Wechselseitiges Vertrauen durch gemeinsame Werte als Ursache der Exklusion im europäischen Einigungsprozess


Hausarbeit, 2012

21 Seiten, Note: 1,3

Jannina Wielke (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I. Europäische Identität und Vertrauen

II. Vertrauen durch gemeinsame Werte
II.1 Die Bedeutung gemeinsamer Werte für die Bildung von Vertrauen
II.2 Die Rolle des Vertrauens in internationalen Beziehungen
II.3 Zwischenergebnis

III. Vertrauen im Erweiterungsprozess
III.1 Mechanismen der EU-Erweiterung
III.2 Der Erweiterungsmechanismus und die Türkei
III.3 Zwischenergebnis

IV. Die Beitrittsdebatte: Deutung und Wahrnehmungen
IV.1 Die Rolle von Werten im Beitrittsdiskurs
IV.2 Werteähnlichkeiten zwischen der Europäischen Union und der Türkei
IV.3 Die Messbarkeit kultureller Unterschiede
IV.4 Zwischenergebnis

Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Einleitung

Die Europäische Union befindet sich im 55. Jubiläumsjahr der Römischen Verträge in einer schweren Krise. Ihre Ursachen unterliegen verschiedentlichen Etikettierungen als Legitimationskrise (Hochleitner/ Scheich 2007: 57-58), als Erweiterungskrise (Vobruba 2000: 477-478) oder zurzeit medial dominierend als Schuldenkrise. Tatsächlich liegen die Wurzeln jedoch tiefer und berühren die fundamentale Grundlage der Union: das Vertrauen; Vertrauen in die Handlungs- und Problemlösungsfähigkeit der Institutionen, in die Wahrung der eigenen Werte und Kultur, besonders aber in die Aufrichtigkeit der Gliedstaaten. Denn Vertrauen in die Anderen ist ein wesentlicher Indikator für die Messung des transnationalen Zusammenhalts innerhalb Europas, beschreibt es doch „eine Verhaltensdisposition, die solidarische Handlungen wahrscheinlich werden lässt“ (Delhey 2004: 18).

Spielte Vertrauen in die EU lange Zeit nur eine sekundäre Rolle, solange sich die europäische Staatengemeinschaft vornehmlich als Wirtschaftsgemeinschaft definierte, wurde es zum konstituierenden Element in dem Augenblick, als die politische und gesellschaftliche Integration Europas zunehmende Bedeutung gewann (Küçük 2008: 15-16). Denn die Integrationspolitik der europäischen Regierungen setzt ein grundsätzliches Vertrauen der jeweiligen Bevölkerungen in die anderen Nationen voraus, andernfalls diese Politik durch Stimmenverluste abgestraft würde (Kleiner 2012: 1, ebenso Gerhards 2006: 14, Vobruba 2005: 341-342).

Vor diesem Hintergrund erlangt die nicht abbrechende Debatte über einen türkischen EU-Beitritt eine besondere Brisanz, dominiert in diesem Diskurs doch die kulturalistische Argumentationslinie, welche die sozio-kulturellen Unterschiede betont (Alber 2004: 465) und gleichsam eine von der türkischen verschiedene europäische Identität hervorhebt. Diese speist sich wiederum aus der vermeintlich gemeinsamen europäischen Kultur und soll, als Bindemittel dienend, den Vertrauensverlust innerhalb der für den Einzelnen zunehmend unschärfer werdenden Union kompensieren. Dabei definiert sich diese Identität in bewusster Abgrenzung zu anderen Identitäten, oder anders gewendet: Nur durch die Existenz eines Fremden kann Europa sich selbst definieren (Küçük 2008: 21-27).1 Für Vobruba bedeutet diese Entwicklung das Ende der bisherigen Logik der europäischen Erweiterung, welche er als Dialektik von Expansion und Integration bezeichnet (Vobruba 2005: 349-350).

Claus Offe konnte in Anlehnung an Konzeptionen Emilé Durkheims einen Zusammenhang zwischen gemeinsamen Wertüberzeugungen und der Bildung von Vertrauen zeigen (Offe 2001). Verschiedene Studien haben einen Zusammenhang zwischen Wertüberzeugungen und Vertrauen im Risikomanagement respektive der Risikoeinschätzung nachgewiesen (Siegrist 2001). In einem weiteren Schritt konnten Delhey und Kleiner einen Zusammenhang zwischen kulturellen Ähnlichkeiten und wechselseitigem Nationenvertrauen aufzeigen (Delhey 2004, Kleiner 2012). Darauf aufbauend soll vorliegend im Rahmen einer Luhmannschen Betrachtung zweiter Ordnung gezeigt werden, dass „Vertrauen“ und „gemeinsame Werte“ im EU-Expansionsprozess, insbesondere im Zusammenhang mit der Türkei, exkludierende Funktionen erhalten haben. Dabei geht es nicht darum, zu beurteilen, ob ein türkischer EU-Beitritt im Lichte der Maastrichter oder anderweitiger Kriterien sinnvoll und wünschenswert ist. Vielmehr soll in Ergänzung zu und Anlehnung an Georg Vobruba dargelegt werden, dass die zunehmende Bedeutung von transnationalem Vertrauen innerhalb der EU und ihre Abgrenzung nach außen sich wechselseitig bedingen.

I. Europäische Identität und Vertrauen

Indem sich die europäische Integration zunehmend auf einer sozio-politischen Ebene abspielt und immer stärker alle Bereiche des persönlichen Lebens tangiert, würde sich laut Delhey unweigerlich auch die Bildung eines heterogenen europäischen Sozialraumes vollziehen. In Anlehnung an Karl Deutsch und Max Weber definiert er Integration grundsätzlich als Beziehungsgeflecht zwischen Gesellschaften, welches von Relevanz und sozialem Zusammenhalt geprägt sei. (Delhey 2004: 17, 20). Schließlich führe die zunehmende Zusammenarbeit und Solidarität zu einem europäischen Kollektivbewusstsein und einer Schwächung nationaler Identitäten. Dabei kommt es aber keineswegs zu einer Internationalisierung von Vertrauen beziehungsweise Identität, sondern lediglich zu einer Europäisierung. Statistisch führt diese nicht zu einer Änderung in den Einschätzungen der Europäer gegenüber außerhalb der EU angesiedelter Nationen Eine signifikante Ausnahme bildet alleine die Türkei, gegenüber der Misstrauen und subjektives Abgrenzungsempfinden zunahmen (Delhey 2004: 20, 35-37).

Ein solches Beziehungsgeflecht setzt Vertrauen in die Aufrichtigkeit des Interaktionspartners voraus und ist daher grundsätzlich fragil. Vertrauen wird hier nach Claus Offe definiert als „eine Überzeugung über das Handeln des anderen. Diese Überzeugung bezieht sich auf die Wahrscheinlichkeit, dass bestimmte Gruppen von anderen in einer bestimmten Weise handeln oder nicht handeln werden, wobei diese Handlungen/ Unterlassungen das Wohlergehen dessen, der vertraut betreffen“ (Offe 2001: 249). Die Schwäche des Beziehungsgeflechts, wie auch allgemein von Vertrauensbeziehungen, liegt dabei in dem Risiko, dass die Handlungen anderer nicht antizipiert werden können und Beziehungssysteme daher latent verletzbar bleiben (Kramer 1999: 571).

Folglich bedarf es eines gemeinsamen Bezugsrahmens, der sicherstellt, dass die Interaktionspartner die gleichen Interessen verfolgen. Diesen Rahmen bildet die gemeinsame Identität, welche die Individuen zu einem kompromissvollen und solidarischen Handeln verpflichtet, wobei diese sich wiederum aus einer sozialen Integration, das heißt aus Vertrauensbeziehungen, speist (Eisenstadt 2001: 340ff, Offe 2001: 267-271).

II. Vertrauen durch gemeinsame Werte

Wenn sich Identität (wesentlich) über Vertrauen generiert, erhält die Frage nach dessen Ursachen einen zentralen Stellenwert. Umso erstaunlicher ist es, dass sie erst spät Gegenstand einer breiteren soziologischen Forschung geworden ist. Erst nachdem durch verschiedene Rational Choice-Ansätze deutlich geworden war, dass zwischenmenschliche Vertrauensbeziehungen sich nicht auf ökonomische Kosten-Nutzen-Analysen reduzieren lassen (Eisenstadt 2001: 333), rückte die Frage „from bit player to center stage in contemporary organizational theory and research” auf (Kramer 1999: 594). Dabei gilt noch heute Luhmanns Definition vom Vertrauen als hilfreichem Mechanismus, welches es ermöglicht, in einer komplexen Umgebung handlungsfähig zu bleiben und Kosten einzusparen (Delhey 2004: 18).

II.1 Die Bedeutung gemeinsamer Werte für die Bildung von Vertrauen

Für Claus Offe ist die Qualität der institutionellen und konstitutionellen Ordnung ausschlaggebend für die Herausbildung von Vertrauen, sofern diese nicht alleine eine Verpflichtung für den Vertrauenden impliziert, sondern auch die Erwartung, dass andere im gleichen Maße an diese Verpflichtung gebunden sind. Hierbei geht er davon aus, dass sich eine moralische Reziprozitätsverpflichtung herausbildet, sobald die Interaktionspartner bestimmte Regeln als normativ bindend anerkennen (Offe 2001: 254, 267-268). Diese Normen speisen sich aus einem Set gemeinsamer Werte und Rituale, wie zum Beispiel der moralischen Stigmatisierung von Vertrauensbrechern. Sie bilden die soziale Schnittmenge aller Mitglieder einer Gesellschaft und bedingen kontextunabhängige Verhaltensmuster (Durkheim 1977: 122-128).

Diese „mechanische Solidarität“ gewinnt besonders in unpersönlichen Beziehungsnetzwerken an Bedeutung, wenn Vertrauen nicht mehr durch persönliche Erfahrungen begründet werden kann und generalisiert werden muss (Offe 2001: 261-262, Siegrist 2001: 9-10). Dies ist insbesondere im Vertrauensverhältnis Massen - Eliten bedeutsam, da nach Offe politische Institutionen alleine kein Vertrauen generieren können: „Institutionen sind unserer Zuversicht auf ihr Funktionieren nur in dem Maße würdig, wie wir den Akteuren vertrauen können, die dafür zuständig sind, diese Informationen zu verteidigen, sie zu interpretieren, sie zu erneuern und ihre Regeln loyal in Handlungen umzusetzen“ (Offe 2001: 276). Institutionen können also nur soweit Vertrauen generieren, wie sie aufgrund der von ihnen verkörperten Werte Vertrauen erwerben können (Braithwaite 1998: 56). Unter diesem sogenannten „sozialen Vertrauen“ versteht man die Bereitschaft, jenen, welche die Entscheidungsgewalt besitzen, wohlwollende Absichten zu unterstellen (Siegrist, Cvetkovich, Roth 2000: 354).

In Ergänzung zu Offe unterscheidet Valerie Braithwaite zwei Wertesysteme: das „security oriented value system“, in welchem „soziales Vertrauen“ über das Bedürfnis generiert wird, sich und/ oder seine Gruppe vor Schaden durch andere zu schützen und die eigene Position zu verbessern, und das „harmony oriented value system“, in welchem die Prosperität der Gruppe durch Ressourcenteilung dominiert (Braithwaite 1998: 49-57). Welche Orientierung ausschlaggebend ist, hängt dabei wesentlich vom Kontext und den wahrgenommenen Risiken ab (Siegrist 2001: 30ff).

Siegrist, Cvetkovich und Roth konnten weiterhin einen Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung von (technischen) Risiken beziehungsweise der subjektiv wahrgenommenen Glaubwürdigkeit von Experten und den Wertüberzeugungen feststellen. Teilen die Verantwortlichen dieselben Werte, werden die Risiken geringer und der Nutzen höher eingeschätzt (Siegrist, Cvetkovich, Roth 2000: 354-356). Auch hier spielt „soziales Vertrauen“ eine zentrale Rolle, denn dem Vertrauensgeber wird regelmäßig das notwendige Fachwissen fehlen, um sich eine fundierte, von Experten unabhängige Meinung bilden zu können (Siegris 2001: 7).

Zwar haben Siegrist et al. die Wahrnehmung technologischer und nicht politischer Risiken untersucht, doch lassen sich deren Ergebnisse auf diesen Bereich übertragen. Indem man hier mangels Möglichkeit zur interpersonellen Vertrauensbildung oder mangels ausreichender Kenntnisse der Zusammenhänge Vertrauen über Institutionen generiert, entsteht ein sozio-kulturelles Zusammengehörigkeitsgefühl, da man der gleichen Wertegemeinschaft angehört. Dabei werden jedoch zwangsläufig andere Gruppen ausgeschlossen. Diese ausgeschlossene Gruppe wird größer, je stärker Vertrauen auf der Zugehörigkeit zur eigenen Wertegemeinschaft beruht (Offe 2001: 273).

[...]


1 Es gehört zu den Treppenwitzen der Geschichte, dass sich die politischen Europaideen des 16. bis 18. Jahrhunderts immer über das Feindbild „Osmanisches Reich“ respektive „der Türke“ konstituiert hatten. Vgl. hierzu Küçük 2008: 31.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Wechselseitiges Vertrauen durch gemeinsame Werte als Ursache der Exklusion im europäischen Einigungsprozess
Hochschule
Universität Hamburg
Note
1,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
21
Katalognummer
V206657
ISBN (eBook)
9783656338635
ISBN (Buch)
9783656339441
Dateigröße
441 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Vertrauen, Europa
Arbeit zitieren
Jannina Wielke (Autor:in), 2012, Wechselseitiges Vertrauen durch gemeinsame Werte als Ursache der Exklusion im europäischen Einigungsprozess, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/206657

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