MMP-relevante Wirkfaktoren des Sportkletterns und Boulderns bei Jugendlichen mit ADHS und Störungen des Sozialverhaltens im Rahmen eines interdisziplinären Therapieansatzes


Diplomarbeit, 2012

160 Seiten


Leseprobe


INHALT

1. Einführung / Vorwort

2. ADHS / hyperkinetische Störung und Störungen des Sozialverhaltens
2.1 Diagnostische Kriterien: ADHS bzw. hyperkinetische Störung
2.2 Diagnostische Kriterien: Störungen des Sozialverhaltens
2.3 Komorbidität und Begleitstörungen
2.4 Fabian und Simon
2.4.1 Fabian
2.4.2 Simon
2.5 Ätiologie der Störungsbilder und therapeutische Ansätze
2.5.1 Ursachen für die Entstehung von ADHS
2.5.2 Ursachen für die Entstehung von Störungen des Sozialverhaltens
2.5.3 Fabian und Simon
2.5.4 Therapeutische Ansätze für ADHS
2.5.5 Therapeutische Ansätze für Störungen des Sozialverhaltens
2.5.6 Diagnoseübergreifende Therapieansätze
2.5.7 Fabian und Simon
2.6 EXKURS: Entwicklungsaufgaben im Jugendalter

3. MMP spezifische Fördermöglichkeiten bei ADHS und Störungen des Sozialverhaltens
3.1 Was ist Psychomotorik?
3.2 Psychomotorische Förderung bei ADHS und Störungen des Sozialverhaltens
3.2.1 Grundsätzliche Überlegungen
3.2.2 Spezifische Konzepte

4. Sportklettern und MMP spezifische Wirkfaktoren
4.1 Definition: Was ist Sportklettern?
4.1.1 Bergsteigen – Klettern – Sportklettern – Bouldern?
4.1.2 Sicherungstechniken
4.1.3 Bewegungsformen und Steigetechniken
4.2 Therapeutisches Klettern
4.3 Allgemeintherapeutische und MMP-spezifische Wirkfaktoren
4.3.1 Physiologische Wirkfaktoren
4.3.2 Sensomotorische und neuropsychologische Wirkfaktoren
4.3.3 Psychische Wirkfaktoren
4.3.4 Soziale Wirkfaktoren
4.3.5 Wissenschaftliche Untersuchungen
4.3.6 Lernzonenmodell
4.3.7 Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile

5. Praxisbeispiele – Erfahrungsberichte oder „sigsch, dass im mi konzentrieren konn“ (Simon)
5.1 Einsatz der Boulderwand im Einzelsetting
5.1.2 Fabian
5.2 Klettern als Freizeitangebot in der Kletterhalle
5.2.1 Fabian
5.2.2 Simon

6. MMP spezifische Einsatzmöglichkeiten und Wirkfaktoren des Sportkletterns und Boulderns bei ADHS und Störungen des Sozialverhaltens
6.1 Einsatzmöglichkeiten des Kletterns als Therapie
6.2 Wirkfaktoren des Kletterns bei ADHS und Störungen des Sozialverhaltens
6.3 FRAGESELLUNGEN

7. Wirkfaktoren des Sportkletterns aus der Sichtweise der Jugendlichen
7.1 Fabian
7.2 Simon

8. Diskussion
8.1 Schlussfolgerungen

9. Zusammenfassung

ANHANG
Diagnostische Kriterien: hyperkinetische Störung bzw. ADHS
Diagnostische Kriterien: Störungen des Sozialverhaltens

LITERATUR

1. Einführung / Vorwort

Seit mehreren Jahren arbeite ich schon mit Kindern und Jugendlichen in verschiedensten Bereichen. Von der Betreuung im Sportverein, über Kursleitungen für Schulen und im privaten Bereich, bis hin zum Therapeutischen im Behindertenbereich, im Suchtbereich sowie in der Kinder- und Jungendpsychiatrie.

