Bewegung und Sprache. Psychomotorische Förderansätze bei Sprachentwicklungsstörungen


Examensarbeit, 2003

92 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Problemstellung
1.2 Ziel der Arbeit
1.3 Methodisches Vorgehen

2. Die Entwicklung der kindlichen Sprache
2.1 Der Entwicklungsbereich der Wahrnehmung
2.2 Voraussetzungen / Bedingungen für den ungehinderten Spracherwerb
2.3 Bestimmende Faktoren - familiäre Umwelt mit Interaktions- und Sozialisationsprozessen
2.4 Ebenen des Spracherwerbs
2.4.1 Die pragmatisch-kommunikative Ebene
2.4.2 Die phonetisch-phonologische Ebene
2.4.3 Die semantisch-lexikalische Ebene
2.4.4 Die syntaktisch-morphologische Ebene
2.4.5 Die Entwicklung des Sprachverständnisses
2.4.6 Die Entwicklung des Redeflusses
2.4.7 Die Entwicklung des Sprachgefühls
2.5 Zum zeitlichen Verlauf von Sprachentwicklungsprozessen
2.6 Zusammenfassung

3. Das Komplexe System der Sprache - entwicklungs- psychologische Begründungen im Zusammenhang von Bewegung, Wahrnehmung und Sprache
3.1 Entwicklungstheoretische Vorstellungen Jean PIAGETs
3.2 Der interaktionistische Spracherwerbsansatz von Jerome BRUNER
3.3 Zusammenfassung

4. Störungen der Sprachentwicklung
4.1 Der Begriff der Sprachentwicklungsstörung
4.2 Ausgewählte Erscheinungsformen
4.2.1 Störungen auf der phonetisch-phonologischen Ebene
4.2.2 Störungen auf der semantisch-lexikalischen Ebene
4.2.3 Störungen auf der syntaktisch-morphologischen Ebene
4.3 Zusammenfassung

5. Zur Theorie der sonderpädagogischen Psychomotorik
5.1 Bergriffsbestimmung allgemein
5.2 Psychomotorische Handlung als Aktivität der ganzen Person - das Selbstkonzept
5.3 Das Verständnis aus Sicht der Sprachheilpädagogik

6. Ansätze psychomotorisch orientierter Sprachförderung
6.1 Ingrid OLBRICH - Die Integrierte Sprach- und Bewegungstherapie (ISBT)
6.2 Renate ECKERT - Die Integrierte Entwicklungs- und Kommunikationsförderung (IEK)
6.3 Barbara KLEINERT-MOLITOR - Die Psychomotorisch orientierte Sprachentwicklungsförderung
6.3.1 Wahrnehmungs- und Bewegungshandeln mit Sprachbegleitung
6.3.2 Begegnung von Sprach- und Bewegungshandeln
6.3.3 Sprachhandeln mit Bewegungsbegleitung
6.4 Birgit LÜTJE-KLOSE - Eine kind- und umfeldbezogene Förderdiagnostik
6.5 Zusammenfassung

7. Effektivität und Auswirkungen der psychomotorischen Förderung von sprachentwicklungsgestörten Kindern

8. Resümee

9. Danksagungen

10. Literatur

11. Anhang

1. Einleitung

Die Fähigkeit, Sprache zu erwerben und Sprache zu gebrauchen, ist im Menschen angelegt. Der Erwerb der Sprache selbst ist ein Lern- und Entwicklungsprozess, der einerseits die Sprachfähigkeit als Anlage voraussetzt, andererseits aber weitgehend von der Umwelt des Kindes abhängig ist, d.h. sich nur in einer sprechenden Umgebung vollziehen kann. Sprechen lernen ist nicht die Leistung eines Kindes allein, sondern die Eltern haben einen ebenso wichtigen Anteil wie das Kind selbst. Sprache erlernt das Kind sicher auch über das Hören und Nachahmen von Sprachvorbildern, über Übung und Wiederholung. Nach KLEINERT- MOLITOR bedarf es aber zuerst vielfältiger und ausgewählter kommunikativer (Spiel-)Handlungsangebote, die aus sich heraus auf Versprachlichung drängen und in denen Sprache beobachtbar wird (vgl. dies. 1988, S.112). Die Sprache entwickelt sich langsam und in einer bestimmten Abfolge. Das Kind muss bestimmte Entwicklungsprozesse durchlaufen, um über die Fähigkeiten zu verfügen, Sprache erwerben und anwenden zu können. Fehlen die sprachlichen Anregungen und sozialen Kontakte zwischen Eltern und Kind, so kann es zu Störungen der Sprache kommen (vgl. SCHINDLER, dgs e.V. / Internet). Das heißt nicht, dass allein die Eltern für spezifische Sprachentwicklungsstörungen ihrer Kinder verantwortlich sind. Ganz sicherlich ist die Sprachentwicklungsstörung multikausal bedingt.

Sprachentwicklungsstörungen treten in ihrer Bedeutung neben anderen im Kleinkindalter auftretenden Beeinträchtigungen häufig in den Hintergrund und finden deshalb nicht die notwendige Beachtung. Sie sind nicht als isolierte, einseitige Störungen zu sehen. Die individuelle Sprachentwicklung ist, wie erwähnt, vielmehr ein Produkt der Auseinandersetzung des Kindes mit den Menschen und Gegenständen seiner Lebenswelt und damit ein Teil seiner gesamten Persönlichkeitsentwicklung. Sprachentwicklungsstörungen sind demnach komplexe Beeinträchtigungen, auf die die Umwelt wesentlichen Einfluss hat und die in einem Wechselverhältnis zu anderen Dimensionen der Persönlichkeitsentwicklung stehen. Hierzu gehören: Wahrnehmung, Motorik, Kognition, Emotion und Soziabilität.

1.1 Problemstellung

Ich möchte mich mit dieser Komplexität von Sprachentwicklungsstörungen befassen und gehe davon aus, dass besonders der Bereich der Bewegung eine bedeutende Rolle in der Sprachentwicklung spielt. Das ergibt sich aus dem Wissen, dass motorische Prozesse ganz allgemein eine Βedeutung für die Entwicklung des Kindes haben. Darüber hinaus bestehen zwischen motorischer und sprachlicher Entwicklung «irgendwie» geartete Beziehungen, die sich notwendig im Beziehungsgefüge von Sprachstörungen niederschlagen müssen - und das wird, nach Aussage der Autoren BAHR und NONDORF ebenfalls nicht bestritten. Sie führen in diesem Zusammenhang das ´mehrdimensionale Entwicklungsmodell` von GROHNFELDT an (vgl. ders. 1993, S.20), die von HOMBURG dargestellten ´Verflechtungsverhältnisse sprachbehindertenpädagogischer Phänomene` (vgl. ders. 1978, zit.n. BAHR & NONDORF 1985, S.97) und das ´Integrationsmodell zur Erziehung` von ORTHMANN (vgl. dies. 1977, ebd. S.98). Daraus ergibt sich eine große Anziehungskraft psychomotorischer Förderansätze auf die Sprachheilpädagogik. Deshalb soll es in meiner Arbeit um die Frage gehen:

Mit welchen Inhalten und Zielen wird, unter dem Aspekt der Ganzheitlichkeit, in den Ansätzen psychomotorischer Sprachförderung vorgegangen? Daraus entwickelt sich wiederum die Frage, inwiefern gibt es Gemeinsamkeiten und Unterschiede hinsichtlich der Arbeit mit sprachentwicklungsgestörten Kindern und welche Schlussfolgerungen lassen sich aus Forschungsergebnissen zur Effektivität ziehen?

1.2 Ziel der Arbeit

Die Psychomotorik, ein pädagogisch-therapeutisches Konzept mit dem Anspruch auf eine ganzheitliche Förderung über Bewegung, hat in den letzten Jahren verstärkt Eingang in die Förderung von Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen gefunden. Dies zeigen viele Erfahrungsbereichte und Untersuchungen (z.B. ECKERT 1985, EGGERT u.a. 1990, KLEINERT-MOLITOR 1988, KRÄMER-KILIC & LÜTJEKLOSE 1998, OLBRICH 1987). In der Psychomotorik wird mit der hohen Motivation gearbeitet, die Bewegungs- und Spielsituationen für Kinder haben können. Für Kinder mit retardierter Sprachentwicklung will sie ein entwicklungsförderndes Potential bieten und die Eigenaktivität des Kindes anregen. Das wird im folgenden Zitat ausgedrückt: „Jedes Kind hat in sich die Fähigkeit, seine eigene Entwicklung durch eigene Aktivitäten zu vollziehen.“

Im Rahmen der Praxis der Psychomotorik findet sich ein sehr optimistischer Anspruch einer ganzheitlichen Förderung der Gesamtpersönlichkeit mit besonderen Auswirkungen auf die Sprachentwicklung. Das Ziel der Arbeit ist es, die Bedeutung der Psychomotorik als ganzheitliches Konzept zur Förderung von Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen aufzuzeigen. Hierbei wird dem ganzheitlichen Zusammenwirken des Denkens, des Fühlens und des Erlebens im Bezug auf das Sprechen in der Bewegungsförderung besonderer Stellenwert eingeräumt. Es wird darauf geachtet, dass psychomotorische Förderung als pädagogisch-therapeutischer Weg die Sprachheilarbeit lediglich flankieren und unterstützen kann, niemals aber ersetzen.

Den motivationalen Anstoß zur Beschäftigung mit dem Thema psychomotorischer Förderansätze bei Sprachentwicklungsstörungen gab ein Buch von R. ZIMMER. Es handelt sich um das „Handbuch der Psychomotorik, Theorie und Praxis der psychomotorischen Förderung“. ZIMMER war mir zu diesem Zeitpunkt schon ein Begriff, da Sport mein Wahlfach ist und sie viele Bücher und Artikel in dem Bereich der Bewegungs- und Wahrnehmungsförderung bei Kindern sowie über den

Ansatz der Psychomotorik veröffentlicht hat. Ich konnte mich von Anfang an mit den Inhalten identifizieren und fand es spannend zu erfahren, in welchen Bereichen psychomotorisch gearbeitet wird. Ich studiere in Marburg Sprachheilpädagogik als dritte Fachrichtung und wollte in meiner Arbeit beide Bereiche, Bewegung und Sprache, miteinander verbinden.

1.3 Methodisches Vorgehen

Bei meiner Arbeit handelt es sich um eine Literaturstudie.

Ich gebe zunächst einen sehr allgemein gehaltenen Überblick über die Entwicklung der kindlichen Sprache.

Dieser Teil umfaßt den Entwicklungsbereich der Wahrnehmung, Voraussetzungen bzw. Bedingungen sowie bestimmende Faktoren der Sprachentwicklung. Die vier Sprachebenen und der zeitliche Verlauf des „normalen“ Erwerbs schließen sich daran an. Im nächsten Abschnitt befasse ich mich mit den entwicklungspsychologischen und interaktionistischen Zusammenhängen, die für den einzelnen Menschen zwischen den verschiedenen Entwicklungsdimensionen - insbesondere zwischen Bewegung und Sprache - bestehen. Hier beziehe ich mich auf PIAGET und BRUNER. Ich gehe auf ausgewählte Störungen der Sprachentwicklung ein, gebe Begriffsbeschreibungen und schildere Erscheinungsformen auf den verschiedenen Ebenen. Weiterhin widme ich mich der Theorie der sonderpädagogischen Psychomotorik im Allgemeinen und aus sprachbehindertenpädagogischer Sicht. Ich werde aufzeigen, wie die Entwicklungsbedingungen für Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen gestaltet werden können und welche Rolle die Psychomotorik dabei spielen kann. Dies veranschauliche ich ausführlich an Ansätzen psychomotorisch orientierter Sprachförderung, beschreibe Grundlagen, Prinzipien, methodische Strategien und Ziele. Vergleichend stelle ich Gemeinsamkeiten und Unterschiede dar. Zum Schluss gehe ich auf die bisher bekannten Auswirkungen dieser Ansätze ein und setze sie in Beziehung zu den, von den Autoren formulierten Erwartungen und Zielsetzungen.

