE 29, 72, 83; BVerfGE 58, 233, 249.

[24] Hemmen, S. 5.

[25] Nachfolgend mit BAG abgekürzt.

[26] Nachfolgend mit BVerfG abgekürzt.

[27] BVErfGE 18, 18, 28.

[28] BAGE 4, 351, 352.

[29] BVerfGE 18, 18, 26 f.

[30] Dütz, DB 1996, 2385, 2836; Kissel, § 9 Rn. 19.

[31] So Eitel, S. 39.

[32] So Geerds, S. 48; Kissel, § 9 Rn. 20.

[33] BAGE 21, 98, 101.

[34] BVerfGE 4, 96, 107 f.; 18, 18, 26 f.

[35] Buchner, in: FS 25 Jahre BAG, 55, 62.

[36] BAGE 21, 98, 101 f.; 29, 72, 80; 53, 346, 356; 64, 16, 20;

[37] BAGE 49, 322, 330; 117, 308.

[38] BAG AP Nr. 24 zu Art. 9 GG.

[39] Geerds, S. 47, m.w.N.

[40] BAG DB 1978, 1279, 1280.

[41] BAGE 117, 308; BVerfGE 58, 233.

[42] BAG AP Nr. 32, 34, 38, 55 zu § 2 TVG; BAG AP Nr. 1, 4 zu § 2 Tariffähigkeit; BAG DB 2005, 1117; BVerfGE AP Nr. 31 zu § 2 TVG.

[43] BAGE 21, 98, 103; 29, 72, 80; 113, 82, 90.

[44] BAG AP Nr. 1, 32 zu § 2 TVG; BAG AP Nr. 4 zu § 2 TVG Tariffähigkeit.

[45] BAG EzA Nr. 31 zu § 2 TVG, Rn. 54.

[46] Greiner, NZA 2011, 825, 829.

[47] BAGE 49, 322, 332.

[48] BAG AP Nr. 34, 55 zu § 2 TVG; BAG AP Nr. 4 zu § 2 TVG Tariffähigkeit.

[49] BAGE 29, 72, 88.

[50] Zöllner/Loritz (2008), § 35 I 2.

[51] BAGE 49, 322, 333.

[52] BAG AP Nr. 34 zu § 2 TVG; BAG AP Nr. 4 zu § 2 TVG Tariffähigkeit.

[53] BAG DB 1987, 947; BAGE 117, 308.

[54] Zöllner/Loritz (2008), § 35 I 2.

[55] BAG NZA 2011, 300.

[56] Greiner, NZA 2011, 825.

[57] BAG AP Nr. 36 zu § 2 TVG; BAG AP Nr. 1 zu § 2 TVG Tariffähigkeit, es sei denn es ist kein Diktat der Arbeitgeberseite feststellbar, was aus oben genannten Gründen nicht justiziabel ist.

[58] BAG AP Nr. 4 zu § 2 Tariffähigkeit.

[59] BAG AP Nr. 4 zu § 2 Tariffähigkeit.

[60] BAG NZA 2011, 300.

[61] BAG NZA 2011,

[62] Hümmerich/Holthausen, NZA 2006, 1070, 1075.

[63] Hümmerich/Holthausen, NZA 2006, 1070, 1075.

[64] Hümmerich/Holthausen, NZA 2006, 1070, 1075.

[65] Mit geänderten wirtschaftlichen Gründen spekulierend: Greiner, NZA 2011, 825, 829.

[66] Greiner, NZA 2011, 825, 829.

Ende der Leseprobe aus 46 Seiten

Details

Titel
Die soziale Mächtigkeit als Voraussetzung für den Koalitionsbegriff einer Gewerkschaft
Untertitel
Eine kritische Stellungnahme zur einschlägigen Rechtsprechung und Literatur
Hochschule
Universität Bayreuth
Veranstaltung
Oberseminar zum Arbeitsrecht
Note
8 Punkte - befriedigend
Autor
Jahr
2012
Seiten
46
Katalognummer
V209047
ISBN (eBook)
9783656390695
ISBN (Buch)
9783656391197
Dateigröße
557 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
mächtigkeit, voraussetzung, koalitionsbegriff, gewerkschaft, eine, stellungnahme, rechtsprechung, literatur
Arbeit zitieren
stud.iur. Boris Nefedow (Autor:in), 2012, Die soziale Mächtigkeit als Voraussetzung für den Koalitionsbegriff einer Gewerkschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/209047

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