In allen Bereichen war ich mit den Begriffen ADHS/ADS und Störungen des Sozialverhaltens konfrontiert. Dabei musste ich einerseits häufig feststellen, dass vor allem die Diagnose ADHS oft eine bequeme „Ausrede“ für die betreuenden Erwachsenen darstellt, andererseits die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen sich zusehends verändert. Für grundlegende motorische sowie soziale und emotionale Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen gibt es kaum noch Raum oder Zeit. Immer mehr habe ich begonnen mich mit der Frage zu beschäftigen, ab wann das Verhalten eines Kindes wirklich auffällig ist. Ab wann muss therapeutisch interveniert werden und wie? Ist es zu verantworten ein Kind zu „therapieren“, wenn eigentlich die Umwelt des Kindes nicht die geeigneten Voraussetzungen bietet?

Eine einfache und richtige Antwort auf diese Fragen wird wahrscheinlich nie gefunden werden. Der persönliche Leidensdruck (ohne oder durch eine Therapie) muss eingeschätzt und mit praktischen Fragestellungen abgestimmt werden. Wichtig ist vor allem die Fragestellung, welche Chancen das Kind in der bestehenden Gesellschaft hat, bzw. wie diese Chancen vergrößert werden können. Therapie muss dem Kind helfen in seiner unmittelbaren Gegenwart zu Recht zu kommen, um ihm als Individuum eine Zukunft in der bestehenden Gesellschaft zu ermöglichen. Dies bedeutet, dass es ein stark individualisiertes Vorgehen mit der Ausschöpfung aller persönlichen Ressourcen braucht. Wir müssen beginnen in mehreren Dimensionen zu denken und nicht nur die Funktionalität oder ausschließlich das soziale Umfeld im Blick haben. Genau hier setzen „alternative“ Therapiemethoden, wie z.B. die Mototherapie, an.

Ich habe begonnen mit den Jugendlichen der sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft, in der ich arbeite, zu Klettern. Das Sportklettern wird von den meisten Jugendlichen begeistert angenommen und wirkt auf verschiedensten Ebenen therapeutisch.

Genau dies soll Thema der folgenden Arbeit werden.

2. ADHS / hyperkinetische Störung und Störungen des Sozialverhaltens

Lausbuben und Lausbubenstreiche gab es immer schon. Die Geschichten vom „Zappel-Philipp“, „Hans Guck-in-die-Luft“, „die Geschichte vom bösen Friedrich“ (H. Hoffmann, 1844) oder später die Geschichten von Michel aus Lönneberga (A. Lindgren, 1963) beschreiben Kinder, die heute wahrscheinlich in der Schule und mit den Anforderungen unserer Gesellschaft größere Probleme hätten.

Hätten sie aber auch eine Diagnose wie „ADHS/ADS bzw. hyperkinetische Störung“ oder „Störung des Sozialverhaltens“?

Auch die folgende Geschichte von Wilhelm Busch, mit dem Titel „Das Bad am Samstagabend“, ist eine dieser Geschichten (Hochhuth, 1959, S. 663-669).

Das Bad am Samstagabend

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1. Hier sieht man Bruder Franz und Fritzen zu zweit in einer Wanne sitzen.

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2. Die alte Lene geht – und gleich da treibt man lauter dummes Zeug.

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3. Denn Reinlichkeit ist für die zwei am Ende doch nur Spielerei.

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4. Jetzt will der Fritz beim Untertauchen nur seinen einen Finger brauchen.

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5. Natürlich läuft ihm was ins Ohr, dem Franz kommt diese lustig vor.

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6. Das ärgert aber Bruder Fritzen, drum fängt er an, den Franz zu spritzen. (…)

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7. Die Wanne wird zu enge für dieses Kampfgedränge.

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8. Perdatsch!! – Die alte, brave Lene Kommt leider grad’ zu dieser Szene.

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9. Sie spricht voll Würde und voll Schmerz:

„Die Reinlichkeit ist nicht zum Scherz!!“

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10. Und die Moral von der Geschicht: Bad zwei in einer Wanne nicht!

Abbildung 1: Das Bad am Samstagabend

Ich habe absichtlich nicht die Geschichten von H. Hoffmann als Beispiele herangezogen, da dieser als Kinderarzt wahrscheinlich bewusst ein bestimmtes Verhalten charakterisieren wollte und dies eher einen Versuch der sog. „schwarzen Pädagogik“ darstellt. Wilhelm Busch hingegen beschreibt Alltagsbeobachtungen ohne den besondern Blick eines Kinderarztes. Dennoch tritt in seinen Geschichten der qualitative Unterschied im Verhalten seiner Figuren und den Konsequenzen, die sie tragen müssen, deutlich hervor. In der oben stehenden Geschichte ist die Konsequenz eine Rüge und vermutlich eine zukünftige Verhaltensänderung der erziehenden Person. Die beiden „Streiche spielenden Buben“ Max und Moritz (Hochhuth, 1959, S. 19) bezahlen ihre Missetaten hingegen – sehr dramatisch – mit dem Tode.

Dies wirft den Blick auf die Frage, wo übermütiges kindliches Verhalten aufhört und wo ein „gestörtes“, therapiebedürftiges Verhalten im Sinne von ADHS und Störungen des Sozialverhaltens beginnt.

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Abbildung 2: Max und Moritz

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Aus eigener Erfahrung, in meiner langjährigen Arbeit mit Kindergruppen, kenne ich die Situation in der Lehrer oder Eltern bestimmte Kinder mit der Diagnose ADHS oder Störung des Sozialverhaltens vorstellen, noch bevor sie den Namen des Kindes nennen:

„… und mit ihm wird es sicher schwierig, denn er ist hyperaktiv“ – „… und wundern sie sich nicht, denn er hat ein gestörtes Sozialverhalten“ – „Sollte es mit ihm nicht funktionieren, rufen sie mich! Er hat ein schwieriges Sozialverhalten, wahrscheinlich wegen seines ADS“. Dies sind Beispiele für Aussagen, die ich aus meiner Praxis kenne. Wenn dann genauer nachgefragt wird, stellt sich oft heraus, dass die „Diagnose“ beispielsweise vom Klassenrat oder von den Eltern gestellt wurde.

Viele berücksichtigen dabei nicht, dass ADHS bzw. das hyperkinetische Syndrom und Störungen des Sozialverhaltens durch genaue diagnostische Kriterien beschrieben werden und die Diagnose durch einen qualifizierten Kinder- und Jugendpsychiater oder Psychologen gestellt werden muss. Die Diagnose soll aber nicht ständig im Vordergrund stehen. Jedes Kind hat trotz Diagnose einen Namen, eine eigene Identität, Persönlichkeit und Individualität. Eine übermäßige Konzentration auf die Diagnose kann zu einer sog. selbsterfüllenden Prophezeiung führen, vor allem wenn die sog. Diagnose nur ein Verdachtsmoment von Seiten der Eltern oder Lehrer ist.

Dennoch soll nicht vernachlässigt werden, dass eine verantwortungsvolle und qualifizierte Diagnosestellung durch Fachpersonal unerlässlich ist und erst dadurch eine professionelle Behandlung sowie ein Forschungsfortschritt, vor allem hinsichtlich geeigneter Therapiemethoden, ermöglicht werden.

In den folgenden Ausführungen zu den diagnostischen Kriterien stütze ich mich, wenn nicht anders angegeben, auf das ICD-10 von Dilling & Freyberger (2006), das DSM-IV von Saß, Wittich, Zaudig & Houben (2003), das MAS für das Kindes- und Jugendalter von Remschmidt, Schmidt & Poustka (2006) sowie die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (2007).

ICD-10 und DSM-IV sind beides internationale Klassifikationssysteme für psychische Störungen. Beide Verzeichnisse stellen diagnostische Kriterien bereit, die eine Diagnosestellung erleichtern und vor allem eine länderübergreifende Fachsprache ermöglichen sollen. Das ICD-10 orientiert sich an den Richtlinien der WHO und wird vor allem im europäischen Raum angewandt, während das DSM-IV von der American Psychiatric Association herausgegeben wird.

Im MAS, „Multiaxialen Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters“ (nach der ICD-10), wird eine Diagnose anhand von sechs Achsen getroffen:

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Die Beurteilung auf diesen sechs Achsen ermöglicht einen erweiterten Blickwinkel. Das Kind wird nicht mehr ausschließlich aufgrund seiner Diagnose beurteilt, sondern wird als ein Individuum in einem größeren sozialen Umfeld gesehen. Dementsprechend sind auch die Interventionen und therapeutischen Maßnahmen nicht mehr auf das Kind („das schwarze Schaf“) beschränkt, sondern beziehen das gesamte Umfeld mit ein.

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (DSM-IV) bzw. die hyper-kinetische Störung (ICD-10) als auch die Störung des Sozialverhaltens wird im multiaxialen Klassifikationsschema (MAS) in der ersten Achse (den klinisch psychiatrischen Syndromen) im Kapitel F90-98 „Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend“ klassifiziert.

2.1 Diagnostische Kriterien: ADHS bzw. hyperkinetische Störung

Strobel (2010, S.11) berichtet, dass „sechs bis zehn Prozent eines Jahrganges davon betroffen sind. Im Schnitt entspricht dies ein bis zwei Kindern pro Klasse. Bei Jungen wird die Störung mit 7,9 % häufiger diagnostiziert als bei Mädchen (1,8 %). Landkinder sind ebenso anfällig wie Stadtkinder.“

Die Hyperkinetische Störung bzw. ADHS ist sowohl im ICD-10 (F90) als auch im DSM-IV (314) durch ein genau umschriebenes Muster von Symptomen, betreffend die Aufmerksamkeit, die Aktivität und die Impulsivität der Person, umschrieben. Es ist somit ein „deskriptives klinisches Konstrukt“ (Förstl, Hautzinger & Roth, 2006, S. 652) und keine Krankheit im eigentlichen Sinne. Beide Inventare verlangen zusätzlich, dass die Symptome in einem abnormen Ausmaß (im Verhältnis zum Alter und Intelligenzniveau des Kindes übermäßig stark ausgebildet) sowie situationsübergreifend, durchgehend über einen längeren Zeitraum und vor Erreichen des 7. Lebensjahres auftreten, sowie deutliche Beeinträchtigungen oder deutliches Leiden für die betroffene Person verursachen.

Die Störungen der Aufmerksamkeit zeigen sich vor allem bei längerfristigen Tätigkeiten, die Konzentration und geistige Anstrengung erfordern (bei kleineren Kindern auch im Spielverhalten). Verstärkt tritt die Symptomatik auf, wenn es sich um fremdbestimmte Aufgabenstellungen und Situationen (z.B. in der Schule) handelt. Die Kinder sind leicht ablenkbar und wechseln häufig ihre Aktivitäten. Die Arbeiten werden dadurch oft unordentlich oder nachlässig. Man spricht von einer Reizoffenheit bei bestehender Filterschwäche.

Die Impulsivität zeigt sich als Ungeduld. Die Kinder reagieren reizgebunden auf unterschiedlichste Stimuli der Außenwelt. Ebenso haben sie große Schwierigkeiten Bedürfnisse aufzuschieben. Die Impulsivität erschwert den sozialen Kontakt und kann zu Unfällen führen.

Die Hyperaktivität bezeichnet die beobachtbare überschießende motorische Aktivität. Die Kinder sind ständig in Bewegung. Stillsitzen ist für sie beinahe unmöglich oder mit sehr großer Anstrengung verbunden.

Im Anhang findet sich die genaue Beschreibung der Symptomatik wie sie im ICD-10 und im DSM-IV zu finden ist.

Bei der Klassifikation von Untergruppen weichen ICD-10 und DSM-IV voneinander ab. Eine genaue Beschreibung der Untergruppen ist ebenso im Anhang aufgeführt.

Diskussionen gibt es immer wieder um die Unterscheidung von Aufmerksamkeitsdefizitstörungen mit und ohne Hyperaktivität. In der momentanen Forschung herrscht die Tendenz vor, die Diagnose ADS und somit Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität zu streichen. Bei Kindern mit Problemen in der „Aufmerksamkeit“, also jenen Kindern, die „zu träumen scheinen“, nimmt man vermehrt an, dass es sich dabei nicht um Aufmerksamkeitsprobleme, sondern um eine Art dissoziierter Zustände (meist