Über die Notwendigkeit: Der Ananke-Begriff in Platons "Timaios"


Seminararbeit, 2012

17 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. ANANKE in der griechischen Denkgeschichte

2. Bedeutung von ANANKE in der Atomistik

3. Der ANANKE -Begriff im Timaios
3.1 ANANKE, EIKOS LOGOS, und das Verhältnis von AITIA und SYNAITIA
3.2 ANANKE und die Schüttelbewegung der CHORA
3.3 ANANKE und die Ordnung der Elemente

Schluss

Literaturverzeichnis

Vorwort

ΑΝΑΓΚΗ. Diese Buchstaben – eingeritzt in eine Mauer der Notre-Dame in Paris - haben den französischen Schriftsteller Victor Hugo inspiriert den weltberühmten Roman „Notre-Dame de Paris“, zu Deutsch „Der Glöckner von Notre Dame“ zu verfassen, so ist es im Vorwort von 1831 zu lesen. In dem Roman versuchte Victor Hugo das Motiv der Ananke literarisch zu verarbeiten, es geht dort um Schicksal, äußersten Zwang und um eine über den Tod hinausgehende Bindung, wie sie im Schlussbild des Romans, die zwei eng umschlungenen Skelette des Glöckners und der Zigeunerin, poetisch zum Ausdruck gebracht wird. Das Prinzip von Ananke, welches von Victor Hugo aufgegriffen und auf die Neuzeit projiziert wurde, zieht sich durch die gesamte griechische Literatur- und Denkgeschichte, wurde in verschiedenster Weise eingesetzt und war großem Bedeutungswandel ausgesetzt. Dennoch soll in dieser Arbeit der Versuch unternommen werden, gerade in Auseinandersetzung mit Denkern, die vor Platon Ananke in ihr philosophisches Denken einbezogen haben, den Ananke-Begriff in Platons „Timaios“ zu analysieren. Denn um die Verwendung und Bedeutung dieses programmatischen Begriffs im „Timaios“ klären zu können, müssen die Kontexte untersucht werden, in denen er im griechischen Denken gebraucht wurde. Dabei wird in dieser Arbeit das Augenmerk besonders auf der Atomistik liegen. An keiner Stelle im Dialog wird Demokrit direkt erwähnt, jedoch lassen viele Stellen in der Darstellung der platonischen Kosmologie an atomistische Lehren denken, sei es aufgrund von Unvereinbarkeit oder (scheinbarer) Ähnlichkeit, was einen flüchtigen Leser leicht verwundern kann. Wie sich herausstellen wird, markiert Ananke eines der wichtigsten Prinzipien in der atomistischen Kosmologie, und Platon widmet den ganzen zweiten Teil seiner kosmologischen Rede der Darstellung von dem, „was aus Notwendigkeit geschieht“[1]. Welche Rolle nun die Ananke in der platonischen Konzeption von der Entstehung des Kosmos einnimmt, soll im Folgenden geklärt werden. Zum diesem Zweck wird zunächst auf die Wortbedeutung von Ananke und die Verwendung des Begriffs in der Atomistik eingegangen, um dies dann auf die Ananke im „Timaios“ anlegen zu können.

1.ANANKE in der griechischen Denkgeschichte

Um sich der Bedeutung von Ananke in Platons Timaios zu nähern, scheint es hilfreich, den historischen und philosophischen Kontext, in dem der Begriff verwendet wurde, zu betrachten. Der Begriff fand schon bei Homer Verwendung. Mit der Formel ἄγειν ἀνάγκῃ („in Fesseln abführen“) wird das Führen von Tieren, die unter einem Joch gespannt sind, beschrieben. Übertragen dann auf den Menschen wird der Vorgang der Gefangennahme und Versklavung, das Abführen des Menschen wie ein Tier, ausgedrückt. So ergeben sich „Joch“ oder „Fessel“ als eine frühe Grundbedeutung von Ananke, die „Fessel der Ananke“zwingt den Menschen in eine Fremdherrschaft.[2]

Bei Parmenides wird diese Grundbedeutung der Fessel und des Bindens in einen philosophischen Kontext gebracht. Hier drückt der Begriff der Ananke sowohl eine Notwendigkeit des Denkens wie eine Notwendigkeit des Seins aus: Notwendig ist es zu denken, dass das Seiende nicht dem Werden unterliegen kann. Diese Art des Denkens ist sozusagen ver-bindlich.[3] „Ferner ist es [das Seiende] unbeweglich in den Grenzen gewaltiger Fesseln, ohne Anfang, ohne Ende, da Entstehen und Vergehen in die weiteste Ferne verschlagen worden sind [...]. Als dasselbe und in dem selben verharrend ruht es in sich selbst und bleibt so fest auf der Stelle; denn ein mächtiger Zwang (ἀνάγκη) hält es in den Fesseln der Grenze, die es ringsum umschließt.“[4] Das Sein befindet sich in den Fesseln der Ananke, d.h. es ist begrenzt in dem Sinne, dass es weder Werden noch Vergehen kennt. Das mythologische Bild der Fesseln bzw. Bänder der Ananke drückt die Unveränderlichkeit des Seins aus. Eine ähnliche Bedeutung von Ananke lässt sich auch bei Pythagoras nachweisen: Nach Aetius soll Pythagoras gesagt haben, dass Ananke den Kosmos begrenze und umgebe (περικεῖσθαι) und von dem Pythagoreer Philolaos wird der Satz überliefert, es scheine ihm so, dass alles durch Ananke und Harmonia entstehe.[5] Neben Ananke als weltbindende Instanz wird mit Harmonia nun ein neues Prinzip eingeführt: alles entsteht aus Bindung und Fügung. Dass dieser pythagoreische Gedanke in Platons Kosmologie aufgegriffen wird, wenn er sagt, dass der Kosmos zustande kam durch das „Zusammentreten von Notwendigkeit und Vernunft“[6], ist offensichtlich.[7] Auch im Er-Mythos in der „Politeia“ wird das mythologische Bild der Bänder der Ananke aufgegriffen. Durch die Bänder, die die personifizierte Ananke in Händen hält, wird der Kosmos zusammengehalten: „Dieses Licht (auf welches Er blickt) ist nämlich das Band des Himmels, ähnlich den Gurten der Kriegsschiffe, und hält das ganze schwingende Gewölbe zusammen. An diesen Enden (die Enden der Bänder) ist die Spindel der Notwendigkeit befestigt […].“[8]

2. Bedeutung von ANANKE in der Atomistik

In der Atomistik nimmt der Ananke-Begriff eine zentrale Stellung ein, er wird zu dem weltenbildenden Prinzip überhaupt erklärt. So sollen hier nun kurz Grundgedanken der atomistischen Kosmologie ausgearbeitet werden, um dies dann als Ausgangspunkt einer Analyse der Stellung der Ananke in Platons Kosmologie zu nehmen. In der atomistischen Lehre werden zwei gegensätzliche Prinzipien als Archai gesetzt: Die Atome als unteilbare Einheiten und das Leere (τό κενόν), zwar substanzlos, dessen Existenz nach atomistischer Auffassung aber notwendig angenommen werden muss.[9] Die Atome können gerade dadurch definiert werden, dass sie keinen Anteil am Leeren haben, sie sind das Volle (πλῆρες). „Volles nannte er nämlich die Atome und erklärte, daß diese durch Leeres getrennt werden würden. Aus der Verflechtung nun des Leeren und des Vollen werde alles in seine bestimmte Formgestalt gebracht“[10] Durch die Verflechtung der Atome mit dem Leeren treten die Atome in den wahrnehmbaren Gegenständen in Erscheinung. Allein aus diesen beiden Prinzipien, dem Vollen und dem Leeren, lässt sich das Werden und Vergehen jedoch nicht ableiten. Die Bewegtheit der Atome muss als Voraussetzung für Werden und Vergehen angenommen werden, da Werden nichts anderes ist als die Verflechtung von Atomen untereinander und mit dem Leeren, Vergehen das Auflösen dieser Bänder bedeutet, dies aber nur unter der Bewegung der Atome geschehen kann.[11]

„Demokrit spricht (von der Bewegung) jener kleinsten Körper, die sich offensichtlich hinauf und hinab bewegen und schwingen und sich verflechten und auseinandertreten und umherschwirren und dies alles aus Notwendigkeit (ἐξ ἀνάγκης).“[12] Die Bewegung und Verflechtung der Atome geschieht aus Notwendigkeit; Ananke wird somit zur Ursache des Entstehens und Vergehens der wahrnehmbaren Gegenstände erhoben, welche sich im Binden der Atome aneinander bzw. in der Auflösung dieser Bindungen äußert. Wenn von Verkettung und Bindung gesprochen wird, ist auch die Grundbedeutung von Ananke als das „fesselnde Joch“ nicht mehr weit entfernt.[13]

Als Bild für die Bewegung, die zur Atombindung führt, wird von einigen Autoren der Begriff δίνη verwendet: die Atome schwirren in einem Wirbel herum, und dieser Wirbel entsteht von selbst (ἀπὸ ταὐτομάτου): „Es gibt aber einige, die als Ursache dieses Himmels und aller Welten das „Von selbst“ angeben. Von selbst nämlich entstünden der Wirbel und die Bewegung, die das All getrennt und in diese Anordnung gebracht haben.“[14] Die Bewegung „von selbst“ ist Ausdruck der Notwendigkeit. Diogenes Laertius identifiziert gar δίνη mit Ananke.[15] Ob dies nun eine zu starke Vereinfachung der Sachlage darstellt, sei dahingestellt. Es zeigt aber die enge Verbindung dieser zwei Begriffe auf.[16]

[...]


[1] Tim.47e.

[2] Vgl. Schreckenberg, Heinz: Ananke. Untersuchungen zur Geschichte des Wortgebrauchs. München 1964, S. 7 ff.

[3] Vgl. Schreckenberg 1964, S. 106 ff.

[4] B8, 43-53. In: Gemelli Marciano, M. Laura: Die Vorsokratiker. Band II. Stuttgart 2010, S. 21f.

[5] Schreckenberg 1964, S. 103.

[6] Tim. 48a.

[7] Vgl. Schreckenberg 1964, S. 105.

[8] Resp. 616d.

[9] Vgl. DK 67 A 7. In: Gemelli 2010. Band III , S. 327.

[10] Philop. in Phys. I 5,188 a 19 - p. 116,21. In: Löbl 1989, S. 68.

[11] Vgl. z.B. DK 67 A 9, in: Gemelli 2010, S.329 und Galen - de elem. sec. Hipp I 2. In: Löbl 1989, S. 50.

[12] Suda s. v. Εἱμαρμένεη . In: Löbl, Rudolf: Demokrit. Texte zur seiner Philosophie. Amsterdam / Atlanta 1989, S. 54.

[13] Vgl.Schreckenberg 1964, S. 166ff.

[14] DK 68 A 69. In: Gemelli 2010, S. 337.

[15] Vgl. Diog. Laert. IX 45.

[16] Vgl. Schreckenberg 1964, S. 115.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Über die Notwendigkeit: Der Ananke-Begriff in Platons "Timaios"
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen  (Philosophisches Seminar)
Veranstaltung
Proseminar: Platons Timaios
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
17
Katalognummer
V206857
ISBN (eBook)
9783656338352
ISBN (Buch)
9783656340300
Dateigröße
500 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Platon, Timaios, Platons Timaios, Ananke, Demokrit, Parmenides, Griechische Philosophie, Notwendigkeit, Chora
Arbeit zitieren
Florian Mittelhammer (Autor:in), 2012, Über die Notwendigkeit: Der Ananke-Begriff in Platons "Timaios", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/206857

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