Rheinischer Kapitalismus durch tripartistischen Korporatismus. Ein Vergleich von Deutschland und Österreich


Vordiplomarbeit, 2003

44 Seiten, Note: nicht bewertet


Leseprobe


Inhalt und Gliederung

1. Einleitung

2. Definition Rheinischer Kapitalismus

3. Definition Korporatismus

4. Der deutsche Korporatismus
4.1 Die Konzertierte Aktion
4.2 Der „stille Korporatismus“
4.3 „Bündnis für Arbeit und Standortsicherung“ unter Helmut Kohl
4.4 „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ unter Gerhard Schröder
4.5 Gründe des Scheiterns der korporatistischen Modelle in Deutschland
4.6 Chancen für ein neues korporatistisches Modell in Deutschland

5. Der österreichische Korporatismus
5.1 Österreich
5.2 Entwicklung der Sozialpartnerschaft
5.2.1 Die Wirtschaftskommission
5.2.2 Das Wirtschaftsdirektorium
5.2.3 Die Paritätische Kommission für Lohn und Preisfragen
5.3 Österreich – ein Erfolgsmodell?
5.4 Langsames Ende des Korporatismus in Österreich?

6. Fazit

7. Anhang A - F

8. Literatur

9. Internetquellen (alle Stand September 2003)

1. Einleitung

„Die Welt wächst zusammen.“ „Europa wächst zusammen.“ „Märkte wachsen zusammen.“ Derartige Aussagen sind omnipräsent. Bewirkt wird dies nicht zuletzt durch die „Global Players“, die ihre Interessen an harmonisierten kapitalistischen Systemen durch die verschiedenen Angleichungsprozesse in diesem Bereich gut umgesetzt sehen. Fraglich ist, ob in dieser Zeit einzelne staatliche „Sonderwege“ wie der Rheinische Kapitalismus, eine reelle Überlebenschance haben: Rheinischer Kapitalismus basiert auf wirtschaftlichem Ausgleich und Konsensfindung durch Korporatismus. Das Thema der Praktikabilität des Korporatismus ist mit Blick auf das jüngst geplatzte „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ hoch aktuell. Im Folgenden soll daher anhand dieses Bündnisses und seiner Vorläufer untersucht werden, ob der Korporatismus in Deutschland jemals erfolgreich war und welche Fehler in der Vergangenheit gemacht wurden. Sollte sich dabei herausstellen, dass Korporatismus hier nicht oder nicht mehr funktionieren kann, wird sich dies auch auf den Rheinischen Kapitalismus übertragen lassen. Zunächst wird dazu der Begriff „Rheinischer Kapitalismus“, wie er in dieser Arbeit verstanden wird, erläutert. Es wird vor allem erklärt, weshalb Rheinischer Kapitalismus korporatistischer Bündnisse bedarf. Im Anschluss sollen die bisherigen Bündnisse in der Bundesrepublik Deutschland im historischen Kontext betrachtet werden, um die Gründe für ihre Auflösungen untersuchen zu können. Zur Beantwortung der Frage nach dem grundsätzlichen Funktionieren von Korporatismus, wird im Anschluss mit Österreich das Schulbeispiel eines korporatistischen Modells in seiner Entwicklung vorgestellt. Es eignet sich aus zwei Gründen besonders gut für eine vergleichende Betrachtung: Zum einen, weil hier verhältnismäßig lange und mit großer Zustimmung der Bevölkerung an einem Modell festgehalten wird, zum anderen, weil der Grad an Konzertierung[1] in Österreich extrem hoch ist.[2] Vor allem soll untersucht werden, ob die Probleme, die zur Beendigung der deutschen Modelle geführt haben, in Österreich nicht oder nur in geringerem Maße aufgetreten sind bzw. immer noch auftreten. Der Schwerpunkt all dieser Betrachtungen soll dabei auf wirtschaftspolitischen Entwicklungen und weniger auf dem Parlamentarismus liegen. Eine umfassende Entstehungsgeschichte der einzelnen Modelle soll und kann diese Arbeit nicht leisten, ebenso wenig detaillierte Beschreibungen jedes einzelnen Spitzengespräches. Abschließend soll nach diesem Versuch eines Vergleiches eine Aussage darüber getroffen werden, ob Korporatismus als Basis für Rheinischen Kapitalismus bisher funktioniert hat und weiterhin zukunftsträchtig sein kann.

