Die Scharnierpartei?

Die Koalitionsoptionen von CDU/CSU, SPD und FDP vor der Bundestagswahl 1969


Seminararbeit, 2012

24 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Aufbau
1.2 Forschungsstand

2. Begriffsklärung – Scharnierpartei

3. Die Bundestagswahl 1969

4. Die Entwicklung der Parteien bis 1969
4.1 FDP
4.2 SPD
4.3 CDU

5. Koalitionssignale vor der Bundestagswahl 1969
5.1 SPD - FDP
5.2 SPD - CDU/CSU
5.3 CDU/CSU - FDP

6. Koalitionsoptionen und -verhandlungen nach der Bundestagswahl 1969

7. Zusammenfassung und Fazit

8. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Der Begriff der Scharnierpartei ist allgemein gebräuchlich. Oft wird die FDP mit diesem Begriff in ihre Rolle im Parteiensystem eingeordnet. Er soll speziell auf Basis ihres Koalitionsverhaltens geprägt worden sein.[1] Aber was genau ist eine Scharnierpartei? Welche Besonderheiten und Merkmale besitzt sie, dass sie explizit in ihrer Funktion von anderen Parteien getrennt wird? Und welche Partei ist eine Scharnierpartei? Gibt es verschiedene Definitionen und unterschiedliche Vorstellungen, die mit diesem Begriff einhergehen? Diese Fragen sollen im Rahmen der vorliegenden Arbeit analysiert werden. Jedoch ist nicht die Begriffsgeschichte von besonderem Interesse, sondern die Analyse einer, in der Wissenschaft und der Öffentlichkeit allgemeinen Wahrnehmung: Die FDP sei die Scharnierpartei im deutschen Parteiensystem, insbesondere im Zeitraum des Drei-Parteien-Systems, gewesen.[2] Dies kann durchaus behauptet werden, ist jedoch nicht besonders aussagekräftig, wenn nicht genau definiert und geklärt ist, was eigentlich eine Scharnierpartei auszeichnet.

Diese Fragestellungen sollen im Rahmen eines Fallbeispiels beantwortet werden:
Die Bundestagswahl 1969, in deren Folge mit der sozial-liberalen Koalition die erste von der SPD-geführte Regierung auf Bundesebene an die Macht kam. Die grundsätzlichen Fragen der vorliegenden Arbeit lauten dementsprechend: Was ist eine Scharnierpartei und gab es 1969 eine solche?

1.1 Aufbau

Die Fragen, was eine Scharnierpartei eigentlich ist, welche Merkmale sie mitbringen muss, um als solche klassifiziert zu werden sowie die Unterschiede in der Begriffswahrnehmung werden im zweiten Kapitel beantwortet, in dem darauf aufbauend ein Analyseschema entwickelt wird, nach dem die Parteien am Ende der Arbeit untersucht werden.

In Kapitel Drei wird die Entwicklung der drei 1969 im Parlament vertretenen Parteien geschildert und ihre Stellung im Parteiensystem besonders herausgestellt. Das Verständnis und die Ausgangslage für die Koalitionsoptionen der Parteien wird erläutert und ermöglicht ein besseres Verständnis des Fallbeispiels. Daraufhin erfolgt im vierten Kapitel eine Analyse der Koalitionsoptionen und -signale der Parteien vor der Bundestagswahl. Es wird zunächst das Verhältnis von SPD und FDP, darauf folgend das von SPD und Union sowie abschließend das zwischen Union und FDP untersucht.

Im Kapitel Fünf erfolgt die Darstellung der Koalitionsbildung nach der Bundestagswahl auf Basis der vorangegangenen Erläuterungen. Diese ist zentral, um die Parteien nach dem in Kapitel Zwei entwickelten Analyseschema zu untersuchen. Diese Untersuchung erfolgt nach einer kurzen Zusammenfassung im abschließenden sechsten Kapitel und endet mit der Beantwortung der Frage, ob es eine Scharnierpartei im vorliegenden Fall gab und wenn ja, welche Partei dies war.

1.2 Forschungsstand

Der Forschungsstand in Bezug auf die Analyse des Begriffs „Scharnierpartei“ ist gerade im deutschsprachigen Raum nicht sehr ausgeprägt und demzufolge verbesserungswürdig. Vielfach wird der Begriff nur allgemein und qualitativ genutzt, so z.B. von Hans-Jörg Dietsche[3], und wenig erklärt. Eine inhaltliche und auch quantitative wissenschaftliche Analyse erfährt der Begriff der Scharnierpartei insbesondere im englischen Sprachraum als „Pivotal Party“[4], oder seltener auch als „Hinge Party“[5].

Die Geschichte der Parteien ist vielfach niedergeschrieben worden. Die Zahl der Werke ist entsprechend umfangreich, wenn gleich sie auch vielfach in normativer Erzählweise verfasst und nicht unbedingt den wissenschaftlichen Sprachstandards angepasst sind. Eine umfassende Darstellung der Geschichte der CDU/CSU liefert z.B. Hans-Otto Kleinmann mit seiner „Geschichte der CDU“[6]. Die FDP umfassend porträtiert hat Jürgen Dittberner[7] und dergleichen für die SPD leistet Joseph Rovan mit der „Geschichte der deutschen Sozialdemokratie”[8]. Die Artikel des Magazins „Der Spiegel“ sind schwerpunktmäßig zur ergänzenden Beschreibung der Entwicklung der Parteienkonstellation und verschiedener wichtiger Ereignisse, so die Bundespräsidentenwahl, herangezogen worden, um einen fachlichen Ausgleich zu den eher beschreibenden Monographien sicherzustellen.

Arnulf Barings „Machtwechsel“[9], Kaltefleiters Analyse der Bundestagswahl 1969 „Im Wechselspiel der Koalition“[10] und Dexheimers Werk über die „Koalitionsverhandlungen in Bonn“[11] liefern Hintergründe und detailgenaue Angaben über die Koalitionsbildung bzw. die Stellung der Parteien zueinander. Besonders Kaltefleiter wartet mit präzisen soziologisch-statistischen Wahlanalysen auf, mit denen das Politische- und das Koalitionsverhalten der Parteien von einer wissenschaftlichen Sichtweise her umfassend verstanden und analysiert werden kann.

2. Begriffsklärung – Scharnierpartei

Der Begriff der „Scharnierpartei” ist in der wissenschaftlichen Fachliteratur vielgebraucht, jedoch kaum näher bestimmt. In der englischen Fachliteratur entsprechen die Begriffe der „Pivotal Party” und der „Hinge Party” am ehesten dem der „Scharnierpartei”. Dominique Rémy definiert und klassifiziert eine „Pivotal Party” auf Basis folgender Variablen: die relative Größe der Partei (bezogen auf das Parlament), die Position der Partei im Parlament und die Position der Partei in ihrer Koalition.[12] Je nach Ausprägung der Variablen ergeben sich dabei folgende vier Typen von „Scharnierparteien”:

- Die „Complementary Party”, eine die Koalition ergänzende Partei, die bei einem Koalitionsaustritt selbige nicht grundsätzlich in ihrer Existenz gefährdet.[13]
- Die „Buffer Party”, welche sich im ideologischen Zentrum der Koalition befindet und den Einfluss der ideologischen Extreme der Koalition pufferartig dämpft und bei einem Ausscheiden entweder eine Verschiebung der Koalition nach links oder rechts oder die Auflösung selbiger nach sich zieht.[14]
- Die „Balance Party” befindet sich im ideologischen Zentrum des Parlaments und zugleich im extremen Spektrum der Koalition und ein Ausscheiden würde unweigerlich das Ende Koalition nach sich ziehen. Dabei kann die Balance Party auch die dominante Partei sein.[15]
- Die „Wing Partei“ kommt einer klassischen Flügelpartei am nächsten. Sie befindet sich am extremen Rand einer Koalition, nicht im ideologischen Zentrum des Parlaments und kann durchaus dominant sein und je nach ihrer Größe kann ihr Ausscheiden zu einem Zerfall der Koalition führen.[16]

Eine weitere Unterscheidung liefern Siaroff und Abedi[17], welche die „Pivotal Role“ kleiner Parteien auf einer Skala von 0 bis 5 bewerten:

- 0 = Die Partei ist nicht im Parlament vertreten.
- 1 = Die Partei ist im Parlament vertreten, eine große Partei besitzt aber eine absolute Mehrheit.
- 2 = Die Partei ist im Parlament vertreten, keine Partei besitzt eine absolute Mehrheit und auch eine Koalition aus einer der großen Parteien und der untersuchten kleinen Partei besitzt keine Mehrheit.
- 3 = Die Partei ist im Parlament vertreten, keine Partei besitzt eine absolute Mehrheit und eine Koalition der größten Partei mit der untersuchten Partei besitzt ebenso die Mehrheit, wie eine Koalition dieser größten mit einer anderen kleinen Partei.
- 4 = Die Partei ist im Parlament vertreten, keine Partei besitzt eine absolute Mehrheit und eine Mehrheitskoalition ist nur möglich, wenn die untersuchte kleine Partei mit der größten Partei koaliert.
- 5 = Die Partei ist im Parlament vertreten, keine Partei besitzt eine absolute Mehrheit und die Koalition mit einer der großen Parteien, egal welcher, führt zu einer Mehrheitsregierung.

Diese Analyse basiert rein auf den arithmetischen Verhältnissen der Koalitionsmöglichkeiten nach den Wahlen. Diese Tatsache führt zu dem klaren Ergebnis, dass die FDP in den 1960er bis in die 1980er Jahre als einzige Partei neben der SPD und der CDU/CSU die perfekte, mit 5 bewertete „Pivotal Role” inne hatte, da sie als einzige kleine Party im Bundestag vertreten war und zugleich die arithmetische Schlüsselposition in Bezug auf eine erfolgreiche Koalitionsbildung inne hatte. Zugleich führt diese Analyse zu einem großen Unterschied im Grundverständnis des Begriffs „Scharnierpartei”. Während die vorgestellten Quellen im Wesentlichen von der quantitativen Analyse auf Basis der Arithmetik der Wahlergebnisse auf die Rolle und Stärke einer Scharnierpartei schließen, vernachlässigen sie die qualitative Dimension. Im deutschen Sprachraum und in der Fachliteratur wird auf diese qualitative Wertung mehr Bezug genommen. Wichtiger noch als der qualitative Ansatz des deutschen Begriffsverständnisses ist die temporale Dimension, die diesem zugrunde liegt. Während die internationalen Quellen eher zu einer Analyse a posteriori neigen, impliziert der deutsche Begriff einer „Scharnierpartei” in Bezug auf Wahlen eher eine Analyse a priori und erreicht damit eine ganz andere Bedeutung.

Müller et. al. formulierten 1995 die folgende Aussage: „Die koalitionsstrategische Position einer Scharnierpartei beruht […] auf einer zentralen Rahmenbedingung: dem ,optionalen Monopol’. Nur eine Scharnierpartei verfügt über [mindestens, V.T.] zwei realistische und strategisch argumentierbare Koalitionsoptionen[18] Diese definitorische Aussage erwähnt zwei zentrale Punkte, die eine „Scharnierpartei“ von den vorangestellten „Pivotal Party“-Definitionen unterscheiden: Die „Scharnierpartei“ hat Koalitionsoptionen mit mehr als einer anderen Partei, die zur Mehrheit im Parlament führen können. Koalitionsoptionen haben Parteien in der Regel nur direkt nach Wahlen bis zur Regierungsbildung – nur in diesem Zeitraum sind diese Optionen nutzbar.[19] Sie müssen sowohl realistisch, also qualitativ wie quantitativ, und strategisch, also für die „Scharnierpartei“ zielführend, sein. Dies bedeutet, dass eine Partei wie z.B. die FDP in den 1960er Jahren zwar in der arithmetischen Dimension eine Scharnierfunktion einnehmen, diese Rolle aber nicht zwangsläufig auch realpolitisch ausspielen kann, da u.U. nur eine einzige realistische und strategische Koalition möglich sein kann und sie somit nur teilweise der Definition einer Scharnierpartei unterliegt.

[...]


[1] Vgl. Dietsche, Hans-Jörg: Eine Renaissance der kleinen Parteien? Zu den Entwicklungsmöglichkeiten kleinerer Parteien im deutschen Volksparteiensystem, in: Jun, Uwe /Kreikenbom, Henry/Neu, Viola: Kleine Parteien im Aufwind: Zur Veränderung der deutschen Parteienlandschaft, Frankfurt a.M. 2006, S. 67.

[2] Vgl. ebd.; Lösche, Peter: kleine Geschichte der deutschen Parteien, Köln 1993, S. 147.; Glotz, Peter: Die deutsche Rechte, München 1989, S. 77 u. 115.

[3] Vgl. Dietsche, S. 67.

[4] Vgl. Rémy, Dominique: The Pivotal Party. Definition and Measurement, in: European Journal of Political Research, Nr. 3/1975, S. 293-301.; Abedi, Amir/Siaroff, Alan: Pivotal Parties in Germany Since 1961, Western Political Science Association 2010 Annual Meeting Paper, San Francisco 2010, online abzurufen unter: http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=1581146, zuletzt abgerufen am 19. September 2012.

[5] Dietsche, S. 67.

[6] Kleinmann, Hans-Otto: Geschichte der CDU, Stuttgart 1993.

[7] Dittberner, Jürgen: Die FDP. Geschichte, Personen, Organisation, Perspektive. Eine Einführung, Wiesbaden 2005.

[8] Rovan, Joseph: Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Frankfurt a. M. 1980.

[9] Baring, Arnulf: Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel, München 1982.

[10] Kaltefleiter, Werner: Im Wechselspiel der Koalitionen. Eine Analyse der Bundestagswahl 1969, Köln 1970.

[11] Dexheimer, Wolfgang F.: Koalitionsverhandlungen in Bonn. 1961-1965-1969, Bonn 1973.

[12] Vgl. Rémy, S. 295.

[13] Vgl. ebd., S. 295-296.

[14] Vgl. ebd., S. 296-297.

[15] Vgl. ebd., S. 297-298.

[16] Vgl. Rémy, S. 298.

[17] Vgl. Abedi/Siaroff, S. 8-10.

[18] Müller, Wolfgang C./Plasser, Fritz/Ulram, Peter A. (Hrsg.): Wählerverhalten und Parteienwettbewerb. Analysen zur Nationalratswahl 1994, Wien 1995, S. 506.

[19] Koalitionen können sich auch innerhalb der Legislaturperiode verändern, wie z.B. 1966, jedoch bildeten derartige unregelmäßige Veränderungen jedoch eine Ausnahme im deutschen Koalitionsgefüge auf Bundesebene.

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Die Scharnierpartei?
Untertitel
Die Koalitionsoptionen von CDU/CSU, SPD und FDP vor der Bundestagswahl 1969
Hochschule
Technische Universität Chemnitz  (Institut für Politikwissenschaft)
Veranstaltung
Parteiensystem und Koalitionspolitik in der Bundesrepublik Deutschland
Note
1,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
24
Katalognummer
V206594
ISBN (eBook)
9783656344490
ISBN (Buch)
9783656344889
Dateigröße
552 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
"[...] analytische Herangehensweise, nachvollziehbar und angemessen [...]" "[...]Stil schnürkellos, direkt[...]"
Schlagworte
Scharnierpartei, SPD, FDP, CDU/CSU, CDU, CSU, Bundestagswahlen, 1969, Bundestagswahlen 1969, Koalitionspotionen
Arbeit zitieren
B.A. Volker Trotte (Autor:in), 2012, Die Scharnierpartei?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/206594

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Die Scharnierpartei?



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden