Kino als Gegenmittel

Über die Zweckbestimmtheit des Kinos als Poesie bei Jean Epstein


Hausarbeit, 2010

12 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. „Finalité du Cinéma“: (Zweck-) Bestimmung des Kinos
2.1. Abfälle des menschlichen Individualismus
2.2. Poesie als Gegengift zur rationalistischen Praxis
2.3. Film als poetisches Antidot

3. La Glace à Trois Faces als Beispiel zeitgemäßer Poesie
3.1. Bewegung, Flucht, Flüchtigkeit
3.2. Spiel mit Präsenz und Absenz, dem Aktuellen und Virtuellen
3.3. Raum-Zeit: Zeitfiguren
3.4. Der Film eine Träumerei?

4. Mögliche Risiken des Kinos

5. Quellenverzeichnis.

1. Einleitung

In seinem 1949 in der Zeitschrift Mercure de France erschienenen Essay[1] über die Zweckbestimmtheit des Kinos („Finalité du Cinéma“) schreibt Jean Epstein einen Satz, der in dem Text genauso heraus sticht wie in Nicole Brenez’ Aufsatz über Epstein mit dem Titel „Ultra-Modern“: „L’homme a besoin d’un puissant antidote poétique pour sublimer les déchets de son individualisme.“[2] bzw. „Der Mensch braucht ein starkes poetisches Gegengift, um die Abfälle seines Individualismus zu sublimieren.“[3]

Was meint Epstein mit dieser Bemerkung? Wie definiert er Poesie? Was ist das „poetische Gegengift“? Was bedeutet für ihn „Abfälle des Individualismus“? Und wie hängt das zusammen mit dem Kino der zwanziger Jahre bzw. mit der Wahrnehmungstheorie Jean Epsteins, in die sein früheres (Film-)Schaffen fällt? Diese Fragen sollen im Folgenden wenn nicht geklärt, so doch so nahe wie möglich beleuchtet werden und auch anhand eines Filmbeispiels mit der Wahrnehmungstheorie Epsteins in Beziehung gesetzt werden.

Als Filmbeispiel dient dabei La Glace à Trois Faces – ein Film über die Relativität von Zeit und Raum, über Geschwindigkeit, Flüchtigkeit, die moderne Gesellschaft, moderne Kommunikation mittels moderner Kommunikationsmittel und im Film dargestellte Erinnerungen.

2. „Finalité du Cinéma“: (Zweck-) Bestimmung des Kinos

Warum ist das Kino in die Welt gekommen und hat sich so rasant entwickelt und verbreitet? fragt sich Jean Epstein. Er bezieht sich damit nicht primär auf die technischen Voraussetzungen, sondern fragt mehr nach der gesellschaftlichen Disposition, die das Phänomen Kino erforderlich gemacht hat.

Epstein analysiert die Gesellschaft, er geht dazu zunächst der Entstehung und Entwicklung der Sprache nach. Denn die Entwicklung der Sprache bedingte laut Epstein durch die notwendige Übersetzung von Bild in Wort (bzw. die Rückübersetzung von Wort in Bild durch den Empfänger) die Herausbildung einer starken Rationalität und Abstraktion(sfähigkeit), die den technischen Fortschritt erst erlaubten: „Ainsi, l’usage de la langue parlée et de la pensée verbale, incessant exercice de logique, oblige et habitue l’esprit à un perpétuel effort de rationalisation.“[4] Dies sei auch der Grund für den Verfall bzw. die Trübung der visuellen Intelligenz.[5]

2.1. Abfälle des menschlichen Individualismus

Die Folgen der Rationalisierung durch die gesprochene Sprache und den verbalen Gedanken (langue parlée et pensée verbale) sind im Endeffekt die Abfälle des Individualismus, mit denen der moderne Mensch zu kämpfen hat.

Diese ergeben sich daraus, dass alles „diesem mechanistischen Determinismus“[6] gehorchen muss, der erlaubte, Flugzeuge und Wolkenkratzer zu bauen. Planwirtschaft und Maschinismus zwingen zur Arbeit am Fließband, jede Geste wird normiert, die kleinste Ablenkung wird gezählt, das Individuum wird vereinheitlicht und sieht sich unzähligen Regeln, Restriktionen und Zwängen ausgesetzt. So ist jede Phantasie unterbunden.

Und trotz laufender politischer Unterdrückung und totalitärer Praktiken ist der Mensch nicht so abgestumpft, dass er nicht an der „materiellen Halbsklaverei und dieser moralischen Nivellierung“[7] leidet, die es ihm versagen, seine Kreativität auszuleben. Dies führt aber zu einer inneren Ruhelosigkeit und Unruhe, die der moderne Mensch mittels mentaler Ersatzbefriedigungen zu verdrängen versucht. Mit Ersatzbefriedigungen meint Epstein „moyens de discours, de lectures, de spectacles“[8], kurz: Poesie im weitesten Sinne.

2.2. Poesie als Gegengift zur rationalistischen Praxis

Unter Poesie im weitesten Sinne versteht Epstein weit mehr als zeitgenössische literarische Poesie, die mittlerweile Angelegenheit einer spezialisierten Elite geworden sei und im Allgemeinen eine zweitrangige Rolle spiele (auch da sie als geschriebene Sprache ja per se rational bleibe).[9]

Poesie ist für Epstein alles Irrationale. Spontanste, persönlichste Form der Poesie sei die (Tag-)Träumerei, der jeder sich hingibt, um sich die mentale Ersatzbefriedigung zu verschaffen, die die Realität ihm verweigert. Denn der Mensch erträgt es auf Dauer nicht, im bloßen Rationalismus zu leben. Er braucht Träumerei oder Zerstreuung – die in dieser Gesellschaft der Arbeiter jedoch gering geschätzt, ja verachtet werden.

[...]


[1] vgl. Fonds Jean et Marie Epstein (http://195.115.141.14/expert/archives/fonds.php?id=epstein)

[2] Epstein, „Finalité du Cinéma“, S.48

[3] Brenez, „Ultra-modern“, S.153

[4] Epstein, „Finalité du Cinéma“, S.44

[5] vgl. Epstein, ebd., S.45

[6] Epstein, „Finalité du Cinéma“, S.47

[7] Epstein, ebd., S.47: „souffre de ce demi-esclavage matériel et de ce nivellement moral“

[8] Epstein, ebd., S.47

[9] vgl. Epstein, ebd., S.47f.

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Kino als Gegenmittel
Untertitel
Über die Zweckbestimmtheit des Kinos als Poesie bei Jean Epstein
Hochschule
Universität Wien  (Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft)
Veranstaltung
Proseminar "Filmtheorien der 20er Jahre"
Note
1,0
Autor
Jahr
2010
Seiten
12
Katalognummer
V207248
ISBN (eBook)
9783656343936
ISBN (Buch)
9783656344704
Dateigröße
506 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Jean Epstein, La glace à trois faces, Kino, Gegengift, Gegenmittel, cinema, Poesie, Wahrnehmung, Phantasie
Arbeit zitieren
Veronika Seitz (Autor:in), 2010, Kino als Gegenmittel, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/207248

Kommentare

  • Veronika Seitz am 15.1.2013

    Für mich sind Träume immer nur einzelne Kapitel gewesen, nie die ganze Geschichte. ... Ein Traum hat viel Ähnlichkeit mit einem Film: Der Träumer kann den Ausgang seines Traums ebenso wenig kontrollieren wie der Kinobesucher das Ende des Films. Das macht beide so aufregend. Mit meinen Filmen bringe ich andere Leute zum Träumen... (Steven Spielberg, ZEITmagazin Nr.3)

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Titel: Kino als Gegenmittel



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