2. Definition Rheinischer Kapitalismus

Der Begriff „Rheinischer Kapitalismus“, lässt sich heute in kaum einem Lexikon und den wenigsten politischen Wörterbüchern finden. Trotzdem ist er fester Bestandteil verschiedener Diskurse geworden.

„Gemeint ist - in Abgrenzung zu Wirtschaftsordnungen angelsächsischer oder asiatischer Ausformung - ein System korporatistischer, auf Konsens zielender Strukturen, die sich innerhalb eines demokratischen und die freie Marktordnung schützenden Rechtsstaates konstituieren und darauf gerichtet sind, breite Bevölkerungsschichten über einen ausgebauten Sozialstaat an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung teilhaben zu lassen.“[3]

So definiert der Politologe Lars Castellucci den Begriff, der ursprünglich eine Wortschöpfung des französischen Unternehmers Michel Albert ist. Dieser grenzte ihn erstmals 1992 in seinem Buch „Capitalisme contra Capitalisme“ gegen den angloamerikanischen Kapitalismus ab.[4] „Rheinisch“ bezieht sich nach Albert zunächst einmal auf die am Rhein gelegenen Staaten Schweiz, Deutschland, Niederlande (wobei er auch Japan und die skandinavischen Länder dem Rheinischen Kapitalismus zurechnet). „Rheinisch“ heißt für ihn aber ebenso „neudeutsch“, weil ausgehend von der „neuen“ deutschen Hauptstadt Bonn am Rhein[5] und dem Rheinstädtchen Godesberg, wo die SPD 1959 ihr Bekenntnis zum Prinzip „Wettbewerb so weit wie möglich - Planung so weit wie nötig!“[6] verfasste.

Damit bedeutet Rheinischer Kapitalismus zunächst einmal Abgrenzung, also Definition über den Unterschied zu anderen Kapitalistischen Systemen. Dieser Unterschied liegt unter anderem im Bekenntnis des Rheinischen Kapitalismus zum Sozialstaat. Er lässt also soziale Ideen und Probleme in (wirtschafts-)politische Entscheidungen einfließen. Ganz konkret spricht Albert von drei Punkten, in denen Rheinischer Kapitalismus damit anderen Modellen, insbesondere denen Englands und der USA, sozial überlegen sei: „1. Der Grad an Sicherheit, den jedes Modell seinen Bürgern bietet. Die Art und Weise, wie sie geschützt werden vor den größeren Risiken: Krankheit, Arbeitslosigkeit, familiäre Störungen usw. 2. Die Verringerung der sozialen Ungleichheit und die Art und Weise, wie die größten Ungerechtigkeiten beseitigt werden. 3. Die Offenheit, das heißt die mehr oder weniger große Möglichkeit für jedermann, die sozioökonomische Leiter zu erklimmen.“[7]

Diese drei Punkte würden erreicht durch ein komplexes und gut ausgebautes Sozialsystem.[8] Weiterhin sei der Rheinische Kapitalismus ein Kapitalismus der Banken,[9] während der angloamerikanische Kapitalismus einer der Börsen sei. Damit meint Albert die höhere Sparquote der rheinischen Länder, welche dazu führt, dass sich Unternehmen eher mit Fremdkapital denn mit Eigenkapital finanzieren. Umgekehrt bestehe somit das Vermögen der Privathaushalte eher aus ausgegebenen Darlehen als aus Aktien. Dies hat längere Anlagedauern zur Folge, da spontane Gewinnmitnahmen wie an der Börse im Sparbereich eher selten sind. Für Albert ist die Konsequenz solch längerfristiger Anlagen besonders starke Bindungen zwischen Kunden und Banken. Diese Bindungen seien „vom Geist gegenseitiger Zusammenarbeit geprägt.“[10] Das Gleiche gelte für die Bindungen zwischen Banken und Unternehmen, die sich primär durch Kredite finanzieren. Die Überzeugung über die Vorteilhaftigkeit einer Zusammenarbeit sei beispielhaft für den Rheinischen Kapitalismus. Sie fände u. a. sich wieder in den Regelungen zur betrieblichen Mitbestimmung,[11] die gerade in Deutschland eine lange Tradition genieße.

In seinem Kapitel „Geteilte Werte“[12] pointiert Albert die Wesenszüge des Rheinischen Kapitalismus: Gemeinschaftliches Interesse stünde vor dem individuellen, obwohl sich die Prinzipien von Liberalismus und Marktwirtschaft auch im deutschen Grundgesetz wieder fänden. Damit sei das rheinische Modell „eine Synthese zwischen Kapitalismus und Sozialdemokratie“.[13] Roland Sturm fasst Alberts Ausführungen wie folgt zusammen: „Der ‚Rheinische Kapitalismus’ ist in der realen Welt Kontinentaleuropas vor allem eine Chiffre für das Vertrauen in die auch ökonomisch begründbare wohlfahrtsstaatliche Überformung der Wirtschaft, die nicht zuletzt auf einem gesamtgesellschaftlichen Konsens beruht, der durch Entscheidungsverfahren der Partnerschaft sowohl in der Arbeitswelt als auch im Verhältnis von Staat und Wirtschaft immer neue Nahrung findet.“[14]

Interessanter Weise wird der Begriff des Korporatismus bei Albert nicht genannt. Trotzdem scheint auch er ihn bei seinen Ausführungen zum Rheinischen Kapitalismus stets als Voraussetzung für eine derartige Wirtschaftsform zu sehen, zumal er immer wieder „starke Gewerkschaften“ und „sozialen Konsens“ als Charakteristika anführt.[15]

Damit ist „Rheinischer Kapitalismus“ eng mit dem Begriff der „sozialen Marktwirtschaft“ verknüpft. Trotzdem sind sie nicht gleichzusetzen. Rheinischer Kapitalismus bekennt sich zu den Prinzipien sozialer Marktwirtschaft, zeichnet sich aber in stärkerem Maße durch sein Streben nach Konsens aus. Dieses Konsensdenken findet sich in den korporatistischen Ansätzen wieder. Deswegen soll nun der Begriff des Korporatismus erläutert werden.

3. Definition Korporatismus

In der Literatur wird zwischen unterschiedlichsten Formen von Korporatismus differenziert, die sich zumeist durch das Präfix wie Meso-, Makro o. ä. unterscheiden.[16] Darüber hinaus gibt und gab es Zwangskorporatismus in totalitären Systemen (z.B. in Italien unter Mussolini). Einigkeit herrscht in der Korporatismusforschung lediglich darüber, dass es „den einen“ Korporatismusbegriff nicht gibt.[17] Insofern kann nur dargestellt werden, wie der Begriff in dieser Arbeit verwendet wird.

Die Ausführungen zum Rheinischen Kapitalismus machen die Tendenz bereits deutlich. Unter „Korporatismus“ wird hier zunächst eine Abkehr vom Pluralismus[18] hin zu freiwilliger, von allen Beteiligten als vorteilhaft empfundener Beteiligung gesellschaftlicher Organisationen an politischen Entscheidungsprozessen verstanden.[19] Dies wird erstmals von P. C. Schmitter als „Neokorporatismus“ beschrieben.[20] Um so eine Aufgabe erfüllen zu können, ist Organisations-, Konflikt- und Verpflichtungsfähigkeit der beteiligten Verbände nötig[21], ebenso eine umfassende und nicht bloß partikulare Interessenvertretung.[22]

Paradebeispiel ist der tripartistische Korporatismus. Hier handelt es sich um ein Bündnis dreier Parteien, die regelmäßig Vertreter der Spitzenverbände von Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie der Regierung sind. Die Verbände werden in diesem Fall in Vorgänge der Wirtschafts- und Sozialpolitik eingebunden. Diese Einbeziehung kann unterschiedlicher Intensität sein, angefangen bei Anhörungsrechten bis hin zur direkten Funktionsübernahme, bei der man von „Inkorporation“ durch die Regierung spricht.[23] Dabei ist die juristische Legitimation solch korporatistischer Modelle unterschiedlich. Oftmals basieren sie lediglich auf einer unverbindlichen Absprache.

Grundsätzlich liegt immer ein Tauschprinzip zu Grunde, nicht nur zwischen den beteiligten Verbänden, sondern auch zwischen ihnen und dem Staat: Einerseits entlasten die Verbände durch ihre Tätigkeit und ihre Fachkompetenz den Staat (z.B. durch Schaffung von Akzeptanz neuer Regelungen bei ihren Mitgliedern), andererseits übernimmt der Staat regelmäßig die Rolle des Organisatoren und ist auf Grund seiner übergeordneten Stellung Vermittler zwischen unterschiedlichen Interessen der Verbände.

Korporatismus lässt per se nicht messen. Dennoch existieren Kennzahlen. Eine davon ist das Ausmaß der Zentralisierung von Organisationsautorität bei Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, da die hieraus resultierende Verpflichtungsfähigkeit der Mitglieder eine Grundbedingung für ein Funktionieren des Tauschprinzips ist.[24] Bernhard Weßels führte diese Indizierung des Zentralisierungsgrades anhand gesammelter Daten von Gewerkschaften und aus seiner Studie „Makrostrukturen von OECD-Ländern“ durch.[25]

Diese Werte alleine wären jedoch unbefriedigend, da die bloße Fähigkeit zur Mitgliederverpflichtung noch nichts darüber aussagt, ob diese auch im korporatistischen Sinne zum „Tausch“ genutzt wird.[26] Weßels bedient sich hierzu des arithmetischen Mittels aus einem Indikator für konsensuale Einkommenspolitik in Industrienationen und einem Indikator über den Grad volkswirtschaftsweiter Akteurskoordination. Diesen Wert, der sich also an vergangener korporatistischer Einflussnahme auf Lohn- und Verbandspolitik orientiert, nennt er „Konzertierung“ und legt ihn mit dem Indikator für strukturellen Korporatismus in ein Koordinatensystem.[27] Besonders ausgeprägt ist Korporatismus hiernach in Österreich[28], den Niederlanden und den skandinavischen Ländern.[29] Der Wert für Deutschland bewegt sich in der Mitte, weswegen der deutsche Korporatismus eine genauere Betrachtung erfahren soll.

4. Der deutsche Korporatismus

Sicherlich ist der Wert für den Grad an Korporatismus in Deutschland nicht sehr aussagekräftig, da es sich um eine Langzeitstudie handelt und der Korporatismus in der Bundesrepublik in unterschiedlichem Maße ausgeprägt war. Nicht nur deswegen ist in der Literatur umstritten, ob Deutschland als typisch korporatistisches Land angesehen werden kann.[30] Auch die Dezentrale Organisationsstruktur wird hier gelegentlich als Gegenargument angeführt.[31] Trotzdem hat der Korporatismus in Deutschland eine gewisse Tradition: Die Vorstellung von einer Rolle der Verbände als Vermittler zwischen Gesellschaft und Staat hatte bereits Hegel.[32] In der jüngeren Geschichte fand diese Tradition ihre größten Ausprägungen in der „Konzertierten Aktion“ (1967-1977) sowie den beiden Bündnissen für Arbeit (1996, 1998 – 2003).[33] Die drei tripartistisch-korporatistischen Bündnisse sollen nun kurz dargestellt werden, um ein präziseres Bild vom deutschen Korporatismus zu gewinnen:

4.1 Die Konzertierte Aktion

Der Korporatismus in der BRD begann 1967 mit der so genannten „Konzertierten Aktion“. Dazu kam es, als Deutschland zum ersten Mal seit Kriegsende eine wirtschaftliche Krise erlebte. Diese schlug sich in ansteigender Arbeitslosigkeit (1966: 2,2 %)[34], steigender Inflationsrate (1966: 3,5%) und einem wachsenden Haushaltsdefizit nieder.[35] Die aus heutiger Sicht eher unspektakulären Zahlen wurden als derart erschreckend wahrgenommen, weil der Glaube an die immerwährende wirtschaftliche Prosperität in der jungen Republik erstmals erschüttert wurde.[36] Diese Entwicklung brachte die Regierung des „Wirtschaftswunderkanzlers“ Ludwig Erhard zu Fall und begründete damit die große Koalition unter Kurt-Georg Kiesinger. Dessen Wirtschaftsminister, der Ökonomieprofessor Karl August Fritz Schiller (SPD), vertraute auf eine im keynesianischen Sinne politische Steuerbarkeit der Wirtschaft. Aus diesem Grund initiierte er das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“ (StabWG). Dieses formulierte im § 1 ein „magisches Viereck“ mit den Eckpunkten Preisstabilität, hohem Beschäftigungsgrad, außenwirtschaftlichem Gleichgewicht und angemessenem Wirtschaftswachstum.[37] Sollte eines dieser Ziele in Gefahr sein, würde die Bundesregierung Gebietskörperschaften, Gewerkschaften und Unternehmerverbänden Orientierungsdaten zu dessen Stabilisierung zur Verfügung stellen und ggf. erläutern (§ 3 StabWG). Auf Basis dieser Daten sollte dann ein abgestimmtes Handeln erfolgen. Allerdings waren die Verbände bei ihren Entscheidungsprozessen (z.B. im Tarifkampf) nicht zur Kooperation verpflichtet. Trotzdem wird an diesem Beispiel das korporatistische Prinzip deutlich: Zunächst musste eine Transparenz geschaffen werden, um dann aus der Erkenntnis über gemeinsame Ziele zu einem gemeinsamen Handeln zu kommen. Die Verbände waren also auf die Informationen der Regierung angewiesen und diese wiederum auf die freiwillige Rücksichtnahme der Verbände. Neben dieser gesetzlichen Grundlage wurde durch regelmäßige Zusammentreffen von anfangs 34 Vertretern des Staates (wichtige Ministerien, Bundesbank, Sachverständigenrat) und der Tarifparteien eine Struktur geschaffen.[38]

Tatsächlich hatte die Konzertierte Aktion zunächst Erfolg. Die gemeinsame Teilnahme von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden entspannte den Tarifkampf und führte zu längerfristigen und moderaten Lohnabschlüssen.[39] Die antizyklische Wirtschafts- und Finanzpolitik Schillers und des Finanzministers Franz-Josef Strauß (CSU) konnte überdies die Inflation bremsen. Durch diese Signalwirkung wurde die Konjunktur belebt, so dass die Arbeitslosenzahlen bis 1969 so stark zurückgingen, dass man von Vollbeschäftigung sprechen kann.[40]

Mit der Überwindung dieser Krise ergaben sich aber auch Probleme für das Bündnis: Da sich die Gewerkschaften mit Lohnforderungen stark zurückgehalten hatten, profitierten vom wieder geschaffenen Wirtschaftswachstum zunächst die Unternehmer, was wiederum zu verstärkten Streikquoten ab 1969 (sog. Septemberstreiks) führte.[41]

Parallel erweiterte sich der Teilnehmerkreis der Konzertierten Aktion auf mehr als das Doppelte, so dass besonders ab 1972 eine Konsensfindung praktisch unmöglich wurde. Als schließlich im Jahr 1976 die Arbeitgeber vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das von den Gewerkschaften unterstützte neue Mitbestimmungsgesetz Klage erhoben, verließen diese das Bündnis. Die Konzertierte Aktion war damit beendet.[42]

In der Literatur wird daher gelegentlich von einem Scheitern dieses ersten tripartistischen Bündnisses in Deutschland gesprochen. Derartige Aussagen sind jedoch, auch im Hinblick auf das zehn Jahre währende Bestehen des Bündnisses, sehr pauschal. Zudem konnte es sich wie dargestellt in der Anfangszeit einige Erfolge zuschreiben, insbesondere die Überwindung der Krise, zu dessen Bekämpfung sie ursprünglich ins Leben gerufen worden war.

Es gab aber auch Erfolge, die sich bis in die Zeit nach dem Bündnis erstreckten. So vertreten Wolfgang Schröder und Josef Esser die These, dass die Konzertierte Aktion als eine Art von Übergangsregime gesehen werden müsse, das im Ergebnis zu einem „höheren Komplexitätsniveau des deutschen Modells“ führte.[43] Damit ist auch gemeint, dass hier eine Entwicklung in Gang gesetzt wurde, die vielleicht eine Identität und Stabilität des deutschen Systems geschaffen hat.

Darüber hinaus waren die Hauptadressaten die Gewerkschaften. Sicherlich machten sie zwischen 1967 und 1976 die größten Zugeständnisse. Trotzdem hat sie das in ihrer Macht eher bestärkt. Der damalige CDU-Generalsekretär Kurt Biedenkopf warnte gar vor einer „Vergesellschaftung staatlichen Handelns“. Die Gewerkschaften wurden in der Folge der Konzertierten Aktion stärker als jemals zuvor als ernstzunehmende politische Akteure und feste Größen in der politischen Landschaft angesehen. Erwähnenswert ist auch, dass sie trotz der vielen Konzessionen bei den Tarifverträgen niemals wieder einen so großen Mitgliederzuwachs verzeichnen konnten, wie während dieses ersten Bündnisses.

Letztlich haben sie mit ihrem politischen Wirken den Wechsel zur sozialliberalen Koalition mindestens begünstigt.[44]

Es scheint also bei der Betrachtung dieser Ausprägung des deutschen Korporatismus sinnvoll, realisierte Erfolge und das Ende der Konzertierten Aktion getrennt zu betrachten. Letzteres nämlich zeigt doch einige konzeptionelle Fehler auf, die es fraglich erscheinen lassen, ob ein Fortbestehen auf Dauer möglich gewesen wäre.

Zunächst wird immer wieder auf die Verwässerung durch eine zu große Ausweitung des Teilnehmerkreises verwiesen. Diese führte dazu, dass kleine Querelen die anfangs formulierten gemeinsamen Ziele überschatteten. Eine Konsensfindung war damit nicht mehr möglich.[45]

Weiterhin wurden wirtschaftliche Entwicklungen und die veröffentlichten wirtschaftlichen Kennzahlen von den Beteiligten unterschiedlich zum eigenen Vorteil interpretiert. Im Ergebnis zielten die Lösungsvorschläge dann in genau entgegen gesetzte Richtungen ab und wurden unvereinbar.[46]

Die Tarifparteien machten den Lohnkampf zum Hauptthema der Konzertierten Aktion. Damit verlor diese erheblich an Legitimation: Nicht nur, dass man die Preis-, Investitions- oder Beschäftigungspolitik, die anfangs wichtige Arbeitsbereiche dargestellt hatten, aus den Augen verlor, es führte auch dazu, dass ausgerechnet der Bereich, in dem die Ziele am weitesten voneinander entfernt lagen, zum wichtigsten wurde.[47] Hinzu kommt, dass Tarifverhandlungen in einem tripartistischen Bündnis im Hinblick auf den Grundsatz der Tarifautonomie problematisch sind.

Letztlich mussten sich die Gewerkschaften ihrer Doppelrolle klar werden: Als Partner in einem tripartistisch-korporatistischen Modell mussten sie zwangsläufig Zugeständnisse machen, die von der Basis der Mitglieder nicht immer mitgetragen wurden. Mit dem Angriff der Arbeitgeber (und der FDP) auf das Mitbestimmungsgesetz sowie der Sparpolitik Helmut Schmidts 1976 sahen sie sich Entwicklungen gegenüber, die sie nicht vertreten konnten. Ein Ausstieg aus dem Bündnis war insofern notwendig, um nicht den Rückhalt seitens der Basis und damit die eigentliche Legitimation der Teilnahme zu verlieren. Es bleibt also festzuhalten, dass Kooperationswilligkeit und Kompromissfähigkeit nach außen in Konkurrenz zur Partizipations- und Integrationsfähigkeit innerhalb eines Verbandes in einer korporatistischen Struktur stehen.[48]

4.2 Der „stille Korporatismus“

Mit der Auflösung der Konzertierten Aktion wurde allerdings nicht ad hoc jegliche korporatistische Tendenz in der BRD abgeschafft. So gab es eine „Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen“. Im Kleinen existierten auch künftig Bündnisse auf betrieblicher oder regionaler Ebene mit Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, und im Großen wurde von Helmut Schmidt weiterhin zu Kanzlerrunden und Spitzengesprächen, den so genannten „Kaminrunden“, geladen. Diese Politik Schmidts wurde als „sozialer Dialog“ bekannt.[49] Sie führte zur Installation verschiedener korporativ besetzter Gremien auf Bundesebene.[50] Diese jedoch waren nicht mehr Teil eines strategischen Gesamtkonzepts sondern eher operativer Natur.[51]

[...]


[1] Konzertierung: Gemeinsam zwischen Partnern abgestimmtes Handeln.

[2] Siehe Anhang C, dies wird im Folgenden eine nähere Betrachtung efahren.

[3] Castellucci, Lars: „Zur Zukunft des Rheinischen Kapitalismus“ in „Aus Politik und Zeitgeschichte“, Beilage zur Wochenzeitschrift „Das Parlament“ 02.02.2001, S. 20.

[4] Sturm, Roland: „Der Dritte Weg – Königsweg zwischen allen )deologien oder selbst unter Ideologieverdacht? “ in „Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“ 13.04.2000, S. 3.

[5] Albert, Michel: „Kapitalismus contra Kapitalismus“, Frankfurt/Main, New York: Campus Verlag 1992; Paris: Ed. de la Maison des Sciences de l’Homme 1992, S. 25.

[6] Sturm, Roland: „Der Dritte Weg“, S. 4.

[7] Albert, Michel: „Kapitalismus contra Kapitalismus“, S. 147.

[8] ebd., S. 150.

[9] ebd., S. 110.

[10] Albert, Michel: „Kapitalismus contra Kapitalismus“, S. 111.

[11] ebd., S. 115.

[12] ebd., S. 126 f.

[13] ebd., S. 127.

[14] Sturm, Roland: „Der Dritte Weg“, S. 4.

[15] Albert, Michel: „Kapitalismus contra Kapitalismus“, S. 170 ff..

[16] Alemann, Ulrich v.: „Vom Korporatismus zum Lobbyismus?“ in „Aus Politik und Zeitgeschichte“, Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, B 26-27/2000, S. 3.

[17] Weßels, Bernhard: „Die deutsche Variante des Korporatismus“ in Kaase, Max / Schmid, Günter (Hg.): „Eine lernende Demokratie – 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland“, WZB Jahrbuch 1999, S. 89.

[18] Kropp, Sabine: „Interessenpolitik“ in Gabriel, O. W./ Holtmann, E. (Hg.): „Handbuch politisches System der Bundesrepublik Deutschland“, Oldenbourg Verlag; München, Wien 1997, S. 530.

[19] Reutter, Werner: „Korporatismustheorien – Kritik, Vergleich, Perspektiven“, Lang; Frankfurt/Main, Bern, New York, Paris 1991S. 67.

[20] Reese-Schäfer, Walter: „Politische Theorie heute – Neue Tendenzen und Entwicklungen“, R. Oldenbourg Verlag; München, Wien 2000 S.97; Vertiefend: Schmitter, Phillipe C.: „Neokorporatismus: Überlegungen zur bisherigen Theorie und zur weiteren Praxis“ in Alemann, Ulrich v. (Hg.): „Neokorporatismus“, Campus Verlag Frankfurt/Main, New York 1981 S. 62 -79.

[21] Weßels, Bernhard: „Die deutsche Variante des Korporatismus“, S. 89.

[22] ebd.

[23] Gabriel, O. W./ Holtmann, E. (Hg.): „Handbuch politisches System der Bundesrepublik Deutschland“, S. 530.

[24] Weßels, Bernhard: „Die deutsche Variante des Korporatismus“, S. 98.

[25] ebd.

[26] ebd.

[27] Siehe Anhang C

[28] Der österreichische Korporatismus wird unter 3.3.1 eine genauere Untersuchung erfahren.

[29] Weßels, Bernhard: „Die Entwicklung des deutschen Korporatismus“ in „Aus Politik und Zeitgeschichte“, Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, 23. 07.2000 S. 18.

[30] Weßels, Bernhard: „Die deutsche Variante des Korporatismus“, S. 89.

[31] Weßels, Bernhard: „Die Entwicklung des deutschen Korporatismus“, S. 18; siehe auch Anhang C.

[32] Bauer, Rudolph (Hg.): „Lexikon des Sozial- und Gesundheitswesens“, 2. Auflage R. Oldenbourg Verlag; München, Wien 1996 S. 1201 f.

[33] Weßels, Bernhard: „Die Entwicklung des deutschen Korporatismus“, S. 18.

[34] Borowsky, Peter: „Das Ende der Ära Adenauer“ in „Informationen zur politischen Bilddung“, Heft 258, Bonn 1998, S. 9.

[35] Schroeder, Wolfgang / Esser, Josef: „Modell Deutschland: Von der Konzertierten Aktion zum Bündnis für Arbeit“ (1999) in „Aus Politik und Zeitgeschichte“ Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, 10.09.2000,

S. 4.

[36] ebd.

[37] Schroeder / Esser „Modell Deutschland: Von der Konzertierten Aktion zum Bündnis für Arbeit“ S. 4..

[38] Weßels, Bernhard: „Die Entwicklung des deutschen Korporatismus“, S. 18.

[39] ebd.

[40] siehe Anhang A.

[41] Weßels, Bernhard: „Die Entwicklung des deutschen Korporatismus“, S. 18 .

[42] Gabriel, O. W./ Holtmann, E. (Hg.): „Handbuch politisches System der Bundesrepublik Deutschland“, S. 554.

[43] Schroeder / Esser: „Modell Deutschland: Von der Konzertierten Aktion zum Bündnis für Arbeit“, S. 12.

[44] ebd., S. 7.

[45] ebd., S. 5

[46] ebd.

[47] Schroeder / Esser: „Modell Deutschland: Von der Konzertierten Aktion zum Bündnis für Arbeit“, S. 5.

[48] Gabriel, O. W./ Holtmann, E. (Hg.): „Handbuch politisches System der Bundesrepublik Deutschland“, S. 531.

[49] Weßels, Bernhard: „Die Entwicklung des deutschen Korporatismus“, S. 18.

[50] Z.B. Rundfunkrat, verschiedene Ausschüsse des Deutschen Bundestages, Weßels, Bernhard: „Die deutsche Variante des Korporatismus“, S. 94.

[51] Weßels, Bernhard: „Die deutsche Variante des Korporatismus“, S. 94.

Ende der Leseprobe aus 44 Seiten

Details

Titel
Rheinischer Kapitalismus durch tripartistischen Korporatismus. Ein Vergleich von Deutschland und Österreich
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen  (Sozialwissenschaftliche Fakultät)
Note
nicht bewertet
Autor
Jahr
2003
Seiten
44
Katalognummer
V20630
ISBN (eBook)
9783638244589
ISBN (Buch)
9783656825395
Dateigröße
1137 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
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Schlagworte
Rheinischer, Kapitalismus, Korporatismus, Modell, Versuch, Vergleiches, Bundesrepubliken, Deutschland
Arbeit zitieren
Kai Zahrte (Autor:in), 2003, Rheinischer Kapitalismus durch tripartistischen Korporatismus. Ein Vergleich von Deutschland und Österreich, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/20630

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