Das KZ-Außenlager Rottleberode: Bedingungen und selbständige Tendenzen


Bachelorarbeit, 2012

49 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Das KZ-System Mittelbau
2.1 Die Herausbildung der Außenlager
2.2 Die Bedingungen in den Außenlagern

3. Das Außenlager Rottleberode
3.1 Gründung im Kontext der Untertageverlagerung
3.2 Die Lebensbedingungen der Häftlinge
3.2.1 Organisation und Auswirkungen auf die Lebenswelt
3.2.1.1 Unterkunft und Ernährung
3.2.1.2 Medizinische Versorgung
3.2.2 Verschlechterung der Bedingungen durch Abschiebepraxis - das Nebenlager Stempeda
3.3 Beziehungen zum Stammlager
3.3.1 Häftlingstransporte
3.3.2 Handlungsräume der SS- Lagerführung

4. Zusammenfassung und Ausblick

Quellenverzeichnis

Literaturverzeichnis

Anhang

Selbständigkeitserklärung

1. Einleitung

Das Konzentrationslager Mittelbau- Dora erhält durch die Vielzahl seiner Außenlager den Charakter eines Mikrokosmos der KZ- Haft und Zwangsarbeit mitten in Deutschland. Das Außenlager Rottleberode scheint sich mit durchschnittlich 1000 Häftlingen vollkommen in diesen Lagerkomplex einzuordnen und darin aufzugehen. Auch heute zeugt nur noch ein Gedenkstein an der Heimkehle-Höhle von der Existenz dieses KZ-Außenlagers. Dieser marginalen Darstellung entsprechend, werden die Außenlager in der Forschung oftmals als genaue Abbilder des Stammlagers angesehen, indem die Außenkommandos „[...] in der Organisation und Methode einschließlich des ausgeübten Terrors dem Hauptlager genau entsprachen“[1]. Die Vielzahl der Außenlager im KZ-System Mittelbau und deren unterschiedliche Entwicklungen und Existenz- und Arbeitsbedingungen machen es allerdings unmöglich, von einem homogenen System zu sprechen, vielmehr ist eine differenzierte Detailuntersuchung der einzelnen Außenlager erforderlich. Hierin findet die vorliegende Arbeit ihren Ansatzpunkt. Es stellt sich die Frage, inwiefern das Außenlager Rottleberode selbständige Strukturen aufweist und ob es möglich ist, von einer Verselbständigung des Außenlagers zu sprechen.

Um die Fragestellung nach dem Grad der Selbständigkeit eines Außenlagers umfassend zu beantworten, ist es zunächst notwendig, die Merkmale eines selbständigen Konzentrationslagers darzulegen. Wolfgang Benz definiert die formale Autonomie eines KZ allgemein durch die Unterstellung unter die Inspektion der Konzentrationslager bzw. das SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt. Die Konzentrationslager werden zentral als Bestandteil des Terrorapparates unter dem Reichsführer-SS Himmler verwaltet.[2] Diese Definition macht deutlich, dass von einer formalen Selbständigkeit lediglich bei den „großen“ Konzentrationslagern zu sprechen ist. Dieses Merkmal ist auf der Ebene der Außenlager nicht anwendbar, da diese dem jeweiligen Stammlager formal unterstellt und organisatorisch untergeordnet sind. Jedoch führt Benz an, dass weitere Formen des Konzentrationslagers entstehen, die „trationslagers entstehen, die "[...] aus bestimmten Zweckbestimmungen heraus Eigenleben und Dauer entwickelten“[3]. Die Selbständigkeit eines Konzentrationslagers kann daher auch auf Ebenen festgestellt werden, in denen ein „Eigenleben“ in Form verselbständigender Tendenzen innerhalb des Lagers zu erkennen ist.

Zur Beantwortung der komplexen Fragestellung nach selbständigen Tendenzen im Innern müssen die Bedingungen des Außenlagers im Einzelnen betrachtet werden. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Häftlinge können nicht nur durch Beschreibung der Zustände nachvollzogen werden, sondern deren Ursachen und Folgen; sowie die Veränderungen sind zu unterscheiden. Es stellt sich daher die Frage, wodurch die spezifischen Existenzbedingungen bedingt sind und inwieweit dabei der Einfluss des Stammlagers greift. Zunächst erfolgt die Kontextualisierung des Außenlagers Rottleberode in der Darstellung der Entwicklung des KZ-Systems Mittelbau-Dora, wobei besonders die Herausbildung der Außenlager im Rahmen der Untertageverlagerungen der Rüstungsindustrie im Vordergrund steht. Weiterhin werden die allgemeinen Lebens- und Arbeitsbedingungen in den Außenlagern des nationalsozialistischen KZ-Systems im Verhältnis zu den Stammlagern dargestellt. Die zweite Betrachtungsebene eröffnet sich mit der einführenden Darstellung des Außenlagers Rottleberode und dessen Gründung im Zuge der Expansion der Untertageverlagerungen im Gebiet um das KZ Mittelbau-Dora. Dabei steht besonders die Frage nach der Funktion des Außenlagers für die Häftlingszwangsarbeit im Mittelpunkt und inwieweit diese durch das Stammlager bedingt ist.

Den Schwerpunkt der Betrachtung des Außenlagers Rottleberode bilden die Lebensbedingungen der Häftlinge, deren Leiden allerdings im Rahmen der Arbeit nicht beschrieben werden können. Vielmehr stehen die Ursachen dieser Bedingungen im Vordergrund, um zu klären, welche Faktoren sich auf Leben und Arbeit im Außenlager Rottleberode auswirken und wo Verantwortungen liegen. Anhand der Einflussfaktoren wird geklärt, inwieweit äußere Faktoren Einfluss nehmen oder wie die Bedingungen durch selbständige Prozesse im Außenlager geprägt werden. Dabei werden zunächst die Organisation und deren Auswirkung auf die Häftlinge untersucht, wobei vor allem die Häftlingsarbeit, die Unterkunft und Ernährung sowie die medizinische Versorgung beachtet werden. Veränderungen der Bedingungen sowie deren Hintergründe werden anhand der Bildung eines Sublagers weiterhin verdeutlicht.

Anschließend eröffnet sich durch die Beziehungen zum Stammlager eine übergreifende Perspektive auf das Außenlager. Durch die Betrachtung der Häftlingstransporte werden Rückschlüsse auf wechselseitige Beziehungen und Einflussmöglichkeiten gezogen. Weiterhin wird geklärt, in welcher Form das SS-Personal die Bedingungen in Rottleberode determiniert und inwieweit eine Einflussnahme des Stammlagers auf die Lagerführung besteht.

Die Grundlage bilden die Quellen zum Außenlager, die einen Perspektivenwechsel zwischen der Täter- und der Opfersicht ermöglichen, indem Dokumente der Verwaltung; sowie Aussagen und Erinnerungsberichte der Täterseite einen Blick auf das Lager von außen ermöglichen, während die Erinnerungsberichte und Zeugenvernehmungen der Häftlinge einen Eindruck aus dem Lager heraus vermitteln.

Die Forschungslage zum System der Konzentrationslager ist besonders in Bezug auf die Entstehung und Struktur sehr gut ausgearbeitet, die Außenlager haben allerdings bisher nur wenig Beachtung gefunden.[4] Seit den 1990er Jahren entsteht jedoch neues Interesse, da die Außenlager konkrete Zeugnisse des nationalsozialistischen Terrors mitten in der Gesellschaft liefern können, wie Benz beschreibt.[5] Auch das KZ Mittelbau- Dora galt zunächst als eines der „vergessenen Lager“, welches erst Mitte der neunziger Jahre in der Forschung Beachtung fand. Hervorzuheben sind dabei besonders die Beiträge der Historiker Jens-Christian Wagner und Joachim Neander, die sich intensiv mit der Entstehung und Struktur des KZ-Systems Mittelbau auseinandersetzen.[6] Insbesondere die Forschungen Wagners zum Außenlagersystem des Konzentrationslagers bilden den Ansatzpunkt der vorliegenden Arbeit, indem nun ein einzelnes Außenlager stärker in den Mittelpunkt der Betrachtung gesetzt wird. Wagner beschreibt die Interdependenzen innerhalb des Systems der Außenlager, geht dabei aber weniger auf verselbständigende Tendenzen einzelner Lager ein. Die Forschungslage zu den Außenlagern des KZ Mittelbau-Dora ist weiterhin nur in Ansätzen vorhanden. Einzig Wagners Darstellung der einzelnen Außenlager des KZ Mittelbau in dem von Wolfgang Benz und Barbara Distel herausgegebenen Sammelband "Der Ort des Terrors" gibt einen Überblick über das Außenlager Rottleberode.[7] Einen weiteren Forschungsgegenstand bildet die Lebenswelt der Häftlinge, wozu Frank Wiedemanns Arbeit zum Alltag und den Lebensbedingungen im Stammlager Mittelbau-Dora einen wichtigen Beitrag leistet[8], allerdings stellt sich weiterhin die Frage nach den abweichenden Lebensbedingungen in den Außenlagern. Dies bildet einen weiteren Ansatzpunkt der vorliegenden Arbeit, wobei die spezifischen Lebensbedingungen in Rottleberode sowie deren Ursachen im Zusammenhang mit den Strukturen des Außenlagers untersucht werden.

2. Das KZ-System Mittelbau

Das Konzentrationslager Mittelbau bei Nordhausen entsteht im Kontext des letzten großen Zeitabschnitts der Entwicklung der KZ, der einerseits durch die Durchdringung der Gesellschaft mit den sich ausweitenden Lagerkomplexen und anderseits durch die Bedürfnisse der Rüstungsindustrie bedingt ist. Die zuvor isolierten "Orte des Terrors" werden nach Kaienburg im Zuge des Zweiten Weltkrieges zum "Arbeitskräftereservoir"[9] der Wirtschaft. Die Zwangsarbeit der Häftlinge in der letzten Phase des Krieges wird, wie Joachim Neander beschreibt, zu einem "Hauptzweck" der Konzentrationslager, da die Gefangenen nun massenhaft für die Rüstungsproduktion eingesetzt und neue Lager mit dem Ziel der Zwangsarbeit gebildet werden.[10] Für die Kriegswirtschaft war im Frühjahr 1943, neben technischen Schwierigkeiten, Rohstoff- und Treibstoffmangel, besonders die Beschaffung von Arbeitskräften ein gravierendes Problem. Florian Freund zeigt dabei auf, dass nur die SS zu diesem Zeitpunkt in der Lage war, KZ-Insassen als Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. Jedoch kam es nicht durch Drängen der SS zum verstärkten Einsatz der Häftlinge in der Raketenrüstung nicht, vielmehr forderten die Verantwortlichen der Raketenproduktion den Rückgriff auf KZ-Gefangene, um die Produktion aufrecht zu erhalten.[11]

Das KZ Mittelbau welches im Rahmen des Projektes der Untertageverlagerung am 28. August 1943 gegründet wird, ist in da Geflecht von KZ-Haft und Zwangsarbeit einzuordnen. Als ein Außenlager des KZ Buchenwald unterstand es diesem und hatte entgegen dieser "Unterordnung" von Beginn an eine gesonderte Stellung für die Rüstungsindustrie inne. Dies ist durch die Verlagerung der sogenannten „V-Waffen“, der Produktion der A4-Rakete, in das Stollensystem im Kohnstein nahe der Stadt Nordhausen begründet. Diese Verlagerungen entstehen aus der Notwendigkeit, die Produktionsanlagen vor alliierten Bombenangriffen zu schützen. Die Bombardierung eines Produktionsorts der A4-Rakete, der Heeresversuchsanstalt Peenemünde, am 17. und 18. August 1943, macht die Dezentralisierung unumgänglich. Der eigens für die Produktion der A4-Rakete gebildete Sonderausschuss A4 unternahm nun Anstrengungen, die Fertigungsanlagen sowie die gesamte Herstellung an einen geeigneten Standort zu verlagern, wobei bereits im Juni 1943 Förderungen für die Produktion veranlasst wurden, da die A4-Produktion als dringlichstes Rüstungsprojekt erachtet wurde. Demzufolge hatten die Gesuche der Leitung des Sonderausschusses, unterstützt von Wernher von Braun und Albert Speer, Erfolg. Der Förderung der Untertageverlagerung wurde zugestimmt, sodass diese innerhalb kürzester Zeit realisiert werden konnte.[12] Als geeignete Fertigungsanlage wurde ein Stollensystem in der Nähe der Stadt Nordhausen ausgewählt, welches bereits ab 1936 von der WiFo, der wirtschaftlichen Forschungsgesellschaft, zu einem unterirdischen Treibstofflager der Wehrmacht ausgebaut wurde.

Bornemann betont dabei, dass der SS beim Ausbau der Fertigungsanlagen eine bestimmende Rolle zukommt, da das gut organisierte SS-Bauwesen den Stollenausbau innerhalb kürzester Zeit mit dem Einsatz von Häftlingen ausführen konnte- und somit auch die Arbeitskräfte für die Produktion lieferten.[13] Dieser Einsatz wurde durch den Kammler-Stab organisiert und durchgeführt. Auf diese Weise konnte die SS ihre Bedeutung in der Rüstungsindustrie geltend machen und ihre Macht, besonders durch die SS- Baubrigaden und die Baukommandos, weiterhin ausbauen. Die SS gewann nach Freund zwar einerseits weitere Kompetenzen durch die Organisation der Bauprojekte, andererseits wies die Industrie der SS nur die eingeschränkte Rolle des Verleihs von Arbeitskräften zu.[14] Es zeigt sich, dass die Wirtschaft, besonders die Rüstungsindustrie, nun eine zentrale Rolle bei der Häftlingszwangsarbeit einnimmt. Freund beschreibt diesen Sachverhalt wie folgt: "Es entwickelte sich eine Arbeitsteilung zwischen der SS, dem Munitionsministerium und der Industrie, die zum Vorteil der Beteiligten und zu Lasten der KZ-Häftlinge funktionieren sollte"[15].

Nur zehn Tage nach der Bombardierung Peenemündes, am 28. August 1943 erreicht der erste Häftlingstransport mit 107 Häftlingen des KZ Buchenwald das Stollensystem, womit die Zwangsarbeit in den Verlagerungsprojekten im Südharz ihren Anfang nimmt.[16] Innerhalb weniger Monate steigt die Zahl der Häftlinge stark an, Wagner benennt beinah tägliche Transporte aus dem KZ Buchenwald zum Stollen bei Nordhausen, wodurch Ende Oktober bereits 6800 Häftlinge und zum Jahresende 1943 etwa 10500 Häftlinge in der unterirdischen Anlage untergebracht sind.[17] Zu diesem Zeitpunkt war noch kein Barackenlager als Unterkunft für die Häftlinge errichtet, welche stattdessen in Schlafkammern im Stollen eingepfercht werden, um dort den Stollenausbau zu leisten. Unter schlechtesten Lebensbedingungen, wie mangelnder Hygiene, schlechter Versorgung, sowie der harten Arbeit, führt diese Bauphase dazu, dass bis März 1944 etwa 2900 Häftlinge im Arbeitslager Dora sterben.[18] Das KZ im Südharz wird innerhalb kurzer Zeit zu einem Zentrum der Häftlingszwangsarbeit in der Rüstungsindustrie, da neben dem Verlagerungsprojekt der V-Waffen weitere unterirdische Stollen- und Fertigungsanlagen errichtet werden sollen, um weitere Verlagerungen der Kriegsproduktion zu ermöglichen. Hierin sieht Jens-Christian Wagner die Spezifik des KZ Mittelbau-Dora, denn die Untertageverlagerung wurde zum Modell für weitere Verlagerungsprojekte der Rüstungsindustrie, die unter rücksichtlosem Einsatz der Häftlinge in den Bauvorhaben vorangetrieben wurden.[19]

2.1 Die Herausbildung der Außenlager

Die Sichtweise auf die Geschichte des KZ Mittelbau-Dora als Modell für weitere Verlagerungsprojekte zur Zwangsarbeit durch Häftlinge macht deutlich, dass die Einbeziehung der Außenlager in die Betrachtung unabdingbar ist. Die Vielzahl der wechselseitigen Bedingungen zwischen Haupt- und Außenlagern lassen von einem Netz der Häftlingslager und der Zwangsarbeit zur Rüstungsindustrie sprechen. Die Bedingungen der Außenlager sind jedoch keinesfalls gleichartig und werden durch verschiedene Faktoren geprägt, was sich direkt auf die Lebensbedingungen der Häftlinge im jeweiligen Außenlager auswirkt.

Die Herausbildung der Außenlager vollzieht sich in der Endphase der nationalsozialistischen Herrschaft, die durch eine Transformierung der Funktionen von Konzentrationslagern geprägt war, wie Jens-Christian Wagner beschreibt. Die Funktion des Terrors tritt aufgrund kriegswirtschaftlicher Ziele in den Hintergrund; die Konzentrationslager und ihre Umgebung werden zu Ballungsräumen der Häftlingszwangsarbeit.[20] Weiterhin kommt es durch die Kriegssituation zu einem verschärften Arbeitskräftemangel, der den Einsatz von Häftlingen in der Rüstungsindustrie ab dem Jahr 1943 entscheidend vorantreibt. Dies führt zur massiven Ausweitung der Häftlingszwangsarbeit durch Bildung neuer Außenlager, um den wirtschaftlichen Interessen der Privatbetriebe nachzukommen. Die Zahl der Konzentrationslager im Reich und in den okkupierten Gebieten wächst im April 1944 auf 20 Hauptlager mit 165 Nebenlagern an, während sie bis zum Kriegsende von Wagner mit etwa 1000 Außenlagern angegeben wird.[21] Es ist daher möglich von einem System von Haupt- und Außenlagern zu sprechen, welches sich im Jahr 1944 auch um das Arbeitslager Dora bildet; zu diesem Zeitpunkt selbst ein Außenlager des KZ Buchenwald. Die Ausläufer des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora greifen nun in die Umgebung und bilden sukzessive ein sich verdichtendes Netz von Außenlagern, die dem Stammlager unterstellt sind und von diesem verwaltet werden. Diese Dezentralisierung der Rüstungsbetriebe fördert eine weitgefächerte Verbreitung der Zwangsarbeit durch KZ- Häftlinge in der Region. Schließlich wird die Zahl dieser Lager zum Kriegsende um das Stammlager KZ Mittelbau von Wagner mit etwa 40 Außenlagern angegeben.[22]

Karin Orth stellt dazu fest, dass vor allem in den letzten Kriegsjahren ab 1943 das nationalsozialistische Lagersystem Änderungen erfuhr, was vor allem durch massive Verhaftungswellen geschuldet ist, welche die Zahl der Menschen in deutschen Konzentrationslagern auf bis zu 714 211 ansteigen lassen.[23] Auch dieser Faktor trägt zur Bildung von Außenlagern bei, kann jedoch nicht als primärer Grund der Außenlagerbildung um das Konzentrationslager Dora herum gewertet werden, da hier die Verlagerung von Rüstungsbetrieben im Vordergrund stand. Der Anstieg der Menschen in KZ-Haft, vor allem in Mittelbau-Dora, kann als Folge der massiven Verlagerung gesehen werden, die mehr Arbeitskräfte mobilisieren musste. Es entstanden neue Lagertypen, die von unterschiedlichen Funkionen geprägt waren. Dieser Funktionswandel besteht nun nicht mehr primär darin, dass die Häftlinge "Objekte des Terrors"[24] sind, wie Wolfgang Benz es beschreibt, sondern dass nun ihre Arbeitskraft zunehmende Bedeutung erhält.

Die Außenlager lassen sich funktional und auch nach der Art der Zwangsarbeit unterscheiden, wobei sich nach Karin Orth die Arten der Außenlager in zwei Typen differenzieren lassen: Besondere Bedeutung haben die Außenlager der Rüstungsindustrie, in denen die Häftlinge in der Fertigung Zwangsarbeit leisten müssen. Orth bezeichnet diese Kategorie als "Fabriklager"[25]. Im Mittelbau-Komplex nahm die Produktion von Flugzeugen und Flugzeugteilen der Firma Junkers eine wichtige Rolle ein, weshalb diese Lager im Folgenden als Produktionslager bezeichnet werden. Die ersten Außenlager des KZ Mittelbau-Dora entstanden jedoch, wie Joachim Neander feststellt, zur Unterstützung der V-Waffen Produktion. Diese dienten zur Lagerung der Raketen, von Zubehör und Ersatzteilen. Weiterhin wurden Außenlager mit Werkstätten eingerichtet, in denen Prüf- und Wartungsarbeiten durchgeführt werden konnten.[26] Doch die Entwicklung dieser Außenlager wird bereits durch die geplanten Verlagerungsprojekte für die Firma Junkers angedeutet, welche schon Ende des Jahres 1943 bestanden und den Ausbau durch Häftlinge miteinschlossen. Wagner bemerkt dazu, dass die Entscheidung, Kammler mit diesen Verlagerungsprojekten zu betrauen, ein entscheidendes Moment für die spätere Praxis der Verschiebung der Häftlinge in die Außenlager darstellt, da diese die Wechselbeziehungen zwischen den Haupt- und Außenlagern kennzeichnet.[27]

Ein weiterer Typ der Außenlager, die von Karin Orth beschrieben werden, sind die Baulager, in denen Häftlinge zum größten Teil zu Bauarbeiten herangezogen werden.[28] In Bezug auf das KZ Mittelbau-Dora trifft dies auf viele Außenlager zu, in denen der Stollenvortrieb und die Verlagerung von Fertigungsanlagen durchgeführt wurden, also die eigentliche Bauphase der Untertageverlagerung. Diese Bau-KZ werden als erste Außenlager im Zusammenhang mit dem Unternehmen Mittelbau gegründet, ab Mitte März 1944 beginnt damit die Hauptphase der Bau-KZ, wie Neander beschreibt. In diesem Zusammenhang entsteht das Außenlager Rottleberode als erstes Projekt der Untertageverlagerung außerhalb des Kohnsteins am 13. März 1944. Es folgen die größten Außenlager Harzungen im April 1944 und Ellrich im Mai 1944.[29]

Weiterhin stieg mit der Zahl der Außenlager auch die Gesamtzahl der Häftlinge stark an. Neander stellt dazu fest, dass sich im KZ-System Mittelbau-Dora Ende Mai 1944 insgesamt 16700 Häftlinge befanden, deren Anzahl Ende Oktober 1944 auf 31000 anstieg und am 31. März 1945 mit 41.000 den Höhepunkt erreichte. Diesen Anstieg begründet Neander durch die Entstehung der Baulager, in denen sich im Oktober 1944 die Hälfte aller Häftlinge des KZ-Systems befindet.[30]

Die Vielzahl der Außenlager konnte sich nur durch die Forderung der Wirtschaft nach zahlreichen und billigen Arbeitskräfte herausbilden, womit den Wirtschaftsunternehmen eine hohe Verantwortung für die Häftlingszwangsarbeit zugewiesen wird. Der Einsatz der KZ-Häftlinge bot den Unternehmen der Rüstungsindustrie erhebliche Vorteile, welche von Kaienburg aufgezeigt werden. Zunächst stellten die Häftlinge billige Arbeitskräfte dar, die in großer Vielzahl bereitstanden und selbst zu den schwersten körperlichen Arbeiten eingesetzt werden konnten, da die Unternehmen weder auf die Gesundheit noch auf das Leben der Häftlinge Rücksicht nehmen mussten. Weiterhin waren diese durch die Aufsicht der SS leicht zu disziplinieren und konnten zu enormen Anstrengungen gezwungen werden.[31] Hier wird deutlich, wie menschenverachtend die Unternehmen ihre wirtschaftlichen Interessen durchsetzten, während einem Menschenleben ausschließlich durch die Arbeitskraft ein Wert beigemessen wurde. Diese Einstellung macht sich daher auch in den Existenz- und Arbeitsbedingungen der Außenlager zur Zwangsarbeit bemerkbar. Allerdings bedeutete der Einsatz von Häftlingen auch Nachteile für die Wirtschaftsunternehmen. So behinderte der schlechte Gesundheitszustand oftmals die Produktion und die hohe Todesrate führte zu erhöhter Fluktuation der Arbeitskräfte, ebenso stellten Betriebsstörungen und Sabotageakte eine Gefahr für die Fertigung dar. Weiterhin befürchteten die Unternehmen ein verstärktes Eingreifen des Staates.[32] Diese Schwierigkeiten wurden allerdings in Kauf genommen, da nur die restlose Ausnutzung der Häftlinge die wirtschaftlichen Interessen decken konnte.

2.2 Die Bedingungen in den Außenlagern

Die Außenlager unterscheiden sich, wie bereits beschrieben, auch in den Lebensbedingungen, die allerdings nicht nur auf die Ziele der SS zurückzuführen sind. Die Unterschiede lassen darauf schließen, dass auch andere Faktoren die Existenzbedingungen in den Außenlagern beeinflussen. Nach Orth korrelieren die Todesrate und die Art des Nebenlagers, wobei die Sterblichkeit der Häftlinge in den Baulagern deutlich höher war als in den Produktionslagern.[33] Die Art der zu verrichtenden Arbeit wirkte sich direkt auf die Überlebenschancen aus. Während in den Baulagern die Ausbeutung der Arbeitskraft bis hin zur völligen Entkräftung und zum Tod in Kauf genommen wurde, standen in den Produktionslagern teilweise wirtschaftliche Interessen im Vordergrund, da die Rüstungsbetriebe an spezialisierten Arbeitskräften interessiert waren. Dennoch forderten die unterirdischen Ausbauarbeiten zur Verlagerung der Rüstungsindustrie, welche von Kaienburg beschrieben werden, extrem hohe Todesraten, die schwersten Bedingungen und einem extrem hohen Arbeitstempo geschuldet waren.[34] Die Art der Häftlingsarbeit hatte daher eine zentrale Bedeutung für die Überlebenschancen. Frank Wiedemann gibt dazu in seinem Werk zum Alltag im Konzentrationslager Mittelbau-Dora zu bemerken, dass die individuellen Fähigkeiten und Qualifikationen der Häftlinge enorm zur Verbesserung ihrer Überlebenschancen beitragen. In der letzten Phase des Krieges werden die Außenlager immer mehr auf die Wirtschaft ausgerichtet, weshalb die Erhaltung der qualifizierten Arbeitskräfte wichtig wird.[35] Fachliche Qualifikationen erhöhten daher die Möglichkeit, in einem Außenlager zur Produktion untergebracht zu werden, wobei hier oft schon die Arbeitsbedingungen, wie die Tätigkeit in einer Fabrikhalle oder körperlich leichtere Aufgaben über Leben und Tod der Häftlinge entschieden. In den Außenlagern des KZ Mittelbau-Dora gilt allerdings die Einschränkung, dass die Produktionsanlagen der Rüstung zu katastrophalen Bedingungen unter Tage in Stollen oder ausgebauten Höhlen eingerichtet wurden, in welchen schon die Umweltbedingungen (wie niedrige Temperaturen und gefährliche Umgebung) die Arbeitsbedingungen verschlechtern. Bessere Bedingungen existierten daher lediglich auf der Ebene der Art der Zwangsarbeit, bei der die Häftlinge qualifizierte Produktionsschritte ausführten und daher körperlich weniger schweren Tätigkeiten ausgesetzt waren. Bessere Überlebenschancen für Produktionshäftlinge leiten sich nach Wagner auch von den wirtschaftlichen Interessen der Unternehmen ab. Die Häftlinge waren meist längerfristig eingearbeitet und ihre Entkräftung oder ihr Tod hätte den Verlust einer Arbeitskraft bedeutet.[36] Hier wird ersichtlich, dass der Einsatz in einem Produktionskommando eine gewisse Mäßigung der schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen für die Häftlinge bedeutete, während die Situation für die Bauhäftlinge, die die Mehrheit der Insassen des KZ-Systems Mittelbau betraf, weitaus schlechter war und eine vollkommene Ausbeutung der Arbeitskraft im Stollenvortrieb oder in anderen Bauarbeiten bedeutete. Die Bedingungen im Außenlagersystem sind breit gefächert und weisen große Differenzen zwischen nahe gelegenen Außenlagern auf. Dies unterstreicht die These, dass nur detaillierte Einzeldarstellungen der Außenlager dem Gesamtbild des Außenlagersystems gerecht werden können.

[...]


[1] Benz, Wolfgang: Die Allgegenwart des Konzentrationslagers. Außenlager im nationalsozialistischen KZ-System, in: Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hrsg.), Dachauer Hefte 15: KZ-Außenlager. Geschichte und Erinnerung. 1999. S. 3-16. S.7.

[2] Vgl. Benz, Wolfgang: Nationalsozialistische Zwangslager. Ein Überblick, in: Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd.1, München 2005. S. 11- 29. S. 11f.

[3] Benz 2005: S. 12.

[4] Zur Organisation und Struktur vgl. Orth, Karin: Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Eine politische Organisationsgeschichte, Hamburg 1999; zur soziologischen Analyse vgl. Sofsky, Wolfgang: Die Ordnung des Terrors. Die Konzentrationslager, Frankfurt am Main 1993.

[5] Vgl. Benz 1999: S. 15f.

[6] Vgl. Wagner, Jens-Christian: Produktion des Todes. Das KZ Mittelbau-Dora, Göttingen 2001; Neander, Joachim: Das Konzentrationslager Mittelbau in der Endphase der NS- Diktatur. Clausthal-Zellerfeld 1999.

[7] Wagner, Jens-Christian: Mittelbau-Dora . Außenlager, in: Wolfgang Benz, Barbara Diestel (Hrsg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Bd. 7, München 2008, S. 291-342.

[8] Wiedemann, Frank: Alltag im Konzentrationslager Mittelbau-Dora. Methoden und Strategien des Überlebens der Häftlinge. Frankfurt am Main 2010.

[9] Kaienburg, Hermann: KZ-Haft und Wirtschaftsinteresse: Das Wirtschaftsverwaltungshauptamt der SS als Leitungszentrale der Konzentrationslager und der SS-Wirtschaft, in: Kaienburg, Herrmann (Hrsg.), Konzentrationslager und deutsche Wirtschaft 1939-1945, Opladen 1996, S. 29- 60. S.29.

[10] Vgl. Neander 1997: S. 5-7.

[11] Vgl. Freund, Florian: Die Entscheidung zum Einsatz von KZ-Häftlingen in der Raketenrüstung, in: Kaienburg, Herrmann (Hrsg.), Konzentrationslager und deutsche Wirtschaft 1939-1945, Opladen 1996. S. 64f.

[12] Vgl. Bornemann, Manfred: Geheimprojekt Mittelbau. Vom zentralen Öllager des Deutschen Reiches zur größten Raketenfabrik im Zweiten Weltkrieg, Bonn 1994. S. 35-37.

[13] Vgl. Bornemann 1994: S. 35ff.

[14] Vgl. Freund 1996: S. 70.

[15] Freund 1996: S.70.

[16] Vgl. Bornemann 1994: S. 44f.

[17] Vgl. Wagner, Jens-Christian: Noch einmal: Arbeit und Vernichtung, Häftlingseinsatz im KL Mittelbau-Dora1943-1945, in: Norbert Frei, Sybille Steinbacher, Bernd C. Wagner (Hrsg.), Ausbeutung, Vernichtung, Öffentlichkeit. Neue Studien zur nationalsozialistischen Lagerpolitik, München 2000: S. 11-42. S. 13.

[18] Vgl. ebenda.

[19] Vgl. ebenda.

[20] Vgl. Wagner, Jens-Christian: Das Außenlagersystem des KL Mittelbau-Dora, in: Ulrich Herbert, Karin Orth, Christoph Dieckmann (Hrsg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur, Bd. II, Göttingen 1998, S. 707-729. S. 707.

[21] Vgl. Wagner 1998: S. 710.

[22] Vgl. Wagner 1989: S. 707.

[23] Vgl. Orth 1999: S. 222ff.

[24] Benz 1999: S. 5.

[25] Vgl. Orth 1999: S. 240.

[26] Vgl. Neander 1997: S. 228f.

[27] Vgl. Wagner, Jens-Christian: Mittelbau-Dora. Stammlager, in: Wolfgang Benz, Barbara Diestel (Hrsg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Bd. 7, München 2008, S.223-289. S. 240.

[28] Vgl. Orth 1999: S. 245.

[29] Vgl. Neander 1997: S. 245.

[30] Vgl. Neander 1997: S. 236f.

[31] Vgl. Kaienburg 1996: KZ-Haft. S. 58f.

[32] ebenda.

[33] Vgl. Orth 1999: S. 240f.

[34] Vgl. Kaienburg, Hermann: Konzentrationslager und deutsche Wirtschaft 1939-1945, Opladen 1996. S. 273.

[35] Vgl. Wiedemann 2010: S. 84f.

[36] Vgl. Wagner 1998: S. 709.

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Details

Titel
Das KZ-Außenlager Rottleberode: Bedingungen und selbständige Tendenzen
Hochschule
Universität Leipzig  (Historisches Seminar)
Note
1,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
49
Katalognummer
V206387
ISBN (eBook)
9783656343158
ISBN (Buch)
9783656343714
Dateigröße
807 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
außenlagersystem, mittelbau-dora, beispiel, außenlagers, rottleberode
Arbeit zitieren
Sophie Volkmann (Autor:in), 2012, Das KZ-Außenlager Rottleberode: Bedingungen und selbständige Tendenzen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/206387

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