Bleibt noch zu erwähnen, dass im Folgenden auf eine geschlechter- spezifische Schreibweise verzichtet wird. Des weiteren unterscheide ich nicht zwischen Pädagoge und Therapeut. Je nachdem wie es in der Literatur vorgegeben wird und worauf der Schwerpunkt des jeweiligen Förderansatzes liegt, verwende ich die eine oder die andere Bezeichnung. Sie stehen ausschließlich für die Person, welche die Förderung leitet.

2. Die Entwicklung der kindlichen Sprache

„Um (Sprache) zu lernen, genügt es nicht, einfach das Material zur Verfügung zu haben [...]. Wir müssen entdecken, was notwendig ist, um das System zum Funktionieren zu bringen.“

NOAM CHOMSKY

2.1 Der Entwicklungsbereich der Wahrnehmung

Nach den Untersuchungen PIAGETs entwickelt sich die Sprache und mit ihr die begriffliche Intelligenz aus der sensomotorischen, also der vorsprachlichen Intelligenz (vgl. PIAGET & INHELDER 1996, S.15 ff.). Die Entwicklung der Sprache beruht auf der Ausbildung von Wahrnehmung und Motorik. Voraussetzung für den Spracherwerb ist, dass die sensomotorischen Fähigkeiten ein gewisses Entwicklungsniveau erreicht haben. Leistungen, die entwicklungsmäßig einer höheren Stufe entsprechen, erscheinen erst dann, wenn genügend Leistungen vorhanden sind, die entwicklungsmäßig einer tieferen Stufe entsprechen. Das bedeutet, dass ein direkter hierarchischer Zusammenhang zwischen einzelnen Entwicklungsstufen besteht. Eine komplexere Leistung wird erst dann beobachtbar, wenn das Kind ein gewisses Ausmaß an einfacheren Leistungen erworben hat. Wahrnehmungsleistungen beginnen sich bereits auf einer früheren Stufe zu entwickeln als die Sprache. Daraus kann gefolgert werden, dass angemessene Wahrnehmung die Voraussetzung für die Sprachentwicklung ist. Auch SZAGUN hat den Zusammenhang von Sensomotorik und ersten sprachlichen Bedeutungen in der kindlichen Entwicklung untersucht und kommt zu der abschließenden Bewertung, dass eine recht gute Korrespondenz zwischen sensorischen Vorstellungen und sprachlichen Bedeutungen festgestellt werden kann. „Im Sinne einer genetischen Erklärungsweise kann man sagen, dass die Haupterrungenschaften der sensomotorischen Intelligenz eine Vorbedingung der sprachlichen Bedeutungen sind“ (SZAGUN 1996, S.92). „Wahrnehmungsschwierigkeiten bei sprachgestörten Kindern sind daher grundlegender als die Sprachstörungen selbst. Fortschritte sprachgestörter Kinder im Verlauf einer Therapie betreffen daher zuerst vorsprachliche, sensomotorische Leistungen“ (WIRTH 2000, S.129).

Mit zunehmendem Lebensalter und Entwicklungsniveau verliert die Wahrnehmung im Gesamtkontext der Entwicklungsbereiche an Bedeutung. Ihre Dominanz zeigt sich jedoch in Konfliktsituationen. „Widersprechen sich Informationen verschiedener Sinneskanäle, wird immer der visuellen Wahrnehmung gefolgt“ (PIEPER 1979, S.41).

Die Begriffe „ Sensomotorik “ und „ Psychomotorik “ sind Ausdruck dieser Auffassung, dass Wahrnehmung und Bewegung als Einheit zu verstehen sind, die sich mit den jeweiligen Umweltbedingungen ändern. Doch dazu in folgenden Kapiteln mehr.

2.2 Voraussetzungen / Bedingungen für den ungehinderten Spracherwerb

Sprache kann nicht isoliert betrachtet werden, da sie in einem komplizierten Beziehungsgefüge zu anderen Entwicklungsdimensionen steht, d.h. die Entwicklung der Sprache verläuft nicht getrennt von der Entwicklung anderer Fähigkeits- und Leistungsbereiche. Ebenso reagiert sie auf vielfältige positive und negative Umwelteinflüsse und -angebote. Damit Sprache sich entwickeln kann, müssen unter anderem organische Voraussetzungen gegeben sein. Dazu gehören ein funktionsfähiges Gehirn mit intakten Nervenbahnen und die beiden Gehirnzentren Broca- (Sprachmotorik) und Wernicke-(sensorisches Sprachzentrum zur Entschlüsselung empfangener Symbole). Außerdem sind für den ungestörten Spracherwerb ein Atmungs-, Stimm- und Lautbildungsapparat sowie ein intaktes Gehör unerlässlich.

Eine weitere Bedingung für den Spracherwerb wird durch eine altersgemäße motorische Entwicklung gegeben. Die Kontrolle über Bewegungen der Körperteile, die für das Sprechen zuständig sind, ist, neben einer exakten Sinneswahrnehmung der von außen auf das Kind einströmenden Reize (Gehörtes, Gesehenes), aber auch solcher Sinnesreize (z.B. „Spüren“), die Information über die Lage einzelner Körperteile geben, ausschlaggebend. Sie gelingen nur durch Inanspruchnahme gut funktionierender sensomotorischer Systeme, das heißt bei entwickelter Integrationsfähigkeit des Gehirns (vgl. Brand 1988, S.97).

Das Kind benötigt eine gute Figur-Grund-Wahrnehmung, vor allem im auditiven Bereich. Diese Wahrnehmungsfähigkeit entwickelt sich durch die Bewegung bereits in sehr frühem Alter. Aus den bisher genannten Vorbedingungen für den Spracherwerb, die nur einige von vielen sind, wird deutlich, wie eng und grundlegend die Verbindungen zwischen Bewegung und Sprache sind.

Weiterhin spielen psychische Fähigkeiten, die für die Verarbeitung von Informationen zuständig oder Voraussetzung für Konzentration oder Aufmerksamkeit sind, eine wichtige Rolle.

Die soziale Atmosphäre, in der das Kind sprachliche Anregungen erhält und sich angenommen fühlt, ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung, weshalb sich das folgende Kapitel hauptsächlich daran orientiert.

2.3 Bestimmende Faktoren - familiäre Umwelt mit

Interaktions- und Sozialisationsprozessen

Der kindliche Spracherwerb erfolgt im Rahmen des vorschulischen Sozialisationsprozesses, bei dem neben sprachlichen Regeln auch nonverbale und emotionale Ausdrucksmöglichkeiten als situativ angemessene Kommunikationsmuster erlernt werden. Dieser Prozess der stufenweisen Integration in die Sprachgemeinschaft vollzieht sich zunächst innerhalb der unmittelbaren familiären Umwelt. Nach und nach erweitert sich diese unter Hinzunahme des erweiterten sozialen Umfeldes. Dabei tritt eine Vielzahl an intervenierenden Variablen auf.

Im Rahmen dieses Sozialisationsprozesses erweist sich die Familie als wesentlicher Faktor bei der Vermittlung von grundlegenden sprachlichen und sozialen Verhaltensformen. Durch das wechselseitige Agieren des Kindes mit seiner Bezugsperson entwickeln sich spezifische Kommunikationsstrukturen, die zur Basis für differenzierte Strategien der Realitätserschließung werden.

Von großer Bedeutung für die spätere soziale, emotionale und sprachliche Entwicklung, ist der bereits unmittelbar nach der Geburt sich wechselseitig bedingende Dialog bzw. die frühkindliche Interaktion zwischen Mutter (Vater) und Neugeborenem (Mutter-Kind-/Vater-Kind- Dyade). „Bereits in den ersten Lebensmonaten ist die Kontaktaufnahme durch eine wechselseitige Beeinflussung und eine kreisförmige Gegenseitigkeit gekennzeichnet, die aufeinander abgestimmt erscheint. Charakteristisch für den Ablauf ist ein Aktivitätszyklus, bei dem sich das Kind verbal oder nonverbal äußert und die Mutter kommentierend darauf eingeht“ (JOCHENS 1979, zit.n. GROHNFELDT 1993, S.29).

Insgesamt bedient sich die Mutter bzw. bedienen sich die unmittelbaren Bezugspersonen im Umgang mit dem Kind vereinfachter Sprachmuster. Unbewusst wird dabei langsamer und mit deutlicher Artikulation gesprochen. Es werden kürzere und syntaktisch einfachere Sätze bei veränderter Wortwahl und Stimmlage verwendet.

Während dieser ganzen Entwicklungsphase ist der Aufbau von Urvertrauen ein zentraler Aspekt. Die Bezugsperson muss für das Kind unmittelbar verfügbar sein und ihre Reaktion muss als konstant und einheitlich erlebt werden. Ansonsten kann das Kind aus Gründen von Trennungsangst in seiner emotionalen, kognitiven und sprachlichen Entwicklung stagnieren. Diese Angst kann durch die Fähigkeit der Mutter vermieden werden, das sich lösende Kind jederzeit in die vertraute Geborgenheit aufzunehmen. Die das selbständige Wachstum des Kindes gestattende, als beglückend und einfühlsam erlebte Dyade des Kindes mit seiner Bezugsperson vermittelt damit die Sicherheit, die zur Voraussetzung für notwendige Ablösungsprozesse in der weiteren Entwicklung wird.

Hier stellt sich die Frage, inwieweit prinzipiell ein Zusammenhang zwischen bestimmten Familienstrukturen und dem Auftreten von Sprachentwicklungsstörungen bestehen könnte.

Dies ist jedoch nur eine, für mich allerdings bedeutende Facette im komplizierten Beziehungsgefüge Sprache.

Im Verlauf der Arbeit wird der Aspekt der Interaktion u.a. bei BRUNER, aber auch im Zusammenhang mit den Prinzipien der Integrierten Sprach und Bewegungstherapie von OLBRICH nochmals aufgegriffen.

2.4 Ebenen der Sprachentwicklung

Der ganzheitlich ablaufende Vorgang des Erlernens der kindlichen Sprache wird im allgemeinen in vier verschiedene Sprachebenen unterteilt, die als aufeinander bezogene Teilbereiche bei der Entwicklung komplexer Strukturen unterschieden werden.

Die im folgenden angesprochenen Bereiche des Spracherwerbs vollziehen sich als integrativ und strukturell miteinander verbundene Prozesse, die zeitlich synchron ablaufen. Es bilden sich gegenseitige Bedingungsgefüge und aufeinander aufbauende Verbindungen, aus denen die einzelnen Teilbereiche sich lediglich schwerpunktmäßig absetzen lassen. Auf allen vier Sprachebenen geht das Sprachverständnis der Sprachproduktion voraus.

Lange bevor das Kind ein Gespräch führen kann, werden ihm grundlegende Anreize dazu vermittelt.

2.4.1 Die pragmatisch-kommunikative Ebene

Die pragmatisch-kommunikative Ebene ist den anderen Sprachebenen übergeordnet. Sie verweist darauf, dass das Kind nicht nur Sprache im Sinne eines Zeichen- und Regelsystems erlernt, sondern letztlich die Fähigkeit zu einer situationsadäquaten Kommunikation erwirbt.

Das „ Sich-Mitteilen “ und „ Sich-Austauschen “ mit anderen Personen und später das Erzählen von Erlebtem geschieht von Beginn an in altersgemäßer Weise. Dieser Bereich des Spracherwerbs umfasst die gesamte Anwendung der sprachlichen und nicht-sprachlichen Kenntnisse (Mimik und Gestik).

Nach GRIMM können drei Teilbereiche unterschieden werden. Es handelt sich um die Sprechhandlungen, die als sozial akzeptierte Kommunikationsformen ausgeführt werden, um zu bitten, zu befehlen und zu versprechen. Weiterhin gibt es Konversationshandlungen. Sie beinhalten gesprächssteuernde Prinzipien, wie beispielsweise das Wissen, wann man einen Faden aufgreifen kann oder wann man zu schweigen hat. Drittens geht es um den Diskurs, der das Wissen umfasst, wie man eine Geschichte erzählt, in welcher Weise neue Informationen gegenüber alten hervorgehoben werden oder auch, wann der Gebrauch des definierten gegenüber dem infiniten Artikels angebracht ist (vgl. GRIMM 1999, S.17).

2.4.2 Die phonetisch-phonologische Ebene

Die phonetisch-phonologische Ebene bezieht sich auf die Lautdiskrimination und Lautbildung. Es handelt sich um die Vorgänge beim Sprechen, die Organisation und Funktion der Laute im Sprachsystem. Die Reihenfolge der Lautbeherrschung richtet sich nach dem Schwierigkeitsgrad der einzelnen Laute. „Eingeleitet wird die Lautentwicklung durch den Vokal /a/ und als größter möglicher Gegensatz dazu die Konsonanten /p/ und /m/, so dass Lautfolgen wie «Papa» und «Mama» als erste Wörter durchaus folgerichtig erscheinen“ (GROHNFELDT 1993, S.40).

Breiten Vokalen, wie dem /a/, werden enge Vokale, wie das /i/, entgegengesetzt. Nach GROHNFELDT folgen weitere Fundierungsgesetze, die ich nicht näher ausführen möchte, da sich weitere Details daran anschließen und sich so dieser Teil der Arbeit zu ausführlich gestalten würde.

Es gilt festzuhalten, dass die Reihenfolge der lautlichen Erwerbungen als stabil angesehen wird, während der zeitliche Verlauf bei jedem Kind unbeständig und individuell verläuft (vgl. ebd.).

2.4.3 Die semantisch-lexikalische Ebene

Die semantisch-lexikalische Ebene bezieht sich auf die Begriffsbildung sowie den passiven und aktiven Wortschatz und dessen Bedeutung. Im konkreten Situationskontext erfolgt eine Zuordnung zwischen Gegenständen und den betreffenden Bezeichnungen. Der Prozess der Begriffsbildung erfolgt auf der Grundlage der Kategorisierung, Differenzierung und Transformation. „Die Entwicklung der semantischen Strukturen ist dabei durch einen zunehmenden Differenzierungsprozess gekennzeichnet, bei dem zwei entgegengesetzte Kräfte wirksam werden - Bedeutungserweiterung und Bedeutungsverengung“ (GROHNFELDT 1993, S.44).

2.4.4 Die syntaktisch-morphologische Ebene

Wörter werden nicht isoliert in ihrer lexikalischen Bedeutung, sondern im morphosyntaktischen Bezug verwendet. Die Ebene von Syntax und Morphologie bezieht sich auf das Verständnis und den Gebrauch grammatischer Regeln. Übereinstimmend findet sich in der Literatur die Annahme, dass das Kind nicht einfach Wörter lernt, sondern Regeln, die es aus der Erwachsenensprache extrahiert, die es ihm durch Transformation erlauben, eigenständige und dabei grammatisch richtige Sätze zu erzeugen (vgl. WIRTH 2000, S.154 / S.193 und GROHNFELDT 1993, S.46).

Im Laufe seiner Sprachentwicklung hat das Kind ein komplexes Regelsystem zu durchschauen. Es lernt, dass Sätze einen hierarchischen Aufbau haben und diese durch Anwendung von abstrakten Regeln generiert werden. Nach CHOMSKY gibt es noch eine wichtige Eigenschaft von Sprache, die dem Kind nach und nach ins Bewusstsein tritt. Es ist die Tatsache, dass Sprache eine Oberflächen- und Tiefenstruktur hat (vgl. CHOMSKY 1957, 1965, zit.n. SZAGUN 1996, S.11). „Die Tiefenstruktur steht der Bedeutung des Satzes näher als die Oberflächenstruktur“ (SZAGUN 1996, S.13). Sie enthält die wesentlichen Elemente für die Bedeutung, während die Oberflächenstruktur die Form des Satzes ausmacht.

Durch den Erwerb des grammatischen Regelsystems unserer Sprache erfährt das Kind, dass Sprache kreativ ist. Es kann beliebig viele neue Sätze produzieren und verstehen (vgl. ebd.).

2.4.5 Die Entwicklung des Sprachverständnisses

Das Verstehen von Sprache entwickelt sich im selben Rahmen wie die anderen sprachlichen Bereiche auch. Zeitlich geht es der Fähigkeit, Sprache anzuwenden voraus, d.h. das Kind versteht uns, bevor es sich selbst äußern kann. Lange Zeit ist dieses Verständnis jedoch eng an die jeweilige Situation gebunden. Ein echtes Sprachverständnis entwickelt sich schrittweise, bis es sich von der konkreten Situation löst (vgl. SCHINDLER, dgs e.V. / Internet).

