Psychosoziale Diagnostik in der stationären Jugendhilfe


Hausarbeit (Hauptseminar), 2010

20 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Sozialpädagogische Diagnostik
1.1 Definition
1.2 Merkmale psychosozialer Diagnostik
1.2.1 Komplexität der Fälle
1.2.2 Vernetzung der unterschiedlichen Facetten
1.2.3 Eigendynamik der Systeme
1.2.4 Intransparenz der Situationen
1.3 Psychosozialer Diagnostik als entscheidungsorientiert-legitimatorisches Verfahren
1.4 Diagnostik im Hilfeprozess
1.4.1 Problemsichtung und Beratung
1.4.2 Klärung der individuellen Situation und Entscheidung über Hilfe
1.4.3 Durchführung der Hilfe und Rückmeldung über den Verlauf

2 Stärken und Schwächen des entscheidungsorientiert-legitimatorische Verfahrens
2.1 Stärken des Verfahrens
2.1.1 Gebrauchstauglichkeit
2.1.2 Kundenorientierung
2.1.3 Wirkung
2.2 Schwächen des entscheidungsorientiert-legitimatorischen Verfahren
2.2.1 Gebrauchstauglichkeit
2.2.2 Kundenorientierung
2.2.3 Wirkung

3 Einsatzmöglichkeiten und grenzen der Methode
3.1 Einsatzmöglichkeiten
3.2 Grenzen

4 Relevanz für die eigene Praxis

Fazit

Literatur

Einleitung

Der Versuch Lebenslagen und Probleme von Kindern und ihren Familien wahrzunehmen, zu verste- hen, zu deuten und zu beurteilen hat in der Sozialen Arbeit eine lange Tradition. Bereits 1917sprach die Amerikanerin Mary Richmond von sozialer Diagnose. Sie forderte Sozialarbeiter dazuauf, eine Problemkonstellation in ihren verschiedenen Bestandteilen zu untersuchen mit dem Zieldas Problem im Zusammenhang mit der Lebenslage der Klienten zu erfassen, um so darauf abge- stimmte Hilfen anbieten zu können. Hiervon angeregt, führte Alice Salomon den Begriff 1926 indie deutsche Fürsorge ein. (vgl. Harnach 2007: S. 19) Dennoch galt die Diagnostik über Jahrzehnteals Domäne der Psychologie und psychiatrischen Medizin. In den 70er Jahren geriet die sozialarbei- terische Einzelfallanalyse im Zuge der Objektivierbarkeit sozialer Situationen und der schematisier- ten Erfassung von „Wirklichkeit“ als „gesellschaftlich affirmative Kunstlehre“ (Ader et al. 2004: S.86) in Verruf. Erst ab den 80er Jahren kam es zu einer Wiederbelebung und Weiterentwicklung ei- genständiger Verstehenskonzepte. (vgl. ebd.)

Aktuell werden insbesondere in der Kinder- und Jugendhilfe unterschiedliche Konzepte sozialpädagogischen Fallverstehens bzw. Diagnostik genutzt, wie z.B. biographisch - rekonstruktive Verfahren, in denen die Selbstdeutung der Menschen im Mittelpunkt des Interesses steht, oder gruppenorientiert - inszenierte Verfahren, in denen versucht wird, unbewusste Wahrnehmungen des Helfers auf eine kommunizierbare Ebene zu heben und schließlich psychologisch - orientierte bzw. entscheidungsorientiert-legitimatorische Verfahren. (vgl. Ader et al. 2004: S. 87 ff)

Im Zusammenhang mit dem Selbstverständnis der Sozialen Arbeit und aktuellen Qualitätsforderungen, entsteht an dieser Stelle die Frage nach der Tauglichkeit der einzelnen Verfahren, speziell nach der Praxisrelevanz der aktuell viel diskutierten Psychosozialen Diagnostik als entscheidungsorientiert-legitimatorisches Verfahren.

Zur Untersuchung dieser Fragestellung wurde verschiedene Literatur zum Thema verglichen und ausgewertet.

Die Arbeit stellt zu nächst die Psychosoziale Diagnostik in ihren wesentlichen Aspekten vor, umanschließend Stärken und Schwächen der Methode zu eruieren. Weiter werden hieraus Einsatzmög- lichkeiten und -grenzen in der Praxis abgeleitet und die Relevanz der Methode für die stationäreKinder- und Jugendhilfe nach § 34 KJHG dargestellt. Das Fazit bildet den Schluss der Arbeit.

1 Psychosoziale Diagnostik

1.1 Definition

Diagnose heißt wörtlich übersetzt Feststellung oder unterscheidende Erkenntnis [zu grch. diagnosk- ein „genau untersuchen, unterscheiden] und wird ursprünglich mit der hinter die Symptome bli- ckenden Tätigkeit eines Arztes in Verbindung gebracht. Dieser Begriff ist jedoch inzwischen auchin anderen Disziplinen von Bedeutung, so z.B. in der Psychologie („Psychodiagnostik“) wenn esdarum geht, das Erleben und Verhalten von Menschen und die daraus resultierenden Effekte festzustellen (vgl. Harnach 2007: S. 19). In der Sozialen Arbeit gibt es derzeit keinen eindeutigen und anerkannten Begriff für die Prozesse des Fallverstehens und der Diagnostik. Gängige Fachausdrückesind in diesem Zusammenhang „Soziale Diagnose“, „Sozialpädagogische Diagnostik“, „psychoso- ziale Diagnostik“, „ethnographische Fallarbeit“, und „kollegiale Beratung“, deren Ursprung in un- terschiedlichen Theorien und ihren Verfahrensweisen zu sehen sind (vgl. Ader et al. 2004: S. 85 ff).Harnach, die ein Vertreterin des entscheidungsorientiert-legitimatorischen Verfahren ist, (vgl.Schrapper 2008: S. 3) verwendet die Begriffe psychosoziale Diagnostik, sozialarbeiterische und sozialpädagogische Diagnostik synonym, da nach ihrer Einschätzung nach die Beachtung der sozialenUmstände immer notwendig ist, um menschliches Erleben und Verhalten zu erkennen und zu verstehen unabhängig davon, welche Berufsgruppe hierum bemüht ist. Sie betont jedoch gleichzeitigdie Eigenständigkeit der diagnostischen Tätigkeit von Sozialarbeitern: „Als psychosoziale Diagnos- tik oder auch sozialarbeiterische oder sozial-pädagogische Diagnostik bezeichne ich den durchFachkräfte der Sozialen Arbeit gestalteten und verantworteten Prozess der regelgeleiteten Ermittlung der für eine Entscheidung erforderlichen Sozialdaten.“ (Harnach 2007: S. 20) Diese Arbeit untersucht nachfolgend das entscheidungsorientiert legitimatorische Verfahren auf die Relevanz fürdie stationäre Kinder und Jugendhilfe nach §34 KJHG.

1.2 Merkmale psychosozialer Diagnostik

Die vielfältigen Leistungen und Aufgaben der Jugendhilfe, wie z.B. Hilfe zur Erziehung, Schutz beiKindeswohlgefährdung, Mitwirkung in gerichtlichen Verfahren, beinhalten unterschiedliche dia- gnostische Anforderungen an die Soziale Arbeit. (Harnach 2007: S. 20 f) Dennoch sind alle Aufga- ben durch gemeinsame Merkmale gekennzeichnet, die bei jedem Fall beachtet werden müssen.

1.2.1 Komplexität der Fälle

Alle Aufgabenbereiche der Jugendhilfe sind durch ein hohes Maß an Komplexität gekennzeichnet,da eine Vielzahl von Aspekten des jeweiligen Falles berücksichtigt werden müssen. Hierbei wirddas Erleben und Verhalten des betroffenen Kindes bzw. Jugendlichen und deren Familien erfasst,die Beziehungen zwischen ihnen, sowie die Wirkung von Interaktions- und Systemstrukturen, dieden Blick auch auf außerfamiliäre Systeme (Freundeskreis, Netzwerk sozialer Institutionen, sowiedas aktuelle Hilfesystem) erfordern. (vgl. Harnach 2007: S. 21) Es wird also erschlossen, unter wel- chen Bedingungen die Betroffenen leben, wobei theoretische Kenntnisse über förderliche und hin- derliche Faktoren für die Entwicklung der Minderjährigen und das Familiensystem im Ganzen, (vgl.Harnach S. 72 - 88) sowie die Bewertungen bzw. Selbstaussagen der Betroffenen über ihre Situati- on und ggf. ihre bisherige Hilfegeschichte und ihre Bewertungen hierüber unabdingbar sind. (vgl.Ader et al. 2004: S. 90 ff) Auch die Diagnosen anderer Disziplinen sind durchaus von Bedeutung,sodass z.B. der gesundheitliche Zustand als Ursache, gleichzeitig auch als Auswirkung von Leben- sumständen, Auffälligkeiten usw. im weiteren Hilfeverlauf berücksichtigt werden kann, oder z.B.Kenntnisse aus der Psychologie, wodurch Abweichungen von „normalen“ Entwicklungen einge- schätzt und verstanden werden. Auch ist Aufgabe der Sozialen Arbeit bei dem vorliegenden Fall ju- ristisch zu prüfen, ob überhaupt Leistungsansprüche oder Eingriffsbefugnisse gegeben sind, umkonkrete Leistungen und ggf. Handlungsbefugnisse zu klären. (vgl. Ader et al. 2004: S. 86)

1.2.2 Vernetzung der unterschiedlichen Facetten

Ein weiteres Merkmal diagnostischer Anforderungen ist das der Vernetzung der vielfältigen Aspek- te in einem Fall. Die einzelnen Facetten können nicht getrennt voneinander betrachtet werden, dasie sich wechselseitig bedingen. (vgl. Harnach 2007: S. 21) Das ggf. auffällige Verhalten eines Kin- des bzw. Jugendlichen ist z.B. wesentlich bedingt durch das Erziehungsverhalten der Eltern. Gleich- zeitig ist letzteres auch als Reaktion auf das jugendliche Verhalten zu sehen. Weiter wirken sich un- günstige ökonomische Bedingungen z.B. auf das Selbstbild der Eltern aus und wirken somit eben- falls auf ihren Erziehungsstil, bedingen aber gleichzeitig auch evtl. die eigene Arbeitslosigkeit usf..Beispiele dieser Art verdeutlichen, dass die Soziale Arbeit mögliche Aus- und Nebenwirkungen ih- rer Handlungen abschätzen und in ihre Diagnostik mit einbeziehen muss, da jede Veränderung einesMerkmals weitere Folgen für das gesamte Familiensystem hat. (vgl. Dörner 1997 nach Harnach2007: S. 21) An dieser Stelle beschreibt Harnach, dass z.B. ein Eingriff ins Sorgerecht der Elternzieldienlich für eine kurzfristige Krisenintervention sein kann, allerdings längerfristig jedoch eine Schwächung der elterlichen Erziehungsfähigkeit bedeuten könnte. (vgl. ebd.: S. 21)

1.2.3 Eigendynamik der Systeme

Gemeinsames Merkmal in den Handlungssituationen der Sozialen Arbeit ist zudem, dass mit Systemen gearbeitet wird, die durch eine hohe Eigendynamik gekennzeichnet sind. (vgl. hierzu auch Schlippe et al. 2003: S. 54 - 86) Familiäre Strukturen verändern sich im Laufe der Zeit, unabhängig davon, was der Sozialarbeiter unternehmen wird. So können Konflikte in den Familien z.B. recht schnell zu Krisen eskalieren. Diese hohe Dynamik erzeugt somit oftmals Zeitdruck, sodass die ausführliche Sammlung von Informationen und die Planung von Handlungsstrategien erschwert wird. Zudem ist in diesem Zusammenhang erforderlich, dass Entwicklungstendenzen der Dynamik abgeschätzt und Prognosen hierüber erstellt werden müssen, die in der Auswahl geeigneter Maßnahmen Berücksichtigung finden. (vgl. Harnach 2007: S. 22)

1.2.4 Intransparenz der Situationen

Weiter entscheiden die Betroffenen durch ihre eigenen Überlegungen und Zieldefinitionen selbst, was sie dem Sozialarbeiter mitteilen möchten und was nicht. Gerade bei massiven Konflikten innerhalb der Familie, bei denen es auch mitunter zu gewalttätigen (u.U. auch sexuellen) Übergriffen kommen kann, werden aus unterschiedlichen Gründen (z.B. Angst vor weiteren Übergriffen oder aber auch vor Konsequenzen, Abhängigkeit oder auch mangelndes Problembewusstsein uvm.) oftmals verschwiegen. (vgl. Hartwig 2007: S. 170 ff) Diese Intransparenz der Situation stellt nach Dörner eine weitere Quelle der Unbestimmtheit von Planungs- und Entscheidungssituationen für die Soziale Arbeit dar. (vgl. Dörner 1997 nach Harnach 2007: S. 22)

1.3 Psychosozialer Diagnostik als entscheidungsorientiert-legitimatorisches Verfahren

Wie oben beschrieben sind Sozialarbeiter oftmals mit schwer zu durchschauenden Situationen kon- frontiert, sodass eine fundierte Abklärung der Voraussetzungen, der Ziele und Mittel zur Zielerrei- chung -also eingehende Diagnostik- erforderlich ist, um den Fall zunächst zu verstehen und auf die- ser Grundlage den Betroffenen erfolgreich Unterstützung bieten zu können. Hierbei setzt dasSelbstverständnis der Sozialen Arbeit eine strukturierte und systematische Vorgehensweise voraus.(vgl. Harnach 2007: S. 18 ff; vgl. Ader et al. 2004: S. 92 f; vgl. Weyrich 2007: S. 201 f)

Für das entscheidungsorientiert-legitimatorische Verfahren stellt die Diagnostik eine zentrale sozialpädagogische Tätigkeit im Verlauf der Hilfeentscheidung dar. Sie basiert auf einer regelgeleitetenInformationssammlung bzw. standardisierten Erfassung, sowie Klassifizierung und Bewertung der Lebenssituation, der Probleme und Ressourcen der Klienten. Aus den Ergebnissen hieraus wird dersozialarbeiterische Handlungsbedarf begründet. (vgl. Ader et al. 2004: S. 87 f; vgl. Schrapper 2008: S. 3) Der Prozess der Erkenntnisgewinnung wird dabei vorrangig durch den Verwendungszweckund der Zielsetzung gesteuert, sodass auch hier unterschiedliche Formen der Diagnostik angewen- det werden. Hierbei unterscheidet Harnach zwischen Modifikations- und Selektionsstrategie. DieSelektionsstrategie beruht auf einer Status - Diagnostik, die einen stabilen Ist-Zustand feststellt unddurch eine Prognose ergänzt wird. Sinn und Zweck dieser Strategie ist es, eine Problemlösungdurch eine geeignete Auswahl an Personen oder Bedingungen herbeizuführen, z.B. der Auswahl an- hand bestimmter Kriterien für einen Arbeits- oder Studienplatz (Personenselektion) oder bei demZuspruch des Sorgerechtes für Mutter oder Vater (Bedingungsselektion). Die Modifikationsstrate- gie hingegen findet ihre Anwendung, wenn z.B. Verhaltensweisen verändert werden sollen. Im Ge- gensatz zur Selektionsstrategie sind hier weitere diagnostische Verfahren notwendig, um zunächstden erzieherischen Bedarf festzustellen (Statusdiagnostik und Prognose), geeignete Maßnahmenauszuwählen (Selektionsstrategie) und daraus resultierende Veränderungen in den Verhaltensweisenzu evaluieren (Prozessdiagnostik), um die Maßnahme ggf. wieder zu modifizieren. Weiter wirdnach normorientierter und kriteriumsorientierter Diagnostik unterschieden. Normorientiert heißt,dass das Untersuchungsergebnis mit dem von anderen Personen in Relation gesetzt wird, also zudem, was als „normal“ definiert wird. Kriteriumsorientierte Diagnostik überprüft, inwieweit einePerson ihren spezifischen Zielen nahe gekommen ist. (vgl. Harnach 2007: S. 25 ff)

1.4 Diagnostik im Hilfeprozess

In Anlehnung an Maas (1993) gliedert Harnach den Hilfeprozess, in denen psychosoziale Diagnos- tik erforderlich ist, in drei Phasen: a) Problemsichtung und Beratung b) Klärung der individuellenSituation und Entscheidung über die Hilfe c) Erbringung der Hilfe und Rückmeldung über den Hil- feverlauf. Diese Aufteilung strukturiert die einzelnen Arbeitsabläufe und verdeutlicht die unter- schiedlichen Funktionen und Ziele der schrittweisen Diagnostik. (vgl. Harnach 2007: 107)

1.4.1 Problemsichtung und Beratung

Diese Phase beginnt mit der ersten Kontaktaufnahme der/ des Hilfesuchenden mit dem professio- nellen Helfer. Die hier gemachten Angaben über die anstehenden Probleme erfordern bereits erstediagnostische Überlegungen, um dem Anspruch der Personensorgeberechtigten (§ 36 Abs. 1 Satz 1KJHG) auf Beratung über grundsätzliche in Frage kommenden Hilfen und ihre Folgen gewährleis- ten zu können.

[...]

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Psychosoziale Diagnostik in der stationären Jugendhilfe
Hochschule
Hochschule Koblenz (ehem. FH Koblenz)
Note
1,7
Autor
Jahr
2010
Seiten
20
Katalognummer
V207560
ISBN (eBook)
9783656347507
ISBN (Buch)
9783656347873
Dateigröße
493 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
psychosoziale, diagnostik, jugendhilfe
Arbeit zitieren
Britta Iwwerks (Autor:in), 2010, Psychosoziale Diagnostik in der stationären Jugendhilfe, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/207560

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Psychosoziale Diagnostik in der stationären Jugendhilfe



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden