„Ich war tot“ - Linguistische Analyse literarischer Texte am Beispiel Sebastian Fitzeks Roman „Die Therapie“


Masterarbeit, 2011

102 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhalt

A) THEORETISCHER TEIL
1. Einleitung – ein Linguist auf Abwegen?
2. Was ist ein Text? – Erkenntnisgewinnung durch Textlinguistik
2.1 Linguistische Textdefinition
2.2 Arbeitsfeld der literarischen Texte
2.2.1 Textstruktur
2.2.1.1 Kohäsion
2.2.1.2 Die thematische Entfaltung
2.2.2 Textfunktion
2.2.3 Textsorte
3. Narrationstheorie
3.1 Allgemeine Ausführungen
3.2 Erzählerinstanz
3.3 Narrative Muster
4. Das Spiel mit dem Stil – Was soll Stil eigentlich sein?
4.1 Allgemeine Ausführungen
4.2 Mikrostilistische Elemente
4.2.1 Stilmittel der Wortebene
4.2.1.1 Die Wortarten
4.2.1.2 Die Tropen
4.2.2 Stilmittel der Satzebene
4.2.2.1 Satzumfang, Satzbau und Wortstellung im Satz
4.2.2.2 Rhetorische Figuren
4.3 Makrostilistische Elemente – satzübergreifende Stilmittel

B) PRAKTISCHE ANALYSE
5. „Die Therapie“ – Inhaltszusammenfassung
6. Textlinguistische Betrachtungen
6.1 Die Textsorte
6.2 Die Textstruktur
6.2.1. Kohäsion
6.2.2. Die thematische Entfaltung
6.3 Die Textfunktion
7. Erzählerinstanz und narrative Mittel in Fitzeks „Die Therapie“
8. „Ich war tot“ – linguistische Stilanalyse ausgewählter Aspekte
8.1 Stilmittel der Wortebene
8.2. Stilmittel des Satzbaus
8.3 Satzübergreifende Stilmittel
9. Fazit
9.1 Resümee zu Fitzeks Werk aus linguistischer Sicht
9.2 Resümee zu den Möglichkeiten einer linguistischen Analyse literarischer Texte

Literaturverzeichnis

A) THEORETISCHER TEIL

1. Einleitung – ein Linguist auf Abwegen?

„Ein Linguist auf Abwegen“ – manchem mag dies als ein treffender Untertitel für diese Arbeit erscheinen, denn literarische Texte sind per definitionem Arbeitsgegenstände der Literaturwissenschaftler. Warum also widme ich mich in einer linguistischen Arbeit einem literarischen Werk? Die Antwort ist einfach: Es ist ein Irrtum, dass man nur mit literaturwissenschaftlichen Werkzeugen einen solchen Text analysieren könne. Auch die Linguistik kann einen bedeutenden Beitrag zur Betrachtung liefern und dem Text mit sprachwissenschaftlichen Werkzeugen seine Geheimnisse entlocken. Im Grunde ist es so, dass sich die Literaturwissenschaftler von jeher bei den Linguisten bedient haben. Sie erfassen die Metren von Gedichten, haben einen Katalog mit Tropen und diskutieren über ungewöhnliche Satzgliedstellungen. Linguisten können die Erscheinungsform eines Textes durch ihr Fachwissen jedoch noch gründlicher analysieren.

Ich werde in dieser Masterarbeit also zeigen, dass die Linguistik durch eine eingehende Analyse wichtige Informationen aus einem literarischen Text beziehen kann. Diese Aufgabe stellt mich vor eine große Auswahl an Arbeitsbereichen, denn die Linguistik hat viele Werkzeuge zur Hand. Ich habe mir die in meinen Augen aussagekräftigsten Werkzeuge für diese Arbeit ausgewählt. Somit entstehen zwangsläufig Leerstellen bei der Analyse und ich kann an dieser Stelle keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Ich kann jedoch eine Zusammenführung passender Analysemittel präsentieren.

Den didaktischen Wert dieser Werkzeuge werde ich im zweiten Teil verdeutlichen, indem ich sie auf den Roman „Die Therapie“ von Sebastian Fitzek anwenden werde. Das eingefügte Romanzitat im Titel meiner Masterarbeit deutet dabei bereits an, was wir unter anderem erkennen werden: Warum fühlen wir etwas, wenn wir Sätze wie: „Ich war tot.“[1] lesen und was fühlen wir eigentlich? Wie schafft es der Autor, mit einer denkbar einfachen Konstruktion aus drei Worten Spannung zu erzeugen? Ich behaupte, dass die Antworten darauf nicht subjektiv und schwammig sein müssen, sondern mittels einer linguistischen Analyse gegeben werden können.

Damit ist der grobe Aufbau vorgegeben. Diese Masterarbeit ist in zwei Blöcke gegliedert: „A) THEORETISCHER TEIL“ und „B) PRAKTISCHE ANALYSE“. Im ersten Block widme ich mich den zentralen Fragen, die bei dem Versuch, einen literarischen Text als Linguist zu untersuchen, unweigerlich auftreten müssen. Ich werde bei der grundlegenden Verständnisfrage nach der Definition des Arbeitsgegenstandes „Text“ beginnen. Wenn der Begriff als solcher geklärt ist, frage ich nach der Textstruktur, der Textfunktion und der Textsorte. Welche Arbeitschritte muss man tun, um ein konkretes Beispiel analysieren zu können? Dieser Grundfrage der sogenannten linguistischen Textanalyse ist eine Erläuterung der Narrationstheorie angefügt; mit ihr kann man die übergeordneten Aspekte eines Werkes analysieren. Abschließend gibt es im theoretischen Block einen dritten Themenkomplex, der eine umfassende Stilanalyse vorstellen soll. „Die Stilistik bildet die deutlichste Fuge zwischen der Sprachwissenschaft und der Literaturwissenschaft.“[2] Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Erklärung des Stilbegriffes aus linguistischer Sicht. Ich widme mich dabei intensiv den Möglichkeiten der Stilanalyse, wobei ich mich in den Subkategorien der mikro- und der makrostilistischen Stilelemente bewegen werde. Dadurch kann man sich tief in den zu betrachtenden Text hineinarbeiten und interpretatorische Rückschlüsse ziehen. Häufig kann man mittels einer Stilanalyse auch das oft nur unwissenschaftlich erklärbare Textkriterium der Akzeptabilität seitens des Rezipienten erklären. Mit den Textualitätskriterien werden wir uns im nächsten Kapitel beschäftigen. Block A. mit seinen drei Kapiteln, ist bewusst so konzipiert, dass er einen Leidfaden für didaktische Selbststudien gibt.[3] Für Linguistikstudenten im Grundstudium kann die Arbeit so eine Schritt-für-Schritt-Anleitung zur Analyse eines Textkorpus werden. Da jedoch bekanntlich alle Theorie grau ist, bewegen wir uns im zweiten Block ausschließlich auf dem bunten Feld der Praxis und versuchen, alle Erkenntnisse auf ein literarisches Beispiel anzuwenden. Es ist nicht meine Absicht, im Zuge dieser Arbeit den Roman „Die Therapie“ erschöpfend zu analysieren, sondern ich beziehe mich ausschließlich auf die Darstellung der Möglichkeiten einer linguistischen Analyse literarischer Texte am Beispiel von Sebastian Fitzeks Roman „Die Therapie“. Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auch nicht auf der Darstellung der verschiedenen Forschungsstandpunkte zum jeweiligen Thema. Ich werde verschiedene Positionen namentlich benennen, wenn dies für das Verständnis wichtig ist, und erläutern, warum ich den einen Standpunkt dem anderen vorziehe. Doch diese Arbeit ist keine Diskussion der unterschiedlichen Forschungspositionen, sondern ein auf Praxis und Erkenntnisgewinnung gerichtetes Vorhaben.

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2. Was ist ein Text? – Erkenntnisgewinnung durch Textlinguistik

2.1 Linguistische Textdefinition

„Was ist ein Text?“ Literaturwissenschafter sorgen sich im Allgemeinen weniger um diese Frage weniger und nehmen ihre „Texte“ oft als gegeben hin. Als Linguisten müssen wir aber einen genauer Blick wagen, denn der Text als wissenschaftlicher Gegenstand unterscheidet sich von unserem intuitiven Verständnis von Texten. Das Wort „Text“ ist dem Lateinischen entlehnt, wo „textum“ schlicht „Gewebe“, oder „Zusammenfügung“ meint. Diese Worte beschreiben durchaus die Haupteigenschaft von Texten, denn sie bestehen im Allgemeinverständnis aus mehreren Sätzen, die zusammenhängen. Dies ist natürlich keine ausreichend linguistische Definition. Da Texte aus Sätzen bestehen, beginnen wir mit der Definition des Begriffes „Satz“; hierfür gibt es eine übersichtliche Formel:

Proposition = Referenz + Prädikation.

„Proposition“ leitet sich vom lateinischen Substantiv „propositio“ ab und bedeutet im linguistische Sinne „Satz“.[4] An die Stelle der „Referenz“ kann ein einzelnes Wort, eine Wortgruppe, oder ein Satzglied treten. Wichtig ist nur, dass das Eingesetzte als der Gegenstand des Satzes fungiert. Hier finden wir das, worüber man sich sprachlich austauscht. Diesem Kommunikations-gegenstand wird schließlich eine Eigenschaft, die „Prädikation“, zugeordnet. Sagen wir also:

Tom ist ein Kind.,

so ist „Tom“ Referenz und „Kind“ Prädikation. Zu beachten ist, dass in einem Satz auch mehrere Prädikationen enthalten sein können. Zum Beispiel:

Tom hat sein Zimmer trotz einer Krankheit verlassen..

Es werden zwei Aussagen gemacht, nämlich dass der Referent krank war und dass er den Raum verließ. Man könnte bei diesem Beispiel noch weiter gehen und eine dritte Prädikation darin sehen, dass das „Zimmer“ durch das Possessivpronomen „sein“ als Toms Besitz angezeigt wird.

Doch entsteht ein Text nur aus der Tatsache, dass mehrere korrekte Propositionen zusammen stehen? Pessimistisch betrachtet, ist es wohl

fraglich, ob es überhaupt möglich ist, einen allgemein gültigen Texbegriff zu entwickeln, der es erlaubt, zu bestimmen, was immer und überall als Text zu gelten hat.[5]

Wir wollen hier aber nicht resignieren, sondern etwas genauer in die Forschung blicken. Es existieren zwei große Schulen der Textdefinition, die weitere Klärung bringen können. Der Arbeitsbereich der Textlinguistik kennt zum einen die sprachsystematische Textbetrachtung und zum anderen den Standpunkt der kommunikationsorientierten Textlinguistik.

Die Perspektive der sprachsystematisch orientierten Textlinguistik [6] rückt die textliche Kohärenz in den Mittelpunkt. Dies bedeutet, dass ein Text als ein Gebilde begriffen wird, das aus syntaktisch korrekt zusammenhängenden Sätzen besteht. Man spricht bei dieser Betrachtungsweise auch von einem Versuch der „Textgrammatik“, also dem Versuch, den Satz über sein Ende hinaus im Rahmen des ihn umgebenden Textes zu betrachten.[7] Die Textgrammatik will dabei syntaktische Regeln, wie sie für Sätze gelten, auf den gesamten Text übertragen Diese Vorgehensweise ist jedoch nicht ganz unproblematisch. Die Schwierigkeit liegt in der Annahme, der Satz sei die „oberste linguistische Bezugseinheit“[8] eines Textes. Wie der Name „Textlinguistik“ aber bereits impliziert, ist der Erkenntnisgewinn wesentlich größer, wenn man ein Textkorpus als Ganzes betrachtet, das mehr ist als die Gesamtheit seiner Propositionen. Die k ommunikationsorientierte Textlinguistik [9] versucht auf Basis dieser Annahme die Definition für „Text“ deutlich zu verändern. Sie richtet ihre Aufmerksamkeit auf die Kommunikationssituation, in der sich ein Text befindet und besagt, dass der Text aus ihr heraus erklärt werden muss. An dieser Stelle wird deutlich, dass man die linguistische Pragmatik als wesentlich ansieht und Textkriterien, wie Autorintention, Textsituation und Intertextualität, ins Zentrum rückt. Der kommunikative Zweck des Textes wird in seiner Wichtigkeit über die grammatisch richtige Satzfolge gestellt. Ich schließe mich Brinker an, der beide Schulen nicht als Konkurrenten, sondern als „komplementäre Konzeptionen […] betrachte[t] und eng aufeinander […] bezieh[t]“.[10] Aus diesem Standpunkt heraus entwickelt er eine Definition des Textbegriffes, der in dieser Arbeit gelten soll.

Der Terminus 'Text' bezeichnet eine begrenzte Folge von sprachlichen Zeichen, die in sich kohärent ist und die als Ganzes eine erkennbare kommunikative Funktion signalisiert.[11]

Betrachten wir „Text“ nun noch ein wenig genauer und suchen Kriterien für seine Seinsdefinition. Wenn wir uns mit Texten aus sprachwissenschaftlicher Sicht beschäftigen, konzentrieren wir uns auf die sogenannten Textualitätskriterien. Es gibt sieben Regeln der Textualität, die auf de Beaugrande und Dressler zurückgehen und als konstitutive Prinzipien bezeichnet werden.[12] Um vom wissenschaftlichen Standpunkt aus ein Korpus als Text bezeichnen zu können, müssen 1.) Kohäsion, 2.) Kohärenz, 3. )Intentionalität, 4.) Akzeptabilität, 5.) Informativität, 6.) Situationalität und 7.) Intertextualität vorhanden sein.

Die Kohäsion (lat. „cohaerere“ = „zusammenhängen“) kann auch als grammatische Kohärenz bezeichnet werden. Dies heißt nichts anderes, als dass sie den syntaktischen Zusammenhang von Texten darstellt, wobei sie sich auf den Phänotyp – die äußere Gestalt des Textes – bezieht. Wir betrachten also die Kohäsion beispielsweise dann, wenn wir die in einem Text enthaltenen Tempora analysieren. Kohäsion stellt demnach die grammatische Textverknüpfung her.

Im Gegensatz zur Kohäsion geht es bei der Kohärenz nicht um einen grammatikalischen, sondern um einen semantischen Zusammenhang. Mit der Kohärenz beschreibt man, inwieweit die im Text verwendeten Begriffe ein logisches Beziehungsgefüge ergeben. Der Text muss für uns einen Sinn ergeben, damit wir ihn als Text anerkennen. Diese inhaltlichen Verbindungen im Text müssen jedoch nicht auf der Textoberfläche erkennbar sein. In den meisten Fällen findet man die Kausalzusammenhänge ohnehin nur in der Tiefenstruktur. Zum Beispiel heißt es in einem bekannten Kinderlied:

Fuchs, du hast die Gans gestohlen, gib sie wieder her, gib sie wieder her! Sonst wird dich der Jäger holen, mit dem Schießgewehr!

Ohne dass es explizit gesagt wird, verstehen wir, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Gänsediebstahl des Fuchses und der Drohung einer Schießung durch den Jäger gibt.

Das dritte Kriterium bezieht sich auf die Intention des Textverfassers. Untersucht man die Intentionalität, unterstellt man dem Autor, dass er beim Niederschreiben ganz konkrete Ziele verfolgte. Der Rezipient unterstellt eine bestimmte Aussageintenion auch dann, wenn der Textproduzent eine solche Absicht nicht deutlich artikuliert. Als die gängigsten Intentionen kann man die Wissensvermittlung, die moralische Belehrung sowie die Unterhaltung anführen.

Neben dem Standpunkt des Autors betrachtet man ferner den Standpunkt des Lesers. Dies ist das Textualitätskriterium der Akzeptabilität. Als Rezipient erwartet man Kohärenz und Kohäsion gleichermaßen, ansonsten wird die Lektüre als sinnentleert betrachtet und damit nicht als Text akzeptiert.

Das fünfte Kriterium ist die Informativität, wobei man sich darauf bezieht, dass jeder einen Text nach seinem Informationsgehalt bewertet. Es entsteht ein ständiger Balanceakt zwischen dem Erwarteten und dem Unerwarteten. So erscheinen kurze Texte oft informativer, da zum einen die Aufmerksamkeit und Aufnahmefähigkeit nicht überfordert wird, aber auch jeder Rezipient selbst mitarbeiten muss, also eine aktive Rolle einnimmt. In der Werbebranche wird sehr oft mit diesem Textualitätskriterium gearbeitet, indem dem Rezipienten Wortspiele und Andeutungen gegeben werden, deren versteckter Sinn ergänzt werden muss. Der Rezipient wird so in eine aktive Rolle versetzt.

Das vorletzte Kriterium bezieht sich auf die Faktoren, die während der Situation des Kommunikationsprozesses relevant sind. Wie entscheidend das Textualitätskriterium Situationalität ist, wird klar, wenn man zum Beispiel an das Warnschild

Betreten verboten – Eltern haften für ihre Kinder

denkt. Hier ergibt sich der logische Sinn nur dann, wenn das Schild im Zusammenhang mit dem Ort betrachtet wird, an dem es aufgestellt ist: zum Beispiel eine Baustelle, oder ein Fabrikgelände.

Schließlich spielen intertextuelle Bezüge eine wichtige Rolle; sie bilden das siebte Kriterium: die Intertextualität. Jeder verfasste Text steht nicht für sich allein, sondern besitzt einen Kontext. Ein Text steht so auch stets in Kommunikation mit anderen Texten. Ein anschauliches Beispiel wären Kommentare in der Presse. Diese beziehen sich häufig auf bereits verfasste Texte und sind oft nur zu verstehen, wenn man den entsprechenden thematischen Zusammenhang kennt.

2.2 Arbeitsfeld der literarischen Texte

Literarische Texte sind also bei Weitem nicht den Philologen vorbehalten, dies ist inzwischen klar geworden. Es stellt sich allerdings noch die Frage, was ein literarischer Text überhaupt sein soll. Was unterscheidet diese Texte von Alltags- oder Gebrauchstexten? Und sind Sachtexte mitunter nicht auch literarisch? (Die Texte vieler Sozilogen führen bei vielen Studenten beispielsweise zur Annahme, dass es wichtiger sei, kunstvoll zu schreiben, als Inhalte zu vermitteln.) Dimter versucht eine Denfinition „normaler“ Texte mit der Anmerkung, dass ihnen einfach „kein besonderer ästhetisch-literarischer Anspruch“ innewohne.[13] Diese Erklärung ist weder befriedigend noch sehr nützlich, wenn man bedenkt, wie stark die Grenzen in Zeiten von „moderner Kunst“ verschwimmen. Eine allgemeingültige Trennlinie zwischen dem, was ästhetisch anspruchsvoll und damit literarisch ist und dem „Alltäglichen“ ist meines Erachtens unmöglich zu ziehen. Doch unabhängig von dieser Grundsatzdebatte, die hier nicht ausgefochten werden soll, ist es für einen Linguisten sinnvoll, sich jedem Text zunächst mittels einer textlinguistischen Analyse zu nähern.

Die Textlinguistik ist eine eigene wissenschaftliche Teildisziplin, die durch drei Analyseschritte gekennzeichnet ist. Basierend auf den erläuterten regulativen Textkriterien, wird zunächst die Kohäsions - sowie die Kohärenz struktur betrachtet. Dies ermöglicht eine Analyse der Textstruktur, zu der ebenfals die sogenannte thematische Entfaltung gehört. Anschließend wird die Textfunktion, auch „Texthandlung“ genannt, analysiert, um daraus in einem dritten Analyseschritt die Textsorten zu bestimmen und zu beschreiben. Anhand dieses Leidfadens lassen sich literarische Texte aus linguistischer Sicht bearbeiten. Wenden wir uns nun dem ersten Analyseschritt zu.

2.2.1 Textstruktur

Wenn man nach der Textstruktur fragt, betrachtet man zum Einen die Kohäsion des Textes, zum Anderen die thematischen Entfaltung.

2.2.1.1 Kohäsion

Die Kohäsion, also der grammatische Zusammenhang im Text, kann durch verschiedene Mittel hergestellt werden. Das zentrale Mittel für ein Textgefüge ist die Koreferenz [14]. Koreferenzen sind Wiederaufnahmen von Referenzen, die sowohl explizit, als auch implizit erfolgen können. Die einfachste Form ist die explizite Wiederaufnahme, denn hierbei besteht Referenzidentität. Ein Beispiel:

Die Kinder gingen Spielen. Die Kinder hatten Spaß.

Außersprachliche Objekte, wie etwa Gegenstände oder Personen, aber auch Handlungen, dienen im Text als Referenzträger: in unserem Beispiel die Kinder. Diese Referenten kommen im Text immer wieder vor und schaffen durch die Wiederaufnahme ein zusammenhängendes Korpus. Dabei bedarf es bei einer expliziten Wiederaufnahme nicht einmal einer Lexemgleichheit wie im vorgegebenen Beispiel: es können zwar durchaus dieselben Nomen beziehungsweise Nomengruppen verwendet werden, aber ebenso können andere an die entsprechende Stelle treten:

Die Kinder gingen Spielen. Die Kleinen hatten Spaß.

Dies ist legitim, solange der explizite Bezug ersichtlich bleibt.

Auch bestimmte und unbestimmte Artikel können zum Einsatz kommen, wobei der unbestimmte Artikel gern benutzt wird, um Unbekanntes neu in den Text einzuführen:

Eine Frau rannte die Straße entlang.

Tritt derselbe Referenzträger später erneut auf, wird der unbestimmte Artikel nicht mehr benutzt, sondern durch den bestimmten Artikel ersetzt:

Die Frau war überfallen worden..

Eine Sonderform der expliziten Wiederaufnahme erfolgt mittels der „Pro-Formen“. Hier trifft man auf Pronomen oder Adverbien, die den Referenzträger lediglich wieder aufnehmen, dabei aber aufgrund ihres „minimalen Bedeutungsinhalts“[15] keine neuen Informationen liefern können und dies auch nicht sollen. Ein Beispiel:

Sie war überfallen worden..

Dagegen sprechen wir von einer impliziten Wiederaufnahme bei Sätzen wie:

Ich war in Weimar. Ich sah das Wohnhaus von Goethe..

Hier ist ein Erfüllen des Textualitätskriteriums der Informativität stark vom Wissen des Rezipienten abhängig. Dieser muss in kognitiver Eigenleistung erkennen, dass beide Lexeme trotz verschiedener Referenzträger auf einen zusammenhängenden Themenkomplex rekurrieren. Besonders bei der impliziten Aufnahme kann es zu Fehlleistungen kommen, aufgrund deren ein Rezipient den Text als „Nichttext“ beiseite legt.

Neben dieser grammatischen Textstrukturanalyse sollte man gleichermaßen die thematische Struktur beachten. Dafür eignet sich besonders das Thema-Rhema-Konzept der Prager Schule.[16] Hierbei kann man direkt Rückschlüsse auf die Beziehung zwischen Textthema und Textstruktur ziehen. Die 1929 von Mathesius als „funktionale Satzperspektive“[17] begründete Methode basiert auf der Annahme, dass jeder Satz ein Thema und ein sogenanntes Rhema besitzt. Während das Thema der Aussagegrund ist, fügt das Rhema diesem eine Information hinzu, dient also als Kern der Aussage. Bei einer einfachen linearen Progression gibt es im ersten Satz ein Thema 1, dem ein Rhema 1 zugeordnet wird. Im folgenden Satz wird das Rhema 1 des ersten Satzes nun zum Thema 2 des zweiten Satzes und es erfolgt eine neue Kernaussage über dieses neue Thema.

Paul hat einen Ball. Der Ball liegt im Flur. Im Flur ist es dunkel.

Man kann jedoch auch den Text aus einem Thema konzipieren und diesem immer weitere Informationen, Rhemas, hinzufügen:

Paul hat einen Ball. Paul ist sportlich sehr aktiv. Paul ähnelt dadurch seinem Bruder.

Dies nennt man eine Progression mit durchlaufendem Thema.

Ein Thema kann jedoch im Text auch impliziert sein, ohne selbst genannt zu werden. Bei dieser Progression mit abgeleitetem Thema muss wieder der Rezipient kognitive Ergänzungsarbeit leisten, um das Thema aus den genannten Rhemas zu erschließen. Vom Satz

Er ist begabt, hat viele Fans und spielt gut Gitarre

kann man auf das Thema „Musiker/Gitarrist“ schließen.

Weitere Ergänzungsarbeit ist bei der Progression mit thematischen Sprung von nöten. Hier wird ein Glied ausgelassen, das vom Rezipienten aber durch die zusammenhängende Textstruktur ergänzt werden kann:

Er betrat den Raum. Dieser war sehr groß. Teppiche lagen auf dem Boden..

Abschließend gibt es noch die Progression mit gespaltenem Rhema, bei der das Rhema schlicht in mehrere neue Themen aufgespaltet werden kann. Zum Beispiel:

Auf der Straße lagen zwei Kaffeebecher. Einer war noch halb voll, der andere schien leer..

Das oben Dargestellte fasst Sowinski unter dem Schlagwort „mikrotextuelle Progressionen“[18] zusammen. Er erkennt diese zwar als völlig legitime linguistische Arbeitswerkzeuge an, gibt aber zu bedenken, dass bei einer Textbetrachtung auch immer „makrotextuelle Progressionen“[19] beachtet werden müssen. Makrotextuelle Progressionen sind für sich genommen ein großes Feld, das wir hier aus Relevanzgründen auf die Theorie der „ narrative[n] Superstruktur “[Markierung durch Verfasser.][20] beschränken wollen. Die Theorie der narrativen Superstrukturen ist, wie der Name vermuten lässt, für literatische Narrationen konzipiert worden. Sie geht davon aus, dass diese Strukturen in jeder Narration vorhanden sind und erarbeitet werden können. Eine n arrative Superstruktur ist

eine Art abstraktes Schema, das die globale Ordnung eines Textes festlegt und das aus einer Reihe von Kategorien besteht, deren Kombinationsmöglichkeiten auf konventionellen Regeln beruhen.[21]

Diese Darstellung ist so noch unbefriedigend, daher wollen wir etwas tiefer dringen. Am Besten lässt sich die Theorie anhand des Baumdiagrammes von Dijk erläutern:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Wie zu erkennen ist, wird hier versucht, einen Roman in seiner Gesamtheit als Progression zu erfassen. Die narrative Superstruktur zerfällt demnach in die „Geschichte“ als solche und die „Moral“ auf der Metaebene, wie sie sich zum Beispiel in Fabeln gerne findet. In anderen literarischen Texten ist die Moral aber meist impliziet in den Verfehlungen der Protagonisten versteckt. Die Geschichte besteht aus dem „Plot“ (also Handlung) und der „Evaluation“. Die Evaluation ist dabei nicht selbst Teil der Geschichte, sondern findet außerhalb der eigentlichen Handlung statt, also etwa im Rezipienten selbst oder aber in den Kommentaren von Figuren und Erzählern. Der Plot besteht aus verschiedenen „Episoden“, die auch gern als Kapitel markiert vorliegen. Die Episoden schaffen zum einen die örtlichen und zeitlichen „Rahmen“ und treiben zum anderen die „Ereignisse“ voran. Diese Ereignisse treten immer in einem Wechselspiel von „Komplikation“ und „Auflösung“ auf. Man erkennt an diesem Aufbau deutlich die Anlehnung an Chomskys berühmte generative Transformationsgrammatik.

Der generative Charakter solcher Modelle entsteht dadurch, daß mit Hilfe der Regeln einfache Elemente einer narrativen 'Tiefenstruktur' zunehmend differenziert und auf diese Weise komplexe 'Oberflächenstrukturen' von Erzählungen abgeleitet werden.[22]

Diese „Erzähltextanalyse“[23], wie Brinker sie nennt, eignet sich natürlich besonders für diese Arbeit, gilt es doch, einen Roman zu betrachen. Den Ausgangsgedanken, es gebe einen „thematischen Kern“[24], greift Brinker ebenfalls wieder auf und erarbeitet auf dieser Basis das Konztept der thematischen Entfaltung.

2.2.1.2 Die thematische Entfaltung

Um dem thematischen Kern herum entfaltet sich das Thema dabei wie eine Blüte, wobei keine Blüte der anderen gleicht und es immer neue Muster gibt. Dieses Werkzeug dient dazu, „die thematische Struktur gegebener Texte transparent zu machen“.[25] Obwohl jede Blüte anders erscheint, gibt es natürlich übergeordnet Blütenfamilien. Brinker nennt vier primäre Formen der Entfaltung,[26] die aber immer von der Intentionalität des Autors abhängig seien. Die Beschreibung der Strukturierung erfolgt in zwei Schritten. Zunächst muss der Themenkern erfasst werden (z.B. Krieg, Familie, Einkaufen etc.) und danach wird betrachtet, wie dieser Kern bearbeitet, also ausgelegt und entfaltet wird. Folgende vier Arten gibt es:

Ein Thema kann erstens deskriptiv entfaltet werden. Texte dieser Kategorie dienen dazu, den Themenkern zu beschreiben. Das Thema entfaltet sich dadurch, dass seine „Komponenten (Teilthemen) dargestellt und in Raum und Zeit eingeordnet“ werden.[27] In den meisten Fällen existiert also eine genau nachvollziehbare Zeitlinie, die vom Autor abgearbeitet wird. Dabei wird dem Rezipienten durch temporale („heute“, „jetzt“) und durch lokale Adverbien („dort“, „hier“) das Thema mit allen nötigen Informationen (im Idealfall) dargelegt. Neben deskriptiven Beschreibungen, die in Romanen vorherrschen, arbeiten besonders auch Fachbücher meist deskriptiv, ebenso wie Schul- und Lehrbücher. Auch Lexikonartikel oder Gebrauchsanweisungen erfüllen eine deskriptive Funktion.

Die beschreibende Ebene wird bei der narrativen Entfaltung verlassen. Hier werden zwar auch Ereignisse erzählt, meist werden sie aber moralisch bewertet. Sowohl in Gesprächen des Alltags, als auch in literarischen Werken dominiert diese Form der Themenentfaltung. Es versteht sich von selbst, dass die narrative Themenentfaltung in dieser Arbeit von besonderer Wichtigkeit ist. Brinker unterscheidet drei „Grundkategorien“[28] bezüglich dieser Form der Entfaltung. In der Kategorie der Situierung erfährt der Leser Eckdaten zu Ort und Zeit des Geschehens – jedoch nicht unbedingt am Anfang der Geschichte. Bei der Repräsentation werden die Handlungsträger eingeführt und ihre Charaktere im Sinne der Geschichte entwickelt, zudem handeln die Figuren. In der letzten Kategorie, dem Resümee, werden alle Handlungsstränge bilanzierend zusammengeführt, offene Fragen geklärt und normative Wertungen abgegeben. Je nachdem, ob das Ende offen ist oder nicht, kann man eine Evaluation erwarten.

Die Texte der dritten Form, der explikativen Entfaltung, lassen sich meist leicht erkennen, denn sie beginnen mit einem Sachverhalt, der als unbekannt vorausgesetzt und im weiteren Textverlauf erläutert wird. Ein sogenanntes Explanandum, also das „zu Erklärende“[29], wird durch ein Explanans, das Erklärende, dargestellt. Das Explanandum kann impizit sein, wie es oft in Gebrauchsanleitungen der Fall ist. Hier entnimmt der Rezipient dem Textkriterium der Situationalität, dass es ein Explanandum gibt. Kauft er zum Beispiel einen Tisch zum Selbstzusammenbauen, weiß er beim Lesen der Gebrauchsanleitung, dass er dieses Wissen nicht von allein hat.

Dient ein Text dazu, sich mit umstrittenen Themen zu befassen, oder soll er eine appellierende Wirkung besitzen, wird der thematische Kern argumentativ entfaltet. Meist wird zu Beginn der Sachverhalt kurz eingeführt und dann werden zwei oder mehr Standpunkte dazu präsentiert. Mittels objektiv nachvollziehbarer Argumente soll ein Standpunkt über den/die anderen obsiegen. Meist treten in der Praxis natürlich Mischformen der unterschiedlichen Entfaltung sarten auf. So kann ein Nachrichtenkommentar zuerst deskriptiv die Fakten nennen, darauf argumentativ aufbauen und zum Schluss explikativ seine Meinung kundtun.

2.2.2 Textfunktion

Durch die Befassung mit den Entfaltung sarten haben wir bereits das zweite Gebiet der Textlinguistik gestreift. Die Texthandlung beschreiben zu können, ist ein wichtiger Aspekt der deskriptiven Erfassung von Texten. Wir hinterfragen damit die kommunikative Funktion von Texten. Wir bewegen uns dabei im Zuständigkeitsbegreich der Pragmatik, denn wir fragen nach den Absichten hinter einer sprachlichen Handlung.[30] Wir fragen nach dem praktischen Nutzen der Theorien und finden, aufbauend auf der Pragmatik, fünf Textfunktionen.

An erste Stelle steht meist die Kontaktfunktion. Der Emittent baut eine personale Beziehung zu seinem Rezipienten auf (bzw. aus), indem er ihn beispiesweise begrüßt oder Worte des Dankes an ihn richtet etc. Diese Textfunktion geht oft den anderen voran und dient als Einleitung. Die Beziehung wird aufgenommen, um das Erfüllen weiterer Funktionen zu erleichtern. Hier reguliert das gesellschaftliche Gefüge, mit welchen sprachlichen Mitteln gearbeitet werden muss, um die intendierte Funktion zu erfüllen. Dabei ist die negative Kontaktknüpfung seltener als die positve, sie kann aber auch zum Einsatz kommen, etwa dann, wenn der Rezipient verunsichert oder eingeschüchtert werden soll.

Bei der Informationsfunktion vermittelt der Emittent ein ihm zur Verfügung stehendes Wissen an einen oder mehrere Rezipienten. Wir sehen hier automatisch die deskriptive Thementfaltung. Dabei kann der Vermittler durchaus verschiedene Wahrscheinlichkeitsangaben bezüglich seines Wissens machen. Er kann eine Information als Tatsache darstellen oder sie als Möglichkeit angeben. Man kann seine Informationen auf Argumente stützen und Quellen zur Untermauerung angeben. Dabei dienen häufig Modalwörter wie „offenbar“ oder „vermutlich“ als Signaworte. Gutachten oder Rezensionen besitzen primär eine Informationsfunktion, allerdings tritt hier oft ein wertender Aspekt hinzu. Dennoch ist die „informative Textfunktion […] sowohl mit einer sachbetonten als auch mit einer meinungsbetonten sprachlichen Darstellung kompatibel“.[31]

Geht es über eine Meinungsbetonung hinaus und will der Emittent seine Rezipienten von der eigenen Meinung überzeugen, spricht man von der Appellfunktion. Der Emittent kann performative Verben benutzen („befehlen“, „beauftragen“, „verlangen“), er kann aber auch subtil arbeiten. Imperativsätze wirken appellativ, ebenso wie sehr kurze Infinitiv-konstruktionen:

Einfach fallen lassen.

wäre ein typisches Beispiel aus der Werbeindustrie, wo der versteckte Appell auf den Kauf des beworbenen Produkts zielt. Appelle können auch in Versprechen versteckt sein, etwa:

So wird das Leben sicherer.

