Die Identitätssuche des Leonard Shelby in Christopher Nolans "Memento"


Seminararbeit, 2010

15 Seiten, Note: 2,3

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung und Fragestellung der Arbeit

2. Kurzrezension des Plots

3. Die Idee: Jonathan Nolan's Memento Mori als Filmvorlage und im Vergleich

4. „Everything just fades": Anterograde Amnesie als Krankheit und als Thema des amerikanischen Hollywoodkinos

5. Leonards Identitat im „Wandel": Desorientierung, Dissoziation, Manipulation

6. Zusammenfassung und Fazit

7. Literaturhinweise

1. Einleitung und Fragestellung der Arbeit

„Die Erinnerung ist das einzige Paradies/ aus dem wir nicht getrieben werden konnen"[1]

Dieses von Jean Paul aus dem Jahre 1812 stammende Zitat zeigt eindrucklich, welchen Stellenwert Erinnerung im Leben des Menschen einnimmt: dieses „Paradies" ist nicht nur unser Ruckzugsort oder unsere geheime Schatztruhe an Erlebnissen, Glucksgefuhlen oder auch goldener vergangener Zeiten, sondern ebenfalls der beruhmt-beruchtigte Keller, in dem wir unsere „Leichen" verstecken, die Sunden und Fehler unserer Vergangenheit. Auch wenn sich das Gedachtnis als ein Repertoire guter sowie schlechter Erinnerungen herausstellen, kann man sich seiner doch glucklich schatzen, da es doch einen bedeutenden Teil unserer Identitat offenbart. Erinnerung zeigt, was man bereits getan hat und welche Ziele man verfolgt; Erinnerung sagt einem, worauf man stolz sein kann und welche Fehler der Vergangenheit man besser zu vermeiden lernen sollte. Kurz gesagt, Erinnerung schafft Orientierung.

Was passiert aber, wenn man mit der Erinnerung seine Orientierung verliert? Worauf baut man auf? Wie kann man Verantwortung fur das ubernehmen, was man getan hat, wenn man sich nicht mehr daran erinnern kann? In der Literatur und der Filmwissenschaft mag es dazu viele Motive gegeben haben. Die meisten Filme behandeln jedoch den Verlust des Langzeitgedachtnisses und somit der gesamten Identitat; der Betroffene weiG gar nichts uber sich und fangt damit praktisch bei null an. Ein derartiges Motiv findet man so beispielsweise in Filmen wie Die 27. Etage (Mirage, 1965), Tod im Spiegel (Shattered, 1991) oder Der Mann ohne Vergangenheit (Mies vailla Menneisyytta, 2002)[2]. Aber was tun, wenn man „nur" sein Kurzzeitgedachtnis verloren hat? So ergeht es jedenfalls dem Protagonisten Leonard in Memento (2000). Er weiG, wer er ist, welchen Beruf er hat(te), woher er kommt, wie alt er ist; seit dem Erleiden einer Kopfverletzung jedoch, die ihm der Morder seiner Frau zugefugt hat, kann er sich keine neuen Erlebnisse langer als ein paar Minuten im Gedachtnis behalten. Er bleibt somit immer auf demselben Informationsstand, da er alles vergisst, was ihm geschieht. Durch ein System von Notizzetteln, Polaroidfotos und Tatowierungen versucht er dennoch, seinen Alltag zu meistern und den Morder seiner Frau zu finden und zu toten. Oberzeugt von der Funktionstuchtigkeit dieses Systems, realisiert er nicht, wie er in einen Sumpf der Intrigen und der Manipulation gerat.

Die Faszination fur die Selbstverstandlichkeit, mit der Leonard sein Leben mit diesem Notizzettelsystem gestaltet, fuhrte mich zu der Entscheidung, diese Figur auf seine dem Zuschauer offenbarte psychische Konstitution hin zu untersuchen. So soll es das Ziel dieser Arbeit sein, herauszufinden, wie Leonard seine Umgebung reflektiert und wie sich innerhalb in ihm ein Identitatswandel vollzieht. Es ware weiterhin sehr interessant herauszufinden, an was Leonard sich erinnert, was er verdrangt und auf welche Erfahrungen er zuruckgreift, wenn er handelt. Zuletzt mochte ich noch den uberaus interessanten Aspekt des Zusammenhangs zwischen dem Schnitt des Films und der Figurenrezeption des Leonard eingehen und, wenn moglich, Ruckschlusse auf dessen Selbstwahrnehmung ziehen.

2. Kurzrezension des Plots

Im Mittelpunkt des Geschehens steht der ehemalige Versicherungsermittler Leonard Shelby (Guy Pearce), der seit der Vergewaltigung und dem Mord an seiner Frau Catherine (Jorja Fox) an anterograder Amnesie leidet: er weiR, wer er ist, wo er herkommt, was sein Beruf war, er weiR schlicht alles bis zu jenem Augenblick, da er vom Morder seiner Frau mit einem Gegenstand niedergeschlagen wurde und dadurch eine Hirnverletzung erlitt. Alles, was ihm seitdem wiederfuhr, verbleibt nicht in seinem Gedachtnis; Minuten nach einem Ereignis weiR Leonard nichts mehr von alledem. Trotz dieses einschneidenden Ereignisses glaubt er sein Leben durch strenge Disziplin und Konditionierung meistern zu konnen: mit Hilfe einer Ansammlung von Notizzetteln, einer Polaroidkamera und den wichtigsten „Fakten" seines Lebens, als Tatowierungen auf seinem Korper verewigt, zieht Leonard durch die Gegend, auf der Suche nach dem Morder seiner Frau. So ist beispielsweise in spiegelverkehrter Schrift auf seinem Brustkorb zu lesen: „John G. raped and murdered my wife". Bei „John G." handelt es sich gemaR Leonards Vermutungen um den Namen des Morders, den es zu finden gilt.

Eine weitere Stutze in Leonards Leben stellt die Erinnerung an einen ihm, als ehemaliger Versicherungsermittler, bekannten Fall eines anterograden Amnesiepatienten dar, Sammy Jankis (Stephen Tobolowsky). Eine weitere Tatowierung auf dem Rucken seiner linken Hand, „Remember Sammy Jankis", erinnert ihn immer wieder daran. Sammy litt nach einem Unfall an der gleichen Gedachtnisstorung wie Leonard. Im Gegensatz zu diesem gelang es ihm nicht, seinen Alltag zu strukturieren. Leonard war damals als Versicherungsermittler herauszufinden beauftragt worden, ob es sich bei Sammys Leiden um eine physisch oder psychisch hervorgerufene Krankheit handelt oder ob er gar simuliere. Nach einer Reihe von Tests wird die Zahlung der Krankenhausrechnungen durch die Versicherung abgelehnt. Sammys Frau (Harriet Sansorn Harris), die mit dem Zustand ihres Mannes nur schwer umgehen kann, versucht herauszufinden, quasi als Ultimatum, ob Sammy tatsachlich krank ist oder nur simuliert. Da sie Diabetes hat, lasst sie sich von ihm ihre Insulinspritze setzen, stellt die Zeit auf ihrer Armbanduhr zuruck und fordert ihn erneut auf, die Spritze zu setzen. Sie glaubt ihn nun vor die Wahl gestellt zu haben: entweder die Spritze erneut zu setzen und sie somit umzubringen, oder zuzugeben, dass er simuliere. Sammy spritzt ihr noch zweimal Insulin, sie fallt ins Koma und er wird in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen, nicht wissend, dass seine Frau bereits gestorben ist.

Nun kommt Leonard in eine nicht benannte amerikanische Stadt, nach wie vor auf der Suche nach dem Morder seiner Frau. Dabei lauft ihm immer wieder Teddy (Joe Pantoliano) uber den Weg, der sich ihm gegenuber als Freund ausgibt und ihm angeblich helfen mochte, John G." zu finden; er scheint Leonard recht gut zu kennen, aber fur diesen ist es naturlich nicht ersichtlich, wie weit die erste Begegnung zwischen ihnen zuruckliegt: fur Leonard gibt es aufgrund seiner Amnesie immer nur erste Begegnungen. Nach und nach stellt sich jedoch heraus, dass es sich bei Teddy um einen in dubiose Drogengeschafte verwickelten Polizisten handelt, der den „Zustand" des Leonard ausnutzt, um einen Widersacher, den Drogenhandler Jimmy, auszuschalten. Auch dessen Freundin, die Barkeeperin Natalie (Carrie-Anne Moss), die sich zunachst als fursorglich und hilfsbereit erweist, verfolgt mit Leonards Suche nach dem Morder auch ihre eigenen zwielichtigen Plane. Hinzu kommt ein Motelrezeptionist, Burt (Mark Boone Junior), der Leonard mehrere Zimmer vermietet und dabei gut verdient. So findet sich Leonard zwischen den Fronten wieder und merkt, dass sein System der Konditionierung keineswegs fehlerlos ist, er versteht, wie leicht er zu manipulieren ist und setzt sich daraufhin selbst auf Teddy an, indem er sich neue Scheinfakten zum Morder seiner Frau schafft, hier das Kennzeichen von Teddys Auto. Die

Handlung endet damit, dass er, der schon langst vergessen hat, dass er sich selbst manipuliert hat, Teddy in einem abseits gelegenen Bungalow erschieRt.

3. Die Idee: Jonathan Nolan's Memento Mori als Filmvorlage und im Vergleich

Die literarische Figur des Earl in Jonathan Nolan's Kurzgeschichte Memento Mori bildet die Grundlage fur die Konzipierung des Protagonisten Leonard in Christopher Nolan's Memento. Earl leidet im Konzept des Bruders des Regisseurs genau wie Leonard an dem Verlust des Kurzzeitgedachtnisses, hervorgerufen durch eine physische Verletzung. Auch seine Frau ist gestorben - nur kann sich Earl nicht daran erinnern. Der Tod von Leonards Frau ist ihm dem gegenuber nur zu deutlich im Gedachtnis geblieben: er ist zugleich ein gravierender Einschnitt in dessen Leben als auch Antrieb, weiterzuleben und sich trotz des Verlustes des Kurzzeitgedachtnisses Ziele im Leben zu setzen. In Memento Mori hingegen ist Earl eindeutig ein mehr oder weniger hilfloser Patient in einem Krankenhaus. Er fertigt nicht wie Leonard eine Ansammlung von Notizzetteln an, ebenso tragt er keine Polaroidkamera mit sich herum. Die Organisation seines Alltags erfolgt mehr oder weniger durch den personalisierten Ich- Erzahler, der sich in einem Brief an Earl wendet und ihm die Umstande seines Lebens im Krankenhaus erklart. Die Briefsequenzen wechseln sich ab mit Szenen, in denen Earl durch sein mit Klebezetteln prapariertes Krankenhauszimmer wandelt. Deren Aussagen wirken auRergewohnlich zynisch: so hat jemand eine Streichholzschachtel an die Wand geklebt, daneben ein Zettel mit der Bemerkung „Cigarette? Check for lit ones, stupid.". Im Badezimmer ist ein weiterer zu finden: „As he lays the toothbrush next to the toothpaste, he notices a tiny wedge of paper pinched between the glass shelf and the steel backing of the medicine cabinet (...). The paper has been folded down to a minuscule size with all the precision of a sixth-grader's love note. Earl unfolds it and smooths it against the mirror. It reads- IF YOU CAN STILL READ THIS, THEN YOU'RE A FUCKING COWARD.

Earl stares blankly at the paper, then reads it again. He turns it over. On the back it reads— P.S.: AFTER YOU'VE READ THIS, HIDE IT AGAIN."[3]

[...]


[1] Jean Paul: Samtliche Werke. Abteilung II: Jugendwerke und vermischte Schriften. Dritter Band, Vermischte Schriften II. Munchen: Carl Hanser Verlag 1978, 820.

[2] Vgl. Katharina Gortz: Suche nach der Identitat. Erinnerung erzahlen im Spielfilm. Remscheid: Gardezl-Verlag 2007,184.

[3] Jonathan Nolan: Memento Mori, in: http://www.impulsenine.com/homepage/pages/shortstories/memento_mori.htm (20.01.2010,15:02)

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Die Identitätssuche des Leonard Shelby in Christopher Nolans "Memento"
Hochschule
Technische Universität Dresden
Note
2,3
Jahr
2010
Seiten
15
Katalognummer
V206169
ISBN (eBook)
9783656332060
ISBN (Buch)
9783656332435
Dateigröße
449 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Christopher Nolan;, Nolan;, Memento;, Jonathan Nolan;, Leonard Shelby;, Guy Pierce;, Anterograde Amnesie;
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Anonym, 2010, Die Identitätssuche des Leonard Shelby in Christopher Nolans "Memento", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/206169

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