2.4.6 Die Entwicklung des Redeflusses

Die Planung und Ausführung von mündlichen Äußerungen stellen eine hohe Anforderung an das Kind dar. So verwundert es nicht, dass damit häufig Satzabbrüche, Umformulierungen, Wortwiederholungen und kleine Denkpausen einhergehen. Sie bewirken, dass das Sprechen des Kindes unflüssig klingt. Außerdem muss sich die Feinabstimmung der Muskelbewegungen (wie in Kapitel 2.2 beschrieben), die für das Reden notwendig sind, erst entwickeln und reifen. Dies ist eng verbunden mit den schon geschilderten sprachlichen Entwicklungsbereichen und solchen, die für die Bewegungskontrolle zuständig sind. Für mich findet sich an dieser Stelle ein weiterer Hinweis darauf, dass Sprache und Bewegung eng miteinander verbunden sind, auch wenn es hier in erster Linie um die Mundmotorik geht. Insgesamt bedarf es einem längeren Entwicklungsprozess, um flüssig reden zu können.

2.4.7 Die Entwicklung des Sprachgefühls

Nicht zuletzt lernt das Kind während seiner kompletten Sprachentwicklung quasi „nebenbei“ etwas, was nichts mit den einzelnen Lauten, Wörtern oder grammatischen Strukturen zu tun hat, aber dennoch die Verständlichkeit unserer Lautsprache beeinflusst. Es lernt, dass unsere Sprache auch einem Sprechrhythmus bzw. einer Prosodie (Sprechmelodie) unterliegt, dass Betonungen, Pausen, Tonhöhen und -tiefen einen großen, bedeutenden Teil ausmachen und dass diese Merkmale unsere Sprache erst lebendig machen.

2.5 Zum zeitlichen Verlauf von Sprachentwicklungs- prozessen

Die Sprachentwicklung verläuft von Kind zu Kind unterschiedlich. Wie bei der allgemeinen Entwicklung, so zeigen sich auch beim Spracherwerb individuelle Unterschiede im Entwicklungstempo, in der Art und Anzahl der ersten Wörter oder in der Häufigkeit des Sprechens.

Zu beachten ist, dass die nachfolgend angeführten Entwicklungsschritte und Zeitangaben nur als Orientierung dienen, da die Entwicklung des Kindes von den unterschiedlichsten Faktoren abhängt und große individuelle Unterschiede zu verzeichnen sind.

Es sind letztlich Verallgemeinerungen und Erfahrungswerte, die als grober Durchschnitt für den europäischen Kulturkreis begrenzte Aussagekraft erhalten (vgl. GROHNFELDT 1993, S.52).

Ich beginne nach der Geburt des Kindes (postnatal) mit der Beschreibung des zeitlichen Verlaufs von Sprachentwicklung. Ich werde mich auf die wichtigsten Phasen beschränken und diese kurz beschreiben, da der Fokus meiner Arbeit nicht in diesem Bereich liegt.

Die ersten verbalen Äußerungen des Säuglings dienen der Kundgabe seines Allgemeinbefindens (Wohlbefinden oder Unbehagen). Sie zeigen sich zu Beginn hauptsächlich im Schreien.

Nach KUSSMAUL beginnt die erste Lallperiode, das instinktive Lallen, ab dem 2. Monat und dauert bis zum 6. Monat. Es handelt sich um ein triebmäßiges Lallen von spielerisch angewandten und spontan auftretenden Lauten (vgl. WIRTH 2000, S.135). Ab dem 8. Monat vollzieht sich, laut GRIMM, das „Wortverständnis“ (vgl. dies. 1999, S.31).

Die zweite Lallperiode, die als absichtliche Lautnachahmung bezeichnet wird, findet ohne direkt erkennbaren Übergang im Anschluss daran statt und hält in etwa bis zum 12. Monat an. Hierbei handelt es sich um zufällig entstandene Urlaute, die auf das typische Lautsystem der Muttersprache reduziert werden. In dieser Phase benötigt die Sprachentwicklung eine intensive sensorische Aktivierung. Dies geschieht, indem Lautwahrnehmung und Lautbildung einander fördern (vgl. WIRTH 2000, S.137).

Anschließend folgt die Wortproduktion. Sie äußert sich in der Einwortphase (1;0-1;8 Jahren). Das Kind erkennt, dass es durch spezifische Lautgebilde und spezielle Sachverhalte eine Einheit bilden und mit einem Wort seinen Wunsch äußern kann. Es gibt eine Entwicklung vom Gebrauch nur eines Wortes zum Gebrauch aufeinanderfolgender Einwortäußerungen bis hin zu „Wortexplosion“ (vgl. GRIMM 1999, S.31). Dies ist der entscheidende Anstoß zur grundsätzlichen Bedeutungserfassung der Sprache.

Die Zweiwortphase bewegt sich im Zeitraum zwischen dem 20. und dem 24. Monat. Das Kind entdeckt, dass Wörter etwas bewirken. Die repräsentative und kommunikative Bedeutung der Sprache dringen in sein Bewusstsein; es produziert Elemente einer syntaktischen Struktur (Wortkombinationen), die für seine Kommunikation wesentlich sind. Der Übergang in die Phase der Drei- und Mehrwortäußerungen, im Alter von 2;0-4;0 Jahren, erfolgt durch eine fortlaufende Anreicherung der Kerneinheiten des Zweiwortsatzes mit mehr und mehr syntaktischen Elementen.

Die weitere sprachliche Entwicklung des Kindes vollzieht sich ab dem Alter von 3;5 Jahren. Es entwickelt einen komplexeren Satzbau, d.h. es bildet Haupt- und Nebensätze, verwendet verschiedene Zeiten und Adverbialkonstruktionen. Es beherrscht zu diesem Zeitpunkt bis zu 2000 Wörter aktiv. Ab 4;5 Jahren ist es fähig richtige Dialoge und Bedingungssätze zu formulieren.

Die eigentliche Sprachentwicklung ist weitestgehend abgeschlossen. Bis zur Einschulung kann das Kind immer komplexere Satzkonstruktionen bilden und abstraktere Bedeutungen verstehen (vgl. WIRTH 2000, Kapitel 8.6, S.138-152).

2.6 Zusammenfassung

Die Sprache ist zentral für das menschliche Leben. Sie dient dem Ausdruck von Intentionen, Wünschen und Abneigungen, sie ermöglicht die Kommunikation mit anderen Menschen und sie steht in enger Beziehung zu kognitiven und sozialen Fähigkeiten. Gerade während der frühen Kindheit stellt Sprache sozusagen das Fenster dar, das sowohl Einblick in den kindlichen Geist als auch Vorhersagen über die weiteren Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes zulässt. Viele Fortschritte des Denkens werden erst durch Sprache ermöglicht, so wie auch umgekehrt das Denken das sprachliche Wissen beeinflusst.

„Die sich entwickelnde Sprache verändert die Kognition in bedeutsamen Hinsichten und eröffnet ein Wissenspotential, das ohne sie -die Spracheüberhaupt nicht zugänglich wäre“ (GRIMM 1999, S.13).

Das Kind muss während seiner frühen Entwicklungsphase in das komplexe System der Sprache einsteigen und sich dieses als eigenes Wissenssystem aneignen. Aus dem Fluss der gehörten Sprache muss es Einheiten erkennen und Regeln ihres Zusammenwirkens entdecken.

Die komplexe Aufgabe des Spracherwerbs lösen die Kinder unter normalen Umständen in einem frühen Alter.

Vor der Sprachentwicklung selbst finden elementare Strukturierungen sensomotorischer Prozesse statt, die grundlegend für das Erreichen höherer Funktionsstufen sind. Die Sprache kann sich nur dann richtig entwickeln, wenn in den ersten beiden Lebensjahren die Koordination von Wahrnehmung, differenzierten Bewegungsabläufen sowie kognitiven und sozialen Fähigkeiten ohne gravierende Störungen verläuft.

„Der Erwerb sprachlicher Strukturen ist in einem universellen Entwicklungsplan sensorischer, motorischer, kognitiver und sozial- kommunikativer Funktionsbereiche eingeordnet, die sich in ihrer Wirkungsweise gegenseitig beeinflussen“ (GROHNFELDT 1993, S.19). BLOOM und LAHEY verweisen darauf, „dass ein intaktes peripheres und zentrales Nervensystem, kognitive Fähigkeiten, emotionale Stabilität und sprachliche Stimulation in einem sozial anregenden Umfeld notwendige Bedingungen zum kindlichen Spracherwerb sind“ (BLOOM & LAHEY 1978, zit.n. GROHNFELDT 1993, S.19).

Der wechselseitige Zusammenhang der einzelnen Entwicklungsbereiche wird dadurch deutlich, dass Sprache die Ausbildung kognitiver Strukturen beeinflusst, wesentliches Element der sozialen Kontaktaufnahme ist und über die veränderte Weltsicht auf die Verarbeitung der zugrundeliegenden Wahrnehmungsprozesse zurückwirkt.

Wahrnehmung und Motorik stehen am Anfang der Entwicklung. Sie sind, über den Aufbau sensomotorischer Schemata, grundlegend für die Strukturierung kognitiver Muster und Bereiche der Sprache.

Ich möchte nun speziell auf den Zusammenhang von Sprache und Bewegung im komplexen System Sprache genauer eingehen. Anhand von PIAGET und BRUNER werde ich Elemente aus der Entwicklungspsychologie heranziehen und Begründungen aus interaktionistischer Sicht darstellen. Die anderen Dimensionen (Kognition, Emotion und Soziabilität) kann ich dabei nicht außer acht lassen, da sie zum Beziehungsgefüge der Gesamtentwicklung der Persönlichkeit dazugehören. Sie weisen auf die Bedeutung der Ganzheitlichkeit hin, die in den verschiedenen Ansätzen psychomotorischer Sprachförderung zum Tragen kommt.

Zur Veranschaulichung finden sich im Anhang (A) der Wahrnehmungsentwicklungsbaum, A1 (SCHAEFGEN 1991, S.211) und der Sprachentwicklungsbaum, A2 (WENDLANDT 1992).

3. Das komplexe System der Sprache - entwicklungs-

psychologische Elemente und interaktionistische Begründungen im Zusammenhang von Bewegung, Wahrnehmung und Sprache Die komplexe Entwicklung der Sprache ist von vielen Faktoren abhängig und steht im Zusammenhang mit den anderen Entwicklungsbereichen. Für meine Arbeit spielt besonders der Bereich der Bewegung eine große Rolle. Die Motorik ist die erste und grundlegende Kommunikation des Menschen. Schon MONTESSORI und FROSTIG gingen davon aus, dass motorische Aktivitäten unabdingbare Voraussetzungen für Denkprozesse sind. Denkoperationen sehen sie als innere Aktivitäten, die auf verinnerlichte Operationen mit Objekten bauen. Andere Kommunikationsformen wie die Sprache bauen darauf auf (vgl. FROSTIG 1975 / MONTESSORI 1972).