Die Aussicht auf Erreichen des Zieles, indem man einer vorgeschlagenen Handlungsweise folgt, lockt die Rezipienten.

Wenn der Emittent nicht überzeugen, sondern verpflichten will, nutzt er die Obligationsfunktion. Der Rezipient soll mit sprachlichen Mitteln dazu gebracht werden, sich beispielsweise zum Einhalten eines Vertrages oder eines Gelübdes zu verpflichten. Die Obligationsfunktion ähnelt damit der Deklarationsfunktinon, bei der ebenfalls die Macht der Sprache deutlich wird: Der Emittent versucht, eine neue Realität zu erschaffen, indem zum Beispiel Vollmachten erteilt oder ärztliche Atteste ausgeschrieben werden. Die Wirksamkeit dieser Sprechakte basiert natürlich auf der jeweiligen Sozialisation, die ein Menschen erfahren hat, und (wie in unserem Beispiel)dem Glauben an die Wirksamkeit von Institutionen.

Mischformen der fünf Funktionen mit unterschiedlichen dominanten Aspekten sind die Regel. In jedem Fall ist eine Kommunikationsabsicht jedoch seitens des Emittenten in den Text integriert. Hier steht also einmal mehr das Textkriterium der Intentionalität im Vordergrund, ohne das es keinen Text gibt. Wie die Absicht kundgetan wird und welche Mittel vom Rezipienten akzeptiert werden, ist durch die jeweilige Kommunikationsgemeinschaft verbindlich festgelegt.[32]

2.2.3 Textsorte

Aufgrund ihrer Funktionen und Struktur lassen sich Texte auch in übergeordnete Textkategorien zusammenfassen. Hierbei sprechen wir von Textsorten. Wir haben Textsorten als Muster in unserem Alltagswissen gespeichert und ein intuitives Gefühl dafür, in welche Klasse ein Text einzuordnen ist. Grobe Ordnungskritieren dafür sind Oralität versus Literalität, dialogisch versus monologisch beziehungsweise Anwesenheit versus Abwesenheit der Gesprächsparnter und öffentliche versus private Kommunikationssituation. Eine wirklich befriedigende und umfassende Klassifizierung im wissenschaftlichen Sinne gibt es aber bislang nicht. Vater sieht Textsorten als eine Zusammenstellung von Textklassen an.[33] Innerhalb einer Textklasse besitzen die Texte gemeinsame übergeordnete Eigenschaften, seien dies strukturelle Charakteristika oder etwa die konkrete Themenentfaltung. Legt man die Themenentfaltung als Kriterium an, kann man immerhin schon beschreibende Texte (z.B. Gebrauchsanleitung), narrative Texte (z.B. Roman), explikative Texte (z.B. wissenschaftliche Arbeiten) und argumentative Texte (z.B. politische Rede) voneinander differenzieren (zumindest in der Theorie, da in der Praxis Mischformen dominieren). Da die Themenentfaltung zum Gebiet der Textstruktur zählt, ist dieser Ansatz der sprachsystematischen Textbetrachtung zuzuordnen. Ebenfalls zur sprachsystematischen Sichtweise zählt die Unterteilung literarischer Werke in die bekannten Sorten Lyrik, Dramatik und Epik mit ihren verschiedenen Subformen, sprich Genres. Wir haben dabei ein sprachsystematisches Verständnis von Textsorten, da Struktur und grammatischer Aufbau als Schablonen dienen. So findt sich beispielsweise in Werken der Dramatik ausschließlich die direkter Rede; Regieanweisungen bilden die einzige Ausnahme.

Dem zweiten Forschungsansatz der kommunikationsorientierten Textlinguistik kann man noch mehr entnehmen. Meist dienen den kommunikationsorientierten Analytikern die Textfunktionen als Unterteilungshilfe. Texte lassen sich dann Textsorten zuordnen, wenn man verstanden hat, welche typische Funktion erfüllt wird. So ergeben sich unterhaltende (als ästhetische) Texte, appellative Texte, informative bzw. deskriptive Texte und normative Texte. Die bekannte pragmatischen Wende führte in den 1970er-Jahren weiterhin dazu, dass Textsorten durch den Einbezug des außertextlichen Kontextes bestimmt wurden. Die Situation während der Textrezeption stand nun im Vordergrund. Bei dieser k ommunikationsgebundenen Herangehensweise beachtet man daher das Textkriterium der Situationalität und kann so zum Beispiel zwischen der Anwesenheit beider Gesprächspartner („Face-to-face-Kommunikation“) oder ihrer Abwesenheit (Telefon, Radio, Fernsehen, Buch) differenzieren.

Doch man muss sich dem Problem dieser Analysekategorien bewusst sein: Verschiedene Linguisten gelangen zu verschiedenen Textklassen, je nachdem, welche Textsortenklassifikation sie für sich anlegen.

Das Werk, das ich im praktischen Teil analysieren werde, ist der Epik zugeordnet, genauer dem Roman, und muss in das Genre (Psycho-)Triller eingeordnet werden. Das allein sagt uns jedoch zunächst einmal nichts über die Wirkung, oder die Autorintention. Die Möglichkeiten der Klassifikation sind dennoch sehr groß, wenn man sie im individualen Fall genau betrachtet. Wir werden uns daher im praktischen Teil die Textsorte bei Fitzek intensiv ansehen.

3. Narrationstheorie

3.1 Allgemeine Ausführungen

Die Narrationstheorie beschäftigt sich mit der narrativen thematischen Entfaltung. Sie verbindet

Erkenntnisse, die in der literaturwissenschaftlichen Erzähltheorie gewonnen wurden, verbunden mit solchen, die wir der linguistischen Erforschung der 'konversationellen Erzählungen' (Erzählungen in der alltäglichen Kommunikation) verdanken.[34]

„Narration“ dient als „Oberbegriff für die Gestaltungsart“.[35] Es wird untersucht, auf welche Weise Ereignisse oder Gedanken an Rezipienten weitergegeben werden. Es geht also weniger um das „Was“ (die Informationsfunktion), sondern um das „Wie“. Viele Narrationstheoretiker sagen explizit, dass die Narrationstheorie „deutlich den Aspekt der Konstruktion hervor[hebt]“,[36] das impliziert also auch, dass Fehlinformationen oder Nicht-Fakten präsentiert werden können. Genau um solche Nicht-Fakten geht es bei literarischen Werken. Es wird Fiktion geboten, wobei fiktiv „nicht wirklich, erfunden“[37] meint. Wichtig ist, dass der Rezipient sich bei Beginn der Lektüre darauf einlässt, dass er mit Fiktion konfrontiert wird (er hält ein Buch in der Hand, also haben wir das Textkriterium der Situationalität). Der Roman wird als Text akzeptiert, da der Autor sich mit seinen Rezipienten darauf einigt, dass Fiktion präsentiert wird. Dies ist ein

spielerisches Sich-Einlassen des Lesers auf die fiktionale Erzählung, das darin besteht, die Erzählung für die Zeit der Lektüre in einer gewissen Hinsicht für wahr zu halten.[38]

[...]


[1] Fitzek, Sebastian: Die Therapie. Psychothriller. Knaur Taschebuchverlag. München 2006. S. 26.

[2] Seidler, Herbert: Allgemeine Stilistik. Vandenhoeck & Ruprecht. Göttingen 1963. S. 68.

[3] Um dies noch weiter zu erleichtern: Neu ingeführte, relevante Fachbegriffe werden fett hervorgehoben und im weiteren Verlauf kursiv gesetzt, um ein schnelles Wiederfinden zu ermöglichen.

[4] In der Sprechakttheorie von Searle ist die Proposition der Sachverhalt, der durch den Satz ausgedrückt wird.

[5] Brinker, Klaus: Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. Erich Schmidt Verlag. Berlin 2005. S. 12.

[6] Siehe dazu Vater, Heinz: Einführung in die Textlinguistik. Struktur und Verstehen von Texten. Fink Verlag. München 1994. S. 12 ff..

[7] Als weiterführende Literatur zu dieser Forschungsrichtung der Textlinguistik empfiehlt sich Weinrich, Harald: Textgrammatik der deutschen Sprache.

[8] Brinker, Klaus: Linguistische Textanalyse. S. 13.

[9] Siehe dazu Vater, Heinz: Einführung in die Textlinguistik. S. 15 ff..

[10] Brinker, Klaus: Linguistische Textanalyse. S. 17.

[11] Ebd.. S. 17.

[12] Vgl. z.B. Vater, Heinz: Einführung in die Textlinguistik. S. 31 ff..

[13] Dimter, Matthias: Textklassenkonzepte heutiger Alltagssprache. Kommunikationssituation, Textfunktion und Textinhalt als Kategorien alltagssprachlicher Textklassifikation. Niemeyer Verlag. Tübingen 1981. S. 35.

[14] Vgl. dazu: Brinker, Klaus: Linguistische Textanalyse. S. 27 ff..

[15] Ebd.. S. 33.

[16] Vgl. dazu: Sowinski, Bernhard: Textlinguistik. Eine Einführung. Verlag W. Kohlhammer. Stuttgart 1983. S. 98 ff..

[17] Vgl. dazu Brinker, Klaus: Linguistische Textanalyse. S. 49.

[18] Sowinski, Bernhard: Textlinguistik. S. 98 ff..

[19] Ebd.. S. 101 ff..

[20] Ebd.. S. 103.

[21] Dijk, Teun Adrianus van: Textwissenschaft. Eine interdisziplinäre Einführung. Niemeyer-Verlag. Tübingen 1980. S.131.

[22] Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. Beck-Verlag. München 2005. S. 147.

[23] Brinker, Klaus: Linguistische Textanalyse. S. 52.

[24] Ebd.. S. 55.

[25] Ebd.. S. 55.

[26] Vgl. dazu: Ebd.. S. 65 ff..

[27] Ebd.. S. 65.

[28] Vgl. dazu: Ebd.. S. 71.

[29] Ebd.. S. 75.

[30] Diese Arbeit setzt die Kenntnis der Sprechakttheorie voraus.

[31] Brinker, Klaus: Linguistische Textanalyse. S. 115.

[32] Vgl. dazu: Ebd.. S. 100.

[33] Vgl. dazu: Vater, Heinz: Einführung in die Textlinguistik. S.157 ff..

[34] Burger, Harald: Mediensprache. Eine Einführung in Sprache und Kommunikationsformen der Massenmedien. Walter de Gruyter Verlag. Berlin 2005. S. 289.

[35] Luginbühl, Martin/Schwab, Kathrine/Burger, Harald: Geschichten über Fremde. Einef linguistische Narrationsanalyse von Schweizer Fernsehnachrichten von 1957 bis 1999. Peter-Lang-Verlag. Bern 2004. S. 12.

[36] Hickethier, Knut: Das Erzählen der Welt in den Fernsehnachrichten. Überlegungen zu einer Narrationstheorie der Nachricht. In: Rundfunk und Fernsehen 45. Nomos Verlagsgesellschaft. 1997. S. 18.

[37] Zipfel, Frank: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin 2001. S. 19.

[38] Ebd.. S. 217.

Ende der Leseprobe aus 102 Seiten

Details

Titel
„Ich war tot“ - Linguistische Analyse literarischer Texte am Beispiel Sebastian Fitzeks Roman „Die Therapie“
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf  (Institut für Germanistik)
Note
1,5
Autor
Jahr
2011
Seiten
102
Katalognummer
V207294
ISBN (eBook)
9783656345862
ISBN (Buch)
9783656346401
Dateigröße
952 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Germanistik, Linguistik, Sprachwissenschaft, Textsorte, Textfunktion, Textstruktur, Tropen, Narrationstheorie, Textlinguistik, Sebastian Fitzek, Romananalyse, Die Therapie, Stilistik
Arbeit zitieren
M.A. Cornelia Scherpe (Autor:in), 2011, „Ich war tot“ - Linguistische Analyse literarischer Texte am Beispiel Sebastian Fitzeks Roman „Die Therapie“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/207294

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