Radikaldramatik?

Zu Elementen einer neuen Dramenform in Christian Dietrich Grabbes ‚Napoleon oder die hundert Tage’


Hausarbeit, 2007

15 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1. Das Grabbesche Drama: ein Einzelphänomen

2. Analyse der Dramenform
2.1 Komposition der Szenen
2.2 Auflösung einer durchgehenden Handlung
2.3 Zum Verhältnis der Zeit
2.4 Verwendung des Mediums Raum
2.5 Anzahl und Zeichnung der Figuren
2.6 Sprache als Medium für Geschichte

3. Grabbes Absicht mit Napoleon oder die hundert Tage

4. Fazit

5. Verzeichnis der verwendeten Literatur

1. Das Grabbesche Drama: ein Einzelphänomen

Anfang des 19. Jahrhunderts herrschten im Drama rigide Gattungsbestimmungen. Bereits die deutschen Romantiker wollten diese Grenzen zwischen den Gattungen aufbrechen und die literarischen Formen durchlässiger machen. „[ Es kam beim Medium Bühne] einzig und allein im deutschsprachigen Bereich zu einer radikalen Vor-Avantgarde. Allerdings, es war nur eine im Konjunktiv. Soweit sie literarisch war, wie bei Kleist und Büchner und Grabbe, blieb sie den Zeitgenossen fast oder ganz unbekannt.[1] Bei diesen aber avancierte das Drama zu einem Experimentierfeld. Oft um den Preis der Unspielbarkeit, wie die gelesenen Geschichtsdramen von Goethe oder Kleist zeigen. Dennoch war die geschlossene Dramenform zu Grabbes Zeiten im Großen und Ganzen noch gebräuchlich. Grabbe jedoch will, so Volker Klotz, „(h)inweg von den planierten Bahnen einer szenisch und rhetorisch ausgewogenen Bühnenpoetik. Hinweg vom Tun und mehr noch vom Lassen der gestandenen Dramatiker seiner Zeit, die letztlich noch immer den klassizistischen Mustern nachhängen […][2] Er widersetzt sich der herkömmlich und für verbindlich erachteten Standarddramatik des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts und entwickelt neue dramatische Ansätze. Elemente dieser „Radikaldramatik“[3] werden im Folgenden näher herausgestellt.

Anhand der Kategorien Komposition, Handlung, Zeit, Raum, der Zeichnung der Figuren und Verwendung der Sprache wird der Fragestellung nachgegangen, inwiefern man bei Christian Dietrich Grabbes Drama Napoleon oder die hundert Tage von ‚Radikaldramatik’ sprechen kann, in Bezugnahme auf die damals gängige Praxis der Dramatiker und der geschlossenen Dramenform. Der anschließende Abschnitt beleuchtet Grabbes Absicht, die ihn dazu veranlasste, diese Form des Dramas zu wählen.

2. Analyse der Dramenform

Welche neuen Elemente verwendet Grabbe in seinem Drama? Wie geht Grabbes Radikaldramatik zuwege? „Grabbe ist Opfer und extremer rebellischer Ausdruck einer Übergangszeit. […] Das Alte, Überkommene, mit Gewalt Restaurierte hat er wütend in Trümmer geschlagen, um damit die trostlosen und gigantischen Ruinenbauten seiner Werke aufzuführen.[4]

Grabbe funktioniert die Grundelemente des zeitgenössischen Theaters um, löst sie auf, sprengt sie. Er dichtet darüber hinaus.

2.1 Komposition der Szenen

Das Drama ist nach dem Fünf-Akt-Schema konzipiert, „welches sich dann während des Schaffensprozesses auflöste. Im Napoleon ist das bis zum Abschluss beibehaltene klassische Thema des Fünfakters nur noch ein unbedeutender, überholter Rahmen, seines durchfunktionalisierten Sinnes beraubt. Die auf den tragischen Prozess und das Schema von Spieler und Gegenspieler gebaute Geschlossenheit wird zugunsten einer weitgehend epischen Form mit dramatischer Spannung umfunktioniert.[5]

Die einzelnen Akte haben als Handlungsstufen keine Funktion mehr. Zukunftsweisende, epische Verfahren werden in das klassische Fünfaktschema gepresst. Die Aktgrenzen sind nur schwach motiviert und das fünfaktige Gliederungsschema ist überlagert von der aus drei Phasen aufgebauten dramatischen Handlung[6]:

Der erste Teil umfasst die Szenen I, 1 bis III, 1. Die Handlung spielt vor der Wiederkehr Napoleons, also vor den „hundert Tagen“. Grenze und gleichzeitig Spannungsziel ist der Einzug Napoleons in die Tuilerien. Bis dahin sind die dramatischen Linien auf die mögliche Rückkehr Napoleons gerichtet. Die Erwartungshaltung zieht sich (als ordnendes Prinzip) durch alle Szenen. Dabei wechselt in aufeinander folgenden Szenen ziemlich regelmäßig die Perspektive: einmal wird für, einmal gegen Napoleon agiert. Der Rahmen für diesen ersten Teil sind die markanten Massenszenen I, 1 und III, 1. Es handelt sich um demonstrierende Szenen, die die Strömungen der Zeit zusammenfassen (Revolution, Restauration, Bonapartismus).

Inhaltlich zeigt der zweite Teil Napoleons Regierung und die Entwicklung der politischen Verhältnisse nach seiner Landung in Frankreich. Er umfasst die Szenen III, 2 bis IV, 3 und ist enger mit dem ersten Teil verbunden. Geschlossenheit erreicht er durch die Umrahmung von den besagten Eckszenen (Wache, Marstall).

Einen Bruch stellt der Schauplatzwechsel von Paris zu den Schlachtfeldern im dritten Teil des Dramas dar. Die Szenen IV, 4 mit V, 7 bilden den letzten Teil, der die militärische Konfrontation des napoleonischen Heeres mit den Alliierten und den Verlauf des Feldzuges behandelt. Die Szenen der Schlacht bei Waterloo sind Schluss- und Höhepunkt des dramatischen Geschehens. Es entsteht ein Schlachtgemälde, bei dem die „Einheit des Ortes […] innerhalb der kleinsten dramatischen Gliederungseinheit aufgelöst [wird].[7] Mit der Niederlage bricht das Drama nach einem Schlusswort General Blüchers abrupt ab.

Die einzelnen Szenen im Drama stehen relativ autonom für sich und besitzen jeweils eigene Figurenkonstellation, Ort und Zeitqualität. Im Vergleich zum „Auftritt“ des klassischen Dramas erweisen sie sich als eigengesetzlicher und betonter. Sie tendieren darum aber auch umso mehr zur Struktur sprengenden Verselbstständigung. Die Volksszenen stehen beispielsweise so eigenständig für sich, dass die Unterordnung zu einem funktionellen Nebeneinander wird („in ihnen wird Geschichte nicht nur repräsentiert, in ihnen findet Geschichte mit jedem Augenblick statt.“[8] ). Die Anordnung der Szenen bewirkt eine Betonung der latenten Spannungen des Zeitalters. Durch Strukturprinzipien der Kontrastierung und Steigerung wird ein Zusammenschluss der einzelnen Szenen erreicht.

Nach Hegele gibt es zwei Grundtypen von Szenen: zum einen große, selbstständige Demonstrierszenen, die eine außerordentliche Handlungs- und Stofffülle bewältigen, die Volks- und Schlachtszenen (z. B.: I, 1; III, 1). Sie sind vielgliedrig und haben generell mehr als einen Höhepunkt. Hauptmittel zur Bewältigung der Stofffülle ist die Abschnittfolge.[9] Die Demonstrierszenen besitzen feste Elemente oder Figuren, an denen wechselnde Elemente und Figuren vorbeiziehen (beispielsweise Chassecœur und Vitry in I, 1, vor denen sich das Panoptikum der Pariser Gesellschaft darbietet). Grabbes Absicht ist hier eine Häufung des Geschehens, was die ihm attestierte Tendenz zum Realismus zeigt. Neben den großen stehen kurze Szenen, die kleine Genrebilder darstellen (z. B.: II, 3; III, 2). Am Szenenaufbau und -wechsel zeigt sich der Charakter des Geschehensdramas: Es geht vor allem darum, Formen auszubilden, die Geschehen fassen und nicht innere Kämpfe und Entscheidungen darstellen können.

Die Komposition zielt darauf ab, „Geschichte in bestimmten sinnhaltigen Zusammenhängen dramatisch darzustellen, nicht nur das tragische Schicksal eines großen Geschichtshelden zu gestalten. Geschichtsepoche und Geschichtsheld sind unlösbar miteinander verbunden.“[10]

2.2 Auflösung einer durchgehenden Handlung

Gegenstand des Dramas ist die Geschichte. Die dramatische Handlung im Napoleon besteht damit nicht in der Veränderung einer Figurenkonstellation, sondern in der Abfolge geschichtlicher Vorgänge, die durch die objektive Struktur des historischen Prozesses aufeinander aufbauen. Die Handlungsstruktur ist durch den Ablauf eines vieldimensionalen historischen Prozesses vorgezeichnet.[11] Geschichte aus Grabbes Sicht gelangt so zu unmittelbarer realistischer Darstellung. Dabei bauen die Handlungsteile nicht logisch aufeinander auf, folgen sie doch sukzessive dem Geschichtsfluss. Es existiert also keine Haupthandlung im eigentlichen Sinne. Abrupte Abbrüche kennzeichnen den Handlungsverlauf. Im Unterschied zur geschlossenen Dramenform gibt es auch keine durchlaufende Personenkette.

Die Handlung bildet keine Einheit, denn „(d)ie Geschichte tritt hier wie im Rohzustand entgegen: […] Dem Dramatiker selbst ist es nicht mehr gelungen, ein einziges und zusammenhängendes Konzept gegenüber seinem Stoff durchzusetzen: er wird hin- und hergerissen zwischen Napoleon und den Massen, dem mächtigen Geschichtsheros und der Revolution, seiner Vergötterung der Größe und dem liberalen Zeitgeist der eigenen Tage. Er sprengt nicht nur die geschlossene Form des Dramas und mit dem vierten Aufzug, den Schlachtenszenen, auch die Dimensionen der Bühne, sondern die innere Einheit des Geschehens überhaupt, jene ‚innere Form’ […][12]

Einstieg in die Handlung bildet das Gespräch zweier ehemaliger Kaisergrenadiere. Diese bekunden ihre Unzufriedenheit mit den Umständen, in denen sie leben und rufen sich die Zeit unter Napoleon ins Gedächtnis zurück. Bereits hier finden sich Anspielungen auf eine mögliche Rückkehr Napoleons. Verschiedene Personen anderer Schichten und politischen Ansichten betreten die Bühne und erzeugen ein lebhaftes Abbild des Lebens im Paris des Jahres 1815. Unzufriedenheiten und Spannungen werden lauter, bis mit dem Einzug Napoleons (er hatte vorher nur einen kurzen Auftritt in einer Szene auf Elba) und der Rebellion der Vorstädter der vorläufige Höhepunkt erreicht ist. Napoleon lenkt die weitere Geschichte und bereitet den Krieg gegen die europäischen Nachbarländer vor. Die Handlung gipfelt in den Schlachtszenen (für Grabbe scheint die Schlacht die Essenz der Geschichte zu sein.[13] ), das Schicksal nimmt Bonaparte die Zügel aus der Hand. Zwar gewinnen die Franzosen die Schlacht bei Ligny, bei Waterloo unterliegen sie jedoch den Alliierten. Napoleon sagt: „General, mein Glück fällt - Ich falle nicht.“ (V, 7) Im letzten Teil werden Schlacht und Schlachterlebnis zum eigentlichen Helden des Dramas.

[...]


[1] Klotz, S. 11

[2] Klotz, S. 123

[3] Vgl. Klotz, Radikaldramatik

[4] Schröder, S. 138f.

[5] Schneilin, S. 171

[6] Vgl. Hegele, S. 220ff.

[7] Hegele, S. 222

[8] Schröder, S. 145

[9] Vgl. Hegele, S. 163

[10] Hegele, S. 218

[11] Vgl. Werner, S. 118

[12] Schröder, S. 139

[13] Vgl. Schröder, S. 157

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Radikaldramatik?
Untertitel
Zu Elementen einer neuen Dramenform in Christian Dietrich Grabbes ‚Napoleon oder die hundert Tage’
Hochschule
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt  (Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät, Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
Proseminar Literatur und Revolution: Der deutsche Vormärz
Note
1,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
15
Katalognummer
V207108
ISBN (eBook)
9783656342427
ISBN (Buch)
9783656342465
Dateigröße
543 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Grabbe, Napoleon, Radikaldramatik, offene Dramenform, Drama, Dramenanalyse, Napoleon oder die hundert Tage
Arbeit zitieren
Veronika Seitz (Autor:in), 2007, Radikaldramatik?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/207108

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