3.1 Entwicklungstheoretische Vorstellungen PIAGETs

Aus interaktionistischer Sicht basiert der Spracherwerb auf zwei wesentlichen vorsprachlichen Erfahrungsbereichen des Kindes: den sensomotorischen Erfahrungen, mit derer sich das Kind seine Lebenswelt handelnd aneignet, und den vorsprachlichen kommunikativen Erfahrungen, die es gemeinsam mit seinen Bezugspersonen macht (vgl. BAUMGARTNER & FÜSSENICH 1999, S.67-69).

In bezug auf PIAGET stützt sich die Psychomotorik auf die Vorstellung, dass sensomotorische Erfahrungen eine grundlegende Bedingung für Lernen insgesamt darstellen: Bewegung und Wahrnehmung sind für jedes Kind der erste Zugang zur Welt und bleiben lebenslang bedeutsam. Von Anfang an ist es aktiv und reagiert durch Bewegungen auf das, was es von der Welt wahrnehmen kann. Durch diese konkreten Operationen verändern sich wiederum die Wahrnehmungsfähigkeiten, sie differenzieren sich allmählich immer stärker aus und führen zur Bildung kognitiver Strukturen. Durch die beständige, tätige Auseinandersetzung mit dem, was das Kind wahrnimmt, lernt es nach und nach, zielgerichtet mit Hilfe von Bewegungen auf die Umwelt einzuwirken (vgl. KRÄMER-KILIC & LÜTJE-KLOSE 1998, S.77).

„Jede Handlung basiert somit auf motorischen Fähigkeiten; die verknüpft und verinnerlicht werden, so dass aus ihnen innere Handlungen entstehen. Diese werden zu Symbolen für die Handlungen selbst und werden als solche später durch Sprache repräsentiert“ (ebd.). Die angeeigneten Begriffe bekommen Namen, das Kind beginnt im Gespräch auf Dinge zu verweisen und darüber zu kommunizieren. Jede neue Erfahrung wird vor diesem Hintergrund der bereits bestehenden Struktur wahrgenommen. Auf diese Weise „konstruiert“ das Kind sein Weltbild. An dieser Stelle der Arbeit wiederhole ich mich bewusst, in dem ich festhalte, dass der Spracherwerb demzufolge auf sensomotorischen Erfahrungen und ihrer Verknüpfung zu kognitiven Strukturen basiert. Die Bewegung ist dabei ebenso wie die Sprache immer nur ein Teil des Gesamtgeschehens bzw. der Gesamtentwicklung, der ganze Mensch mit all seinen Dimensionen ist daran jederzeit beteiligt.

In Anlehnung an FRÖHLICH füge ich an diese Stelle das Schaubild zur Verflochtenheit der Dimensionen einer ganzheitlichen Entwicklung.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Verflochtenheit der Dimensionen einer ganzheitlichen Entwicklung (vgl. FRÖHLICH 1989, S.15).

3.2 Der interaktionistische Spracherwerbsansatz

BRUNERs

BRUNER vertritt die Meinung, dass Kinder ihre Handlungskompetenzen in der Interaktion mit den Menschen ihrer Lebenswelt erwerben: Eltern, Geschwister, Erzieher, Lehrer, Freunden u.a.. Für ihn ist es von großer Bedeutung, dass Kinder die Entwicklungsprozesse nicht alleine vollziehen, sondern in Kooperation mit ihren Bezugspersonen. Da dieser Aspekt auch für mich eine große Rolle spielt, hat mich BRUNER mit seinem Ansatz überzeugt. In der Auseinandersetzung mit vertrauten Handlungsweisen lernt das Kind seine Kultur kennen: dazu gehören alle sozial akzeptierten Denk- und Handlungsweisen, seien sie motorisch, kognitiv, sozial oder sprachlich. Dabei spielt die Sprache „als Vermittlerin der Kultur“ eine zentrale Rolle. Sprache wird von BRUNER nicht in erster Linie als ein abstraktes System verstanden, sondern als Handlungsmittel, durch dessen Gebrauch Kinder ihre Absichten verwirklichen und an der Kultur teilhaben können, in der sie leben.

BRUNER geht davon aus, dass Form, Inhalt und Gebrauch von Sprache nicht isoliert, sondern immer gleichzeitig und in ihren Wechselwirkungen existieren - und auch von Kindern nicht isoliert, sondern als komplexes, bedeutungsvolles System erworben werden. Dabei ist in der Kommunikationsfunktion der Sprache, dem „ Sich-Mitteilen “ und „ Verstehen “ in der sozialen Gemeinschaft, der Antrieb für ihren Erwerb zu sehen. „Der Spracherwerb «beginnt», bevor das Kind seine erste lexiko- grammatikalische Äußerung von sich gibt. Er beginnt, wenn Mutter und Kind einen vorhersagbaren Interaktionsrahmen schaffen, welcher als Mikrokosmos für die Kommunikation und die Definition einer gemeinsamen Realität dienen kann“ (BRUNER 1987, S.14). Die Unterstützung der Erwachsenen besteht in zwei zentralen Aspekten. Es handelt sich zum einen, um die Strukturierung gemeinsamer Handlungssituationen und zum anderen, um die Feinabstimmung des sprachlichen Angebots der Erwachsenen auf die aktuellen Fähigkeiten ihres Kindes.

[...]

Ende der Leseprobe aus 92 Seiten

Details

Titel
Bewegung und Sprache. Psychomotorische Förderansätze bei Sprachentwicklungsstörungen
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Sonderpädagogik)
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2003
Seiten
92
Katalognummer
V20796
ISBN (eBook)
9783638245777
ISBN (Buch)
9783640946259
Dateigröße
2755 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bewegung, Sprache, Psychomotorische, Förderansätze, Sprachentwicklungsstörungen
Arbeit zitieren
Janina Daab (Autor:in), 2003, Bewegung und Sprache. Psychomotorische Förderansätze bei Sprachentwicklungsstörungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/20796

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