Zum Zusammenhang von elementarer und komplexer Schnelligkeit bei zyklischen Laufbewegungen unter besonderem Aspekt energetischer Ermüdung


Bachelorarbeit, 2011

80 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Ausgangslage und Zielstellung der Arbeit

2 Wissenschaftlicher Sachstand
2.1. Forderungen an eine Schnelligkeits-Vorbelastung/ Erwarmung
2.2. Ermudung und Aktivierung als Beanspruchungsreaktionen
2.2.1. Zentrale Beanspruchungsreaktionen
2.2.2. Periphere Beanspruchungsreaktionen
2.3. Effekte konditioneller Vorbelastung
2.3.1. Sachstand zu Kraftvorbelastungen
2.3.2. Sachstand zu Ausdauervorbelastungen
2.4. Problemstellung
2.5. Arbeitshypothesen

3 Methodik
3.1. Hermeneutische und theoretisch- logische Methode
3.2. Experimented Methode
3.2.1. Schnelligkeitsdiagnostik
3.2.2. Versuchsanordnung der Voruntersuchung
3.2.3. Versuchsanordnung der Untersuchungstage
3.3. Mathematisch- statistische Methode
3.4. Methodenkritik

4 Ergebnisdarstellung
4.1. Stichprobe und Darstellung der Voruntersuchung
4.2. Kennwerte der Vorbelastungen
4.3. Entwicklung der Tappingparameter nach 400-m-Vorbelastung
4.4. Entwicklung der Tappingparameter nach der Fahrradergometrie
4.5. Entwicklung der Sprintzeiten nach 400-m-Vorbelastung
4.6. Entwicklung der Sprintzeiten nach der Fahrradergometrie
4.7. Vergleichende Betrachtungen
4.7.1. Ausgangsbedingungen und mogliche Lerneffekte
4.7.2. Tendenzen der Messwerte nach nach den Vorbelastungen
4.7.3. Ubertragbarkeit der Tappingparameter auf die Sprintleistung .
4.8. Zusammenfassung der Ergebnisse

5 Diskussion
5.1. Diskussion der Tappingparameter
5.2. Diskussion der Sprintzeiten

6 Schlussfolgerungen

7 Ausblick

8 Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Anlage 1: Abkurzungsverzeichnis

Anlage 2: Abbildungsverzeichnis

Anlage 3: Tabellenverzeichnis

Anlage 4: Standardisiertes Erwarmungsprogramm

Anlage 5: Kennwerte der Vorbelastungen

Anlage 6: Entwicklung der Tappingparameter

Anlage 7: Entwicklung der Sprintzeiten

Anlage 8: Ubersicht der Veranderungen der Parameter.

1 Ausgangslage und Zielstellung der Arbeit

Schon in der ersten Auflage der „Trainingslehre“ vor uber 40 Jahren wurde darauf hingewiesen, dass ,,Schnelligkeitsreize bei optimaler Erregbarkeit des Nervensystems am wirkungsvollsten sind.“ Allerdings durfe Schnelligkeitstrai- ningseinheiten deshalb auch ,,keine ermudende Tatigkeit vorausgehen“ (Harre & Berger, 1969, S. 166). Solche Tatigkeiten vor Schnelligkeitsanforderungen werden also mit einer Leistungsminderung in Verbindung gebracht. Diese An- sicht wird auch heute haufig uneingeschrankt vertreten.

Auf der anderen Seite betonte man bereits, dass die nervale Komponente einen groRen Anteil an der Schnelligkeitsleistung innehat. Nach langen Pausen- intervallen im Schnelligkeitstraining sei beispielsweise ein nochmaliges Einlau- fen durchzufuhren, „um die Erregung des Nervensystems, die relativ fruh ab- klingt, wiederzu erhohen“ (Harre & Berger, 1969, S. 167).

Es wird zu Recht darauf verwiesen, dass der Begriff Schnelligkeit nicht sy­nonym mit leichtathletischem Sprint verwendet werden darf, denn die Sprintleis- tung wird durch eine Vielzahl unterschiedlicher Leistungsvoraussetzungen be- stimmt (Bauersfeld & VoR, 1992, S. 14). Hierunter fallen neben vielen anderen auch verschiedene Erscheinungsformen der Kraftfahigkeiten und elementare Schnelligkeitsvoraussetzungen (VoR, Witt & Werthner, 2007, S. 16). Eine min- destens gleichwertige Rolle letzterer neben den Prozessen der Energiebereit- stellung an der komplexen Schnelligkeitsleistung wird von vielen Autoren her- vorgehoben. Hauptmann und Witt (2011a, S. 174) betonen den Einfluss zent- ralnervoser und neuromuskularer Steuerung und ihrer Erscheinungsformen - Jntermuskulare Koordination“, ,,optimale An- und Entspannungsfahigkeit der Muskulatur“ und ,,adaquate energetische Absicherung“ - an einer komplexen zyklischen Schnelligkeitsleistung. Schnelligkeit sei deshalb eine ,,koordinativ- konditionell determinierte Leistungsvoraussetzung“. Auch Martin, Carl und Lehnertz (1993, S. 147) kommen zu dieser Auffassung und ordnen die Schnel­ligkeit daher ,,nur bedingt den konditionellen Fahigkeiten“ zu. Hottenrott und Neumann (2010, S. 171) akzentuieren den informationellen Aspekt der Schnel- ligkeitsfahigkeiten ganz besonders. Schnelligkeit sei demnach ,,nicht aus ener- getischer Sicht zu beschreiben, sondern sie ist bevorzugt ein Resultat neuro- muskularer Ruckkopplungen, vermittelt durch ein sportartspezifisch genutztes sensomotorisches Potenzial". LuhnenschloR und Dierks (2005, S. 18) stellen fest, dass „die Bewegungsgeschwindigkeit [...] von der Perfektion des Funktio- nierens der neuronalen Prozesse" abhangt.

Die Ermudung der schnelligkeitsrelevanten Funktionssysteme wurde lange Zeit uberschatzt (Hauptmann & Witt, 2011b, S. 338) und bis heute herrscht Un- klarheit uber Grunde und Mechanismen der Ermudung. Periphere und zentrale Ermudungserscheinungen, die mit konditionellen Belastungen, vor allem aber mit Ausdauerbelastungen, verbunden wurden, mussen kritisch gepruft werden. Der menschliche Organismus ist auch unter hochsten Ermudungsbedingungen bestrebt, seine Arbeitsleistung bestmoglich aufrecht zu erhalten. Der progressi- ven Ermudung bestimmter Systeme gehen deshalb standig Aktivitatszunahmen anderer Systeme einher (Pahlke & Peters, 1991, S. 8).

Einige Untersuchungen indizieren, dass die informationell determinierten Prozesse der Nerv-Muskel-Ansteuerung nach Vorbelastungsaktivitat keine Ein- schrankungen erfahren und im Gegenteil sogar begunstigende Momente her- vorrufen. Das konnte im Sinne eines Kompensationsmechanismus geschehen, um periphere Funktionseinschrankungen auszugleichen. Buhl (1983, S. 113) merkt dazu an, dass ,,sportliche Leistung mit einer Veranderung des Aktivitats- zustandes zentralnervaler Strukturen gekoppelt" ist. In der Regel wirken diese im Sinne einer erhohten Aktivierung, bei erschopfender Belastung kann es aber auch zu einer Abnahme derselben kommen (Buhl, 1983, S. 103).

Ziel der vorliegenden Arbeit war es zunachst, den aktuellen Forschungs- stand zu Effekten akuter Vorbelastungsaktivitaten auf die fur die Schnellig- keitsmotorik relevanten Korpersysteme und die zugrundeliegenden Steuer- und Regelmechanismen zu referieren. Es werden deshalb in der Literaturschau Be- anspruchungseffekte hoher konditioneller Vorbelastung, also ihre Wirkung auf die primar energetischen und informationellen Funktionssysteme[1], theoretisch diskutiert. Des Weiteren werden Untersuchungen vorgestellt, die sich mit den Effekten von Vorbelastungen auf elementare und zyklische Schnelligkeit befas- sen.

Aus Diplomarbeiten der Sportwissenschaftlichen Fakultat geht hervor, dass konditionelle Vor- bzw. Ausbelastungen gunstige Effekte auf elementare Schnelligkeitsparameter bewirkten (Neumann, 2008; Richter, 2009). Die ele­mentare Schnelligkeit ist gewissermaRen als Basisfunktion mit Vorausset- zungscharakter fur komplexe Schnelligkeitsleistungen wie dem Sprint zu sehen. Sie beschreibt die Qualitat des Zusammenwirkens von zentralnervosen, neuro- neuronalen und neuromuskularen Prozessen, ist also ,,gekennzeichnet durch die an der Schnellkoordination beteiligten inneren Leistungsvoraussetzungen" (LuhnenschloR & Dierks, 2005, S. 35). Deshalb ist es im experimentellen Teil vorliegender Untersuchung von besonderem Interesse, welche Effekte von Vorbelastungen nach einem definierten Erholungsintervall auf die komplexe zyklische Schnelligkeitfestzustellen sind.

2 Wissenschaftlicher Sachstand

2.1. Forderungen an eine Schnelligkeits-Vorbelastung/ Erwar- mung

Nahezu unisono kommt man in der Fachliteratur zu dem Schluss, Schnel­ligkeitsleistungen, in Wettkampf wie auch Training, musse eine grundliche Er- warmung vorangehen, um einen optimalen psychophysischen Erregungszu- stand des Organismus zu erreichen. Das bedeutet, dass auf die fur die Schnel- ligkeitsbelastung wesentlichen Funktionssysteme des Organismus eine optimal hohe ergotrope Wirkung hergestellt werden muss (Pahlke & Peters, 1991, S. 8). Andererseits solle Schnelligkeit auch in ausgeruhtem korperlichem Zustand, mit ,frischem‘ Geist und daher moglichst am Beginn der Trainingseinheit geschult werden. Beispielsweise fordern Harre und Hauptmann (1987, S. 203) einen ho- hen zentralnervosen Aktivierungszustand im Schnelligkeitstraining, der durch eine ,,sorgfaltige und systematisch aufgebaute Vorbelastung" herzustellen sei. Diese Sicht vertritt auch Pohlmann (1986, S. 191), der fur die ,,mehr energe- tisch-konditionell akzentuierten Aufgabenstellungen" eine ,,hohe Aktivierung und Stimulierung" fur angebracht halt. Dabei mussten jedoch auch mogliche negati- ve Effekte einer hohen Vorbelastung auf die „technomotorische Koordination" beachtet werden. Pahlke und Peters (1991, S. 8) betonen explizit die groRe Be- deutung der Erwarmung fur ,,die Aktivierung des ZNS und damit fur den Leis- tungsvollzug".

Ziel einer Erwarmung fur Korperubungen mit hohen Anforderungen an die Schnelligkeit ist nach Weineck (2010b, S. 634) die Herabsetzung der inneren Reibung (Viskositat), sowie die Erhohung der Beweglichkeit und der Korper- kerntemperatur auf ein Optimum. So vertritt der Autor fur die periphere Nerven- leitgeschwindigkeit die Gultigkeit der van t’Hoff’schen oder Reaktionsgeschwin- digkeits- Temperatur- Regel (RGT-Regel). Demnach laufen biochemische Re- aktionen ,,bei einem Temperaturoptimum um bis zu 20 % schneller ab" (Ebd.), wodurch eine Bahnung der peripheren Nervenreizleitung erreicht wird. Hohere Temperaturen bewirken dies durch eine Verkurzung der Chronaxie und einen Anstieg des Aktionspotentials (Weineck, 2010b, S. 941). Diese Wirkung gilt je- doch nicht nurfur das Nervensystem, sondern allgemein fur physiologische und biochemische Reaktionen im Organismus, die bei einem Temperaturoptimum mit hoher Geschwindigkeit und hochstem Wirkungsgrad ablaufen (Joch & Uckert, 2001, S. 15). Positive Effekte sind also beispielsweise auch fur die Pro- zesse des Muskelmetabolismus zu erwarten. Auch Brenner und Maassen (2010, S. 77 f.) erwahnen die Wirkung der Erhohung der Temperatur auf die metabolischen Prozesse und die Abnahme der Viskositat des Muskels. Zudem betonen auch sie die positiven Einflusse der Erwarmung auf den kontraktilen Mechanismus: das Membranpotential werde hyperpolarisiert, die Amplituden der AP’s wurden groRer und ihre Dauer nehme ab. Zudem breiteten sich die AP’s schneller aus - wodurch die Kontraktionsgeschwindigkeit des Muskels summa summarum optimiert werde. Weineck (2010, S. 941) gibt eine Steige- rung der Kontraktionsgeschwindigkeit um 20 % pro 2° C gesteigerter Muskel- temperatur an, was auch mit einer ,,erhohten Erregbarkeit des Zentralnervensytems" in Verbindung gebracht wird.

Entsprechend fordern auch Martin et al. (1993, S. 171) eine ,,systematische Aufwarmarbeit von 15 bis 30 min", um ,,Korpertemperaturen von 38,5 Grad zu erreichen". Weiterhin merken sie an, dass sich Sprintzeiten unter diesen physio- logischen Voraussetzungen um 2,5- 6 % verbesserten. Joch und Uckert (2001, S. 15) nennen sogar 39° C als anzustrebendes Temperaturoptimum. Diese Temperatur zu erreichen sei aber in erster Linie von hohen (submaximal- progressiven bis maximalen) Intensitaten abhangig. Fur geringe Intensitaten, auch bei relativ langer Belastungsdauer, fanden die Verfasser keine nennens- werten Aufwarmeffekte (Joch & Uckert, 2001, S. 17).

Wie eingangs erwahnt, wird ein Schnelligkeitstraining nach Vorbelastung meist nicht weitergehend diskutiert. Bauersfeld und VoR (1992, S. 15) stellen die gangige Meinung vieler Autoren zum Schnelligkeitstraining vor. Demnach ist ein Schnelligkeitstraining ,,nach grundlicher Erwarmung im ersten Teil der Trai- ningseinheit oder in gesonderten Trainingseinheiten durchzufuhren". Auch Weineck (2010b, S. 634 f.) betont, ,,dass in der Trainingseinheit Schnelligkeits- ubungen nach einer entsprechenden Aufwarmphase am Anfang stehen sollten". Das Erreichen maximaler Geschwindigkeiten sei unter Ermudungsbedingungen nicht moglich, da ,,die Steuerungsprozesse des Zentralnervensystems (ZNS) beeintrachtigt [...] und die fur die Schnelligkeitsentwicklung erforderliche hohe Koordinationsfahigkeit in ihrer Leistung herabgesetzt" seien (Ebd.). Hingegen sieht Pohlmann (1986, S. 43) nicht nur leistungsmindernde Effekte intensiver konditioneller Vorbelastung und betont unter anderem deren hohe Aktivie- rungswirkung auf den Organismus. Auch Harre (2011, S. 359) betont, dass nach Trainingseinheiten der Grundlagenausdauer, gerade in den Sprint- und Kurzzeitausdauersportarten, Schnelligkeitsleistungen abzufordern sind, „um ei- ne Abschwachung der schnellen Kontraktionsfahigkeit der Muskulatur zu ver- meiden".

Einige Autoren merken an, dass ein Mangel an Untersuchungen zur Wir- kung von Vorbelastungen auf Schnelligkeits- und Schnellkraftleistungen be- steht. Lehnertz und Martin (1985, S. 41) weisen darauf hin, dass die Meinung, nach der hohe Schnelligkeitsleistungen nach Ausdauer- und Kraftvorbelastun- gen nicht mehr moglich seien, vor allem Erfahrungswissen wiederspiegele. Auch Olivier (1995, S. 394) bemangelt fehlende systematische Befunde ,,zum EinfluR konditioneller Belastungen auf das Schnellkraftniveau". Es existieren je- doch gegenwartig einige Publikationen, die positive Effekte von Vorbelastungs- aktivitaten ausweisen, deren Belastungsgefuge sich z.T. deutlich von einer ,klassischen‘ Erwarmung der Schnelligkeits- und Schnellkraftdisziplinen unter- scheidet (s. Kap. 2.3.). Grundlegend mussen sich die Vorbelastungsaktivitaten aber daran messen lassen, ob sie die oben beschriebene positive Wirkung auf den Organismus schaffen.

2.2. Ermudung und Aktivierung als Beanspruchungsreaktionen

In Folge soil die Wirkung korperlicher Belastung auf den Organismus ter- minologisch als Beanspruchung gekennzeichnet werden. Ein dahingehend dif- ferenziertes Verstandnis mahnt vor allem Olivier (1994, S. 246; 1997, S. 256) an. Er weist darauf hin, dass konditionelle Belastungen auf den Organismus nicht prinzipiell im Sinne von „Ermudung“ wirken. Er schlagt ein „Drei- Komponenten-Modell" speziell fur das motorische Lernen bzw. Techniktraining vor (Olivier, 1997, S. 256). Vereinfacht ausgedruckt resultieren demnach aus konditionellen Belastungen zentralnervose (manifestieren sich im allgemeinen zentralnervosen Aktivierungsniveau - AZAN) und neuromuskulare (manifestie­ren sich z.B. im Schnellkraftniveau der beteiligten Muskulatur) Beanspruchun- gen, die die Ausfuhrungsleistung der sportlichen Technik positiv oder negativ beeinflussen. Dabei muss als Vorteil dieser Betrachtungsweise die Berucksich- tigung der Tatsache gelten, dass einer konditionellen Belastung, trotz moglicher muskularer Ermudungserscheinungen, auch zentralnervose Aktivierungsreakti- onen folgen konnen. Allgemeiner und nicht auf das Techniktraining beschrankt klassifizieren Berger und Minow (2011, S. 225-228) mogliche Beanspruchungs­reaktionen des Organismus in Ermudung und Aktivierung.

Ermudung wird ganz allgemein als „reversible Herabsetzung der physischen und/ oder psychischen Leistungsfahigkeit" definiert (Weineck, 2010a, S. 774), deren Zustandekommen ein „multifaktorielles Ereignis" ist (Boutellier, 2011, S. 872). Allgemein anerkannt und sinnvoll ist die Unterscheidung in periphere, d.h. „muskular-metabolisch“ bedingte und in „zentral-koordinativ“ bedingte Ermu­dung (Ebd.; Weineck, 2010a, S. 774). Das impliziert auch, dass Ermudung an den unterschiedlichsten Strukturen des Organismus auftreten kann (vgl. Weineck, 2010a, S. 777), wobei in Folge nur auf die wesentlichsten eingegan- gen werden kann.

2.2.1. Zentrale Beanspruchungsreaktionen

Wie bereits ausgefuhrt wurde, ist ein wesentlicher Kritikpunkt an konditionel- len Vorbelastungen (deren Belastungsstruktur sich von einer typischen Schnel- ligkeitserwarmung unterscheidet), dass die Qualitat von Bewegungssteuerung und Koordinationsfahigkeit durch zentrale Ermudungseffekte als beeintrachtigt angesehen wird (Weineck, 2010b, S. 634 f.). Auffallig ist aber, dass in vielen Publikationen zentralnervose Ermudungs- oder Inhibitionseffekte auch nach hohen Vorbelastungen angezweifelt werden.

Die Ergebnisse von Beelen, Sergeant, Jones und de Ruiter (1992), die sich explizit mit zentraler und peripherer Ermudung bei maximal intensiver, kurzzei- tiger fahrradergometrischer Belastung befassten, zeigen, dass die Ursachen der Ermudung in der Arbeitsmuskulatur zu suchen sind. Schneider, Volker und Liesen (1993) fanden Hyporeaktivitat nach einbeinig absolvierten aeroben und anaeroben Ergometerbelastungen nach Belastungsende nur in der beanspruch- ten Arbeitsmuskulatur, nicht jedoch in der unbelasteten Extremitat. Ihr Schluss lautet daher ebenfalls, dass neuromuskulare Erregbarkeit ,,als Ausdruck peri­pherer Prozesse zu werten ist“ (Schneider et al., 1993, S. 226). Als ursachlich fur die Hyporeaktivitat diskutieren sie ,,Veranderungen in der Reizleitung und - ubertragung als auch im Zellmetabolismus“ (Ebd.). Ahnliche Befunde erbrachte die Untersuchung von Skof und Strojnik (2008), die nach lange dauernden aeroben und kurzzeitigen, intervallartigen maximalen Laufbelastungen EMG- Tests am M. quadriceps femoris durchfuhrten. Da die Muskulatur bei diesen Tests ohne Zutun des ZNS innerviert wird, kann aus den gefundenen Parame­ters die eine verringerte muskulare Kraftproduktion anzeigen, ebenfalls auf pe- riphere Hyporeaktivitat geschlossen werden, die die Autoren mit Einschrankun- gen des Ca2+- Transport- Systems an der neuromuskularen Endplatte erklaren (Skof & Strojnik, 2008, pp. 316-318). Auch Olivier (1996, S. 157) weist unter Be- tonung eines nach der Belastung erhohten allgemeinen zentralnervosen Akti- vierungsniveaus darauf hin, dass ,,hohe konditionelle Belastungen das Schnell- kraftniveau lokal beeinflussen“. In Konkordanz hierzu sei auf die Untersuchun- gen von Bula und Schmura (1984) sowie Brisswalter und Arcelin (1997) zu Wahl- und Einfachreaktionsschnelligkeit nach Vorbelastung verwiesen, deren Befunde gleichsam keineswegs eine zentralnervose Ermudung indizieren. Pas- send dazu sind auch die jungsten Ergebnisse von Richter (2009) zur Verbesse- rung der elementaren Schnelligkeit nach fahrradergometrischerAusbelastung.

Positive Effekte von Ausdauer-Vorbelastungen auf elementare und komple- xe Schnelligkeitsleistungen wurden wohl in einem zentralnervos ermudeten Zu- stand kaum zustande kommen und lassen sich zudem schwerlich durch opti- mierte Prozesse im Zellmetabolismus erklaren. Daher ist es sogar naheliegend, die Grunde fur positive Effekte bestimmter Vorbelastungsaktivitaten auf die Schnelligkeitsmotorik im zentralen und peripheren Nervensystem zu suchen. So diskutiert auch Richter (2009, S. 66) als mogliche Ursachen seiner Befunde u.a. ,,eine Veranderung der Ubertragungsrate zwischen Neuronen des Vorderhorns und Teilen des peripheren Nervensystems (PNS)“, ,,eine vergroRerte Aktivie- rung des Alpha-Motoneuronenpools“ und „eine verringerte Inhibition im pyrami- dalen System“.

Besonders den peripher-nervalen Prozessen, d.h. der Reizleitung von Mo­toneuron zu motorischer Endplatte, weist man eine besondere Bedeutung am Zustandekommen schnellster Bewegungen zu. Hohe Nervenleitgeschwindigkei- ten und niedrige (Eigen-)Reflexzeiten korrelieren demnach mit hohen Schnellig­keitsleistungen (vgl. Bauersfeld & VoR, 1992, S. 19 f.). Da diese Faktoren aller- dings als genetisch determiniert angesehen werden (Ebd.; LuhnenschloR & Dierks, 2005, S. 16 f.), kann eine hohere Nervenreizleitgeschwindigkeit nur uber Interventionen erzielt werden, bspw. der Erhohung der Korperkerntemperatur durch Erwarmung oder Vorbelastung (s. Kap 2.1). Die durch korperliche Aktivi- tat evozierten hoheren Reizleitgeschwindigkeiten ermoglichen es, die spinalen Bewegungsmuster (VoR et al., 2007, S. 32) schneller zum Effektor, dem Ske- lettmuskel, zu ubertragen. Das ist insofern wesentlich, als dass man davon ausgeht, dass sich die komplexeren ,,Technikprogramme“ (z.B. auch das des leichtathletischen Sprints) aus den hierarchisch hoher liegenden Zentren des ZNS dieser elementaren Zeitprogramme bedienen, gewissermaRen aus ihrer koordinierten Verschaltung zusammengesetzt sind (VoR et al., 2007, S. 19; 32 f.).

Das kann aber nicht daruber hinwegtauschen, dass jede Willkurbewegung von cortikalen und subcortikalen Strukturen maRgeblich gesteuert wird. So geht der entscheidende Impuls vom motorischen Cortex aus, ehe das Motoneuron feuern kann (ausgenommen die Muskeleigenreflexe und die extrapyramidale Motorik).

Zur Objektivierung der Effekte sportlicher Tatigkeit auf das zentrale Nerven- system wird in der sportwissenschaftlichen Forschung vor allem die Elektroen- zephalographie (EEG) und die Messung der Flimmerverschmelzungsfrequenz (FVF) eingesetzt (Schumann, 1996, S. 73 f.). Beide Verfahren erlauben die Quantifizierung des allgemeinen zentralnervosen Aktivierungsniveaus (Ebd.). Insbesondere fur die Bewegungswissenschaft ist die ZNS-Diagnostik von Be- deutung, da man haufig von einem bestimmten optimalen Aktivierungsniveau fur Technikerwerbstraining, Technikanwendungstraining etc. ausgeht (Schu­mann, 1996, S. 73). So fordern auch Schnabel, Krug und Panzer (2007, S. 208) ,,eine bestimmte konditionell-energetische (Vor-)Belastung“ fur die Schaffung eines hohen zentralnervosen Aktivierungsniveaus, um einen effektiven motori- schen Lernprozess zu ermoglichen. Diese Vorstellung basiert grundlegend auf dem Zusammenhang zwischen zentralnervoser Aktivierung und psychophysi- scher Leistung, den Yerkes und Dodson in der Form eines inversen ,U‘ be- schrieben (Schumann, 1996, S. 73; Hottenrott & Neumann, 2010, S. 71). Opti­mal hohe korperliche Belastungen manifestieren sich demnach ,,in einer erhoh- ten funktionellen Beweglichkeit der Neuronenensemble in kortikalen und sub- kortikalen Hirnregionen“ (Schumann, 1996, S. 92). Aufgrund der eingangs dar- gelegten Bedeutung der informationellen Komponente an der komplexen Schnelligkeitsleistung werden die Befunde der ZNS- Diagnostik auch fur vorlie- gendes Thema interessant, denn ein optimal hohes AZAN wird ebenfalls als leistungsforderlich angesehen (Gold, 2005, S. 173). Das ist einleuchtend, wenn man sportliche Bewegungen als ,,koordinative Gesamtleistung des ZNS unter Fuhrung des GroRhirns“ auffasst (Martin et al., 1993, S. 65).

Es soll hier noch angemerkt werden, dass Zusammenhange zwischen ho- her zentralnervoser Aktivierung und elementarer oder komplexer Schnelligkeits­leistung nur als theoretisch plausibel angenommen werden konnen, jedoch nicht empirisch belegt wurden und damit nicht prinzipiell unterstellt werden dur- fen.

Was ist nun der neuroanatomische und -physiologische Hintergrund einer zentralnervosen Aktivierung? Sehr vereinfacht ausgedruckt melden die bean- spruchten Arbeitsmuskeln ihren Funktionszustand uber Afferenzen an das ZNS.

Sehr bedeutend ist hier das aufsteigende retikulare Aktivierungssystem (ARAS), welches anatomisch gesehen der Formatio reticularis entspricht. Sie reicht vom verlangerten Mark bis ins Zwischenhirn und wird uber Afferenzen, u.a. der motorischen Nervenfasern, in ihrer Aktivitat beeinflusst. Uber das ARAS gelangen die Impulse dann an die Neurone des GroRhirns, die dadurch ebenfalls in ihrer Aktivitat beeinflusst werden (Dillinger, 2001, S. 79). Mit einer optimal hohen Aktivitat wird deshalb auf eine begunstigende Wirkung fur Infor- mationsverarbeitungsprozesse geschlossen (Weineck, 2010b, S. 642 f.). Dabei ist aber zu beachten, dass die Formatio reticularis auch eine ,,Dampfung zent- ralnervoser Strukturen" herbeifuhren kann (Weineck, 2010a, S. 777 f.) - also auch einen Beitrag zur zentralnervosen Ermudung leisten kann.

Wie oben bereits dargestellt, kommen zur Messung des AZAN die Elekt- roenzephalographie und die Flimmerverschmelzungsfrequenz zum Einsatz. Die Elektroenzephalographie ist nach Schumann (1996, S. 74) allgemein als ,,bio- elektrische FunktionsauRerung kortikaler und subkortikaler Hirnstrukturen" auf- zufassen, wohingegen mit der Flimmerverschmelzungsfrequenz speziell die Funktion der Formatio reticularis objektiviert wird (Olivier, Daugs, Zapf & Busch, 1989, S. 32 f.). Allerdings wird auch im EEG die elektrische Reizung der Formatio reticularis angezeigt (Kahle & Frotscher, 2009, S. 146).

Inwiefern zentrale Aktivierungsreaktionen auf muskulare Beanspruchung auch die Steuerung schnellster Bewegungen wie Sprints oder Tappings we- sentlich beeinflussen, muss dahingestellt bleiben, da ,,die Erkenntnisse zu den neurophysiologischen Grundlagen schneller Bewegungen [...] noch luckenhaft" sind (Thienes, 1998, S. 48). So kann, um nur ein Beispiel zu nennen, auch mit diesen Diagnoseverfahren nur spekuliert werden, ob hohe AZAN- Werte auch auf optimierende Effekte der wichtigen Kleinhirnfunktion schlieRen lassen. Ge- rade fur das Kleinhirn wird bei maximal schnellen, ballistischen Bewegungen eine herausragende Rolle angenommen, die sich vor allem in der Regulierung und Parametrisierung des Bewegungsentwurfs auRere (Schnabel & Panzer, 2011, S. 84; Thienes, 1999, S. 19; de Marees, 2003, S. 82; LuhnenschloR & Dierks, 2005, S. 19 f.). Nach Lehnertz (1986, S. 5) ist das Kleinhirn bei ballisti­schen Bewegungen bereits an der ,,Modellierung des Endprogramms", also schon an der Programmierung, beteiligt (vgl. auch Eccles, 1982, p. 434). Eine negative Wirkung hoher Vorbelastung sieht Lehnertz (1986, S. 7-10) dadurch gegeben, dass die Transmittersubstanz Gamma- Aminobuttersaure (GABA) insbesondere im Kleinhirn abnehme, was die biochemische Grundlage von Koordinationsstorungen bei zentraler Ermudung sei. Nichtsdestotrotz indizieren einige Untersuchungen Zusammenhange zwischen optimal hohem AZAN und hohen Leistungen des ZNS.

So untersuchte Busch (1991) die Entwicklung des AZAN fahrradergometri- scher Belastungen unterschiedlicher Intensitat (zwischen 75 und 100 % der HFmax) und Dauer (10 und 30 min). Dabei stellte er fest, dass die AZAN Werte der ausbelasteten Gruppe mit 10 min Belastungsdauer sowohl unmittelbar nach Belastungsabbruch als auch am Messzeitpunkt 10 min spater am hochsten wa- ren und deutlich uber der vor der Belastung gemessenen FVF- Baseline in Ru- he lagen (Busch, 1991 ,S.58 f.). Allerdings nahmen die absoluten AZAN- Werte im Vergleich der Messzeitpunkte unmittelbar nach Belastungsabbruch zu 10 min nach Belastungsabbruch ab. Es wird eine ,,Verbesserung von Informations- verarbeitungsprozessen beim motorischen Lernen" gefolgert (Busch, 1991, S. 59). ,,Kurzzeitige, maximale Beanspruchungsintensitaten des Herz-Kreislauf- Systems" bedingten demnach eine ,,erhohte Aktivitat [...] zentralnervoser Struk- turen" (Ebd.).

Die Untersuchung von Olivier und Busch (1992) bestatigt diese Erkenntnis- se. Die Untersuchungsgruppe, die 10 min mit 85 % ihrer HFmax belastet wurde und dann noch eine zweiminutige maximale Endspurtaufgabe absolvierte, zeig- te unmittelbar nach Belastungsabbruch signifikant hohere Werte der FVF im Vergleich zur Messung vor der Belastung. Ebenfalls analog zu Busch (1991) wies diese Gruppe auch noch 10 min nach der Belastung die hochsten Werte im Vergleich zu den anderen Gruppen auf, wobei zur unmittelbaren Nachbelas- tungsmessung leichte EinbuRen zu verzeichnen waren (Olivier & Busch, 1992, S. 118). Bei Belastungen mit einer Dauer bis zu 30 min wird hohen Belastungs- intensitaten die zentrale Rolle fur das Zustandekommen von hohen AZAN- Werten zugeschrieben (Busch, 1991, S. 59; Olivier & Busch, 1992, S. 119 f.).

Diese Untersuchungen sind deshalb fur vorliegendes Thema interessant, da auch die Belastungszeit beim Fahrradergometer- Stufentest von Richter (2009) etwa 10 min oder etwas langer dauerte und von der Intensitat her bis zur Aus- belastung fuhrte. So ahneln sich diese Vorbelastungsaktivitaten. Es ist also vor- stellbar, dass auch Richters (2009) Stufentest zentralnervose Aktivierungsreak- tionen evozierte, die damit eine weitere mogliche Erklarung der verbesserten Tappingparameter sein konnten.

Peripher manifestieren sich die zentralnervosen Aktivitatszunahmen vor al- lem in veranderter Muskelaktivitat. In EMG-Studien konnte eine erhohte Mus- kelaktivierung mit zunehmender Ermudung bei Langsprints uber 200 bis 400 m nachgewiesen werden (Ross, Leveritt & Riek, 2001, p. 420). Selbiges fanden Nummela, Rusko und Mero (1994, p. 608), die ihre Befunde im Sinne eines Kompensationsmechanismus interpretieren. Die Autoren vermuten, dass dieser sich in erhohten Entladungsfrequenzen der Motoneurone und/ oder der ver- starkten Rekrutierung motorischer Einheiten auRert, die den Aktivitatsanstieg im EMG verursachen. Diese sind notwendig, da die Reizschwelle mit zunehmen­der Ermudung progressiv ansteigt (Weineck, 2010, S. 778).

2.2.2. Periphere Beanspruchungsreaktionen

Da es sich beim 400-m-Lauf und der Fahrradergometrie bis zur Ausbelas- tung um hochst intensive Belastungen handelt, ist es naheliegend, nicht nur akut, sondern auch fur die Nachbelastungsphase negative Effekte anzuneh- men. Als solche werden klassischerweise hohe Laktatkonzentrationen, Uber- sauerung oder die Depletion der Energietrager ATP und KP angesehen.

Platonov (1999) soll hier stellvertretend fur ein metabolisch orientiertes Er- mudungsverstandnis genannt werden. Es gebe nach dem Autor ,,gegenwartig genugend Beweise dafur, daR die Entwicklung der Ermudung bei einer sportli- chen Tatigkeit von unterschiedlicher Dauer von der Erschopfung von Energie- quellen und der Anhaufung von metabolischen Zerfallsprodukten abhangt" (Platonov, 1999, S. 56). Diese pauschale Feststellung muss durch die neuesten Erkenntnisse der Ermudungsforschung mindestens relativiert, teilweise sogar revidiert werden.

Gegensatzlich zur generalisierenden Darstellung bei Platonov (1999) stellt bspw. Maassen (2004, S. 74) fest, ,,dass man von einem grundlegenden Ver- standnis der muskularen Ermudung weit entfernt ist“. Gleichzeitig folgert er aus der Aufarbeitung des Forschungsstandes, ,,dass die Rolle der Azidose wie die Bedeutung des Energiestoffwechsels lange Zeit uberschatzt wurden“ (Ebd.). Der Verfasser stellt in seinem Aufsatz mehrere Studien vor, in denen keine akut leistungslimitierenden Wirkungen von hohen Laktatkonzentrationen, niedrigen pH- Werten sowie von der Depletion der Phosphagene ATP und KP festgestellt werden konnten (Maassen, 2004, S. 68-73).

Eine negative Wirkung hoher Laktatwerte wurde schon von Martin et al. (1993) prinzipiell in Frage gestellt. Die Autoren wiesen darauf hin, dass Laktat, im Gegensatz zur vorherrschenden Meinung, nicht zur metabolischen Azidose fuhre, sondern ihr sogar, durch die Eliminierung von H+- lonen, entgegenwirke (Martin et al., 1993, S. 184 f.). Auch Wahl, Bloch und Mester (2009, S. 103) he- ben die ermudungskompensatorische Wirkung des Laktats durch die Fahigkeit der Pufferung von Protonen hervor. Zudem trage es zur Aufrechterhaltung des zellularen Membranpotentials bei und halte damit die Reizschwelle fur ein Akti- onspotenzial niedrig (Ebd.).

In der Vergangenheit wurde zudem die leistungsmindernde Wirkung niedri- ger pH-Werte in der Muskulatur hervorgehoben. Den aus dem Milchsaurezerfall entstehenden hohen Konzentrationen an H+- lonen, die die azidotischen pH- Werte verursachen, wird eine ,,Einschrankung der Kontraktionsfahigkeit der Muskelfasern" zugeschrieben (Hollmann & Struder, 2009, S. 434). Die Wieder- herstellung des Ruhe- Muskel- pH- Werts kann nach Platonov (1999, S. 55) 30­35 min in Anspruch nehmen. Mittlerweile stellt sich jedoch immer mehr heraus, dass auch fur diese verbreitete Lehrmeinung die Evidenz fehlt. Azidotische pH- Werte nehmen nur in vitro, aufgrund der hier niedrigeren Temperatur als sie im menschlichen Organismus herrscht, einen negativen Einfluss auf die Muskel- kontraktilitat. In vivo, also bei physiologischen Temperaturen um 35°C, bleiben Ermudungseffekte aus (Lattier, Millet, Martin & Martin, 2004, p. 450). Das be- trifft sowohl den kontraktilen Mechanismus als auch den Metabolismus (vermu- tete Verringerung der Glykolyserate) (Brenner & Maassen, 2010, S. 80; Wahl et al., 2009, S. 103).

Auch die Rolle der Depletion der Phosphagene ATP und KP an der Ermu- dungsentstehung wird zunehmend kritisch beurteilt (Maassen, 2004, S. 71 f.). Neben seiner Rolle als Energietrager wird aber auch auf die ,,Weichmacher- funktion" des ATP und seine Bedeutung fur die Auflosung des Querbruckenzyk- lus verwiesen (Thienes, 1999, S. 19). Aus einem verlangsamten Ablosungsvor- gang der Querbruckenbindung folgt notwendigerweise eine Verringerung der Kontraktionsfrequenz (Maassen, 2004, S. 68). Die grundlegende Wirksamkeit des vermehrten Abbaus der Phosphagene und ihrer Stoffwechselzwischen- und -endprodukte an der akuten Ermudungsentstehung soil an dieser Stelle nicht gezweifelt werden. So sehen bspw. Allen, Lamb und Westerblad (2008, p. 306) negative Einflusse auf die Muskelkontraktion durch den vermehrten Phosphat- abbau bedingt. Fur vorliegende Untersuchungen ist aber relevant, dass selbst ein negativer Effekt von niedrigen ATP- und KP- Konzentrationen 10 min nach Abbruch der Vorbelastungen keine Auswirkungen mehr haben durfte. Die Wie- derherstellung dieser Speicher wird von LuhnenschloR und Dierks (2005, S. 23) auf 1,5-3 min beziffert, Wolkov (1986, zit. n. Platonov 1999, S. 45) nennt 2-5 min. Diese Feststellung ist aber mit einer Einschrankung zu versehen. Es ist nicht bekannt, wie lange die ,Signalwirkung‘ bestimmter, nach den Vorbelastun­gen mit Sicherheit entstehender Metabolite (z.B. ADP, AMP usw.) auf andere Prozesse des kontraktilen Mechanismus (z.B. die Ca2+- Freisetzung), mit deren Beeinflussung sie verbunden werden, anhalt.

Man konnte fragen, was an gesicherten Erkenntnissen zur Ermudungsent­stehung uberhaupt bleibt. Wahl et al. (2009, S. 103) diskutieren ,,Storungen der Ca2+-Kanale, Limitierung der Transportleistung der Na+/K+-Pumpen (Storung der lonengradienten fur AP) und die Anhaufung von freiem Phosphat". Brenner und Maassen (2010, S. 82) sehen zudem negative Effekte freier Radikale aus dem Kohlenmonoxidstoffwechsel. Durch sie wurden ,,die kontraktilen Proteine beeinflusst" sowie die ,,Kalziumwiederaufnahme in das sarkoplasmatische Reti- kulum erschwert [...] und die Natrium-Kalium-Pumpe" gehemmt. Auch eine verminderte Freisetzung von Azetylcholin an der motorischen Endplatte wird diskutiert (de Marees, 2003, S. 658).

Gerade der Rolle erhohter extrazellularer Kaliumkonzentrationen wird in der Literatur weitgehend entsprochen (Ebd.; Maassen, 2004, S. 73; Boutellier, 2011, S. 872; Weineck, 2010, S. 775; Hollmann & Struder, 2009, S. 129). Der Kaliummangel entsteht aus einer erhohten Innervationsfrequenz des Muskels unter Ermudungsbedingungen, wodurch der lonengradient zwischen Natrium und Kalium an den Membranen der Sarkolemma und T-Tubuli gestort wird, d.h. weniger negativ wird (Hollmann & Struder, 2009, S. 129; Boutellier, 2011, S. 872). Daraus folgt eine Verringerung der Amplitude des AP an der motorischen Endplatte, es wird weniger Ca2+ in den synaptischen Spalt freigesetzt und da- durch weniger Kraft entwickelt (Brenner & Maassen, 2010, S. 82; Maassen, 2004, S. 73). Mit den hohen extrazellularen Kaliumkonzentrationen geht also eine verringerte Erregbarkeit der beanspruchten Muskulatur einher (Ebd.), wie sie oben bei Schneider et al. (1993) Oder Skof und Strojnik (2008) beschrieben wurde. Bei diesen Autoren wurde die ermudete Muskulatur elektrisch gereizt, der Impuls ging also nicht vom ZNS aus, was darauf hinweist, dass keine zent- rale Ermudung vorlag. Der Effekt des extrazellularen Kaliums auf die Muskel- kontraktilitat wird sowohl fur kurze, hochintensive Belastungen wie den 400 m Lauf als auch fur langere Belastungen diskutiert (Brenner & Maassen, 2010, S. 82).

Beim bei der ATP-Spaltung entstehenden freien Phosphat (Pi) wird wiede- rum eine negative Wirkung auf den kontraktilen Mechanismus vermutet (Allen et al, 2008, pp. 301-303). Brenner und Maassen (2010, S. 82) betonen wiede- rum, dass diese Wirkung unter physiologischen Bedingungen wohl ebenfalls nicht mehr bestehe. Dagegen wird vermutet, dass das Pi in das SR diffundiert, um dort ,,Komplexe mit den Kalzium" zu bilden, wodurch die Freisetzung des Kalziums reduziert werde - mit den bereits dargestellten negativen Wirkungen auf den Kraft-Output (Maassen, 2004, S. 72 f.; Brenner & Maassen, 2010, S. 82 f.).

Uber eine Einflussnahme des zentralen Nervensystems an der peripheren Ermudung herrscht kein Konsens. Wahl et al. (2009, S. 103) halten eine Ein­flussnahme des ZNS eher fur unwahrscheinlich. Maassen (2004, S. 74) hinge- gen stellt einen zentralen Ruckkopplungsmechanismus, ausgelost durch affe- rente Informationen uber erhohte interstitielle Kaliumwerte, zur Debatte. Einen von der Arbeitsmuskulatur ausgelosten Ruckkopplungsmechanismus vermutet auch Boutellier (2011, S. 872 f.): demnach werde ,,maximale Muskelaktivitat" durch eine von der afferenten Information ausgeloste ,,zentrale Blockade" ver- hindert (vgl. auch Pahlke & Peters, 1991, S. 7; de Marees, 2003, S. 659; Gros­ser & Renner, 2007, S. 31 f.). Letzten Endes muss man eine enge Verbunden- heit peripherer und zentraler Faktoren an der Ermudungsentstehung annehmen (Weineck, 2010a, S. 776).

Die kritische Darstellung der peripheren und zentralen Beanspruchungsre- aktionen soll die offensichtlich existierenden Phanomene der zentralen und pe­ripheren Ermudung nicht grundsatzlich anzweifeln. Auch wurden langst nicht al- le potentiellen Ermudungsfaktoren abgehandelt, mit der hormonellen Regulation oder den Einfluss freier Sauerstoffradikale (ROS) seien nur zwei von ihnen ge- nannt. Allerdings weiR man um die Funktionsmechanismen der Ermudung we- nig, sodass negative Folgen von Vorbelastungen haufig ohne Evidenz unter- stellt werden. Lediglich die Hyporeaktivitat an der neuromuskularen Endplatte wird von sehr vielen Autoren ubereinstimmend genannt. Schon Buhl (1983, S. 143 f.) merkte an, dass hier ein ganz wesentlicher Faktor der Ermudung zu er- blicken ist. Zwar nehmen die Reizfrequenzen vom ZNS bei zunehmender Er­mudung progressiv zu, aber durch die veranderte lonenzusammensetzung an der neuromuskularen Endplatte steigt auch die Reizschwelle so weit an, sodass die Kontraktion irgendwann eingestellt werden muss.

Es bestehen zudem erhebliche Erkenntnisdefizite zur Wiederherstellung nach der Ermudung. Das betrifft weniger die Restitution der verschiedenen Energiespeicher oder des pH-Werts, als vielmehr die Prozesse ab der Um- wandlung des elektrischen nervosen in ein chemisches Signal, uber die Weiter- leitung des AP’s bis schlussendlich zur Muskelkontraktion. Daher scheint es ge- rechtfertigt, eine trainingswissenschaftliche Lehrmeinung, wie die Forderung ei- nes Schnelligkeitstrainings in ausgeruhtem Zustand, auch fur komplexe Schnel- ligkeitsleistungen aufden Prufstand zu stellen.

Zum Abschluss dieses Kapitels soll noch ein wichtiger Faktor der periphe- ren Ermudung Berucksichtigung finden. Es ist ganz wesentlich zu erfassen, welchen Typus der Muskelfasern die Vorbelastung vornehmlich beansprucht. Die Rekrutierung von Muskelfasern geschieht in Abhangigkeit des Impulsstro- mes aus hoheren Zentren - die Muskelfasern mit der niedrigsten Reizschwelle kontrahieren zuerst (Hennemansches Rekrutierungsprinzip). Bei Belastungen mit einer Intensitat zwischen 60 und 80 % der V02max kommen vornehmlich die langsam kontrahierenden, oxydativen STF zum Einsatz, erst bei uber 90 % werden nahezu alle Einheiten rekrutiert (Lehnertz & Martin, 1986, S. 15). Wie bereits dargelegt, sind fur die Schaffung hochster zentralnervoser Aktivierungs- werte aber vor allem sehr hohe Belastungsintensitaten vonnoten (Busch, 1991; Oliver & Busch, 1992), die auch die FTF involvieren. Periphere Ermudungsreak- tionen, welche Mechanismen ihnen auch immer zugrunde liegen mogen, konn- ten sich daher auch auf die fur schnellste Bewegungen wichtigen FTF auswir- ken.

2.3. Effekte konditioneller Vorbelastung

Beanspruchungsreaktionen des Organismus auf Belastung und deren Wir- kung auf die Ausfuhrungsleistung von motorischen Fahigkeiten und Fertigkeiten war in den letzten Jahren Thema vieler wissenschaftlicher Publikationen, so- dass eine moglichst grundliche Aufarbeitung des Kenntnisstandes angestrebt wurde. Ausgewahlte Erkenntnisse zu Effekten unterschiedlicher Belastungsge- staltung auf die menschliche Motorik - mit Fokus auf den fur die Schnelligkeits- leistung relevanten Funktionssystemen - sollen kurz referiert werden. Einen Uberblick diesbezuglich liefert auch die Dissertation von Gold (2005, S. 167­176).

2.3.1. Sachstand zu Kraftvorbelastungen

Verschiedene Untersuchungen weisen positive Effekte von Kraft- Vorbelas- tungen auf Schnelligkeits- und Schnellkraftleistungen aus. Allmann (1985, S. 294-296) berichtet von kurzfristigen positiven Wirkungen vorgeschalteter Maxi- malkraftbelastungen der Beinstrecker auf die Sprintleistung. Gullich und Schmidtbleicher (1995) fanden positive Effekte isometrischer maximaler Kraft- Vorbelastung an der Beinpresse auf die Treibhohe beim Vertikalsprung. Sie er- klaren diese Effekte mit dem Mechanismus der posttetanischen Potenzierung (PtP) - in der internationalen Literatur meist mit post-activation potentiation (PAP) bezeichnet. Als biologischer Hintergrund der PtP wird u.a. eine erhohte Ca2+- Konzentration in den synaptischen Endigungen, erhohte Rekrutierung der FTF und die Erhohung des postsynaptischen Membranpotentials diskutiert. Des Weiteren wird eine verstarkte Phosphorylierung der leichten Myosinketten ins- besondere in den FTF angefuhrt, aus der eine erhohte Geschwindigkeit des kontraktilen Mechanismus folge (Gullich & Schmidtbleicher, 1995, S. 33 f.; Hodgson, Docherty & Roberts, 2005, S. 585-590). Die groRe Bedeutung der leichten Myosinketten fur den schnellen Kontraktionsvorgang betonen auch Martin et al. (1993, S. 160). So konnten die Beobachtungen von Allmann (1985) mit dem Mechanismus der posttetanischen Potenzierung erklart werden. Auch Chatzopoulos et al. (2007) registrierten 5 Minuten nach einer hohen Vorbelas­tung der Beinextensoren (10 Wdh. mit 90 % des 1RM) verbesserte Werte so- wohl uber 30 m als auch bei der 10 m Zwischenzeit.

[...]


[1] Naturlich ist die Einteilung in primar informationelle und energetische Funktionssysteme und Prozesse nur zur erleichterten Betrachtung vorgenommen worden. Grundlegend bilden Energie und Information immer eine Einheit und wirken zusammen. LuhnenschloB und Dierks (2005, S. 36) formulieren pointiert: „Die bewegungssteuerenden Funktionen veranlassen Energieprozes- se, die fur die schnelle Bewegung unumganglich sind".

Ende der Leseprobe aus 80 Seiten

Details

Titel
Zum Zusammenhang von elementarer und komplexer Schnelligkeit bei zyklischen Laufbewegungen unter besonderem Aspekt energetischer Ermüdung
Hochschule
Universität Leipzig
Autor
Jahr
2011
Seiten
80
Katalognummer
V208203
ISBN (eBook)
9783656356073
ISBN (Buch)
9783656357629
Dateigröße
2562 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
zusammenhang, schnelligkeit, laufbewegungen, aspekt, ermüdung
Arbeit zitieren
Nico Lehmann (Autor:in), 2011, Zum Zusammenhang von elementarer und komplexer Schnelligkeit bei zyklischen Laufbewegungen unter besonderem Aspekt energetischer Ermüdung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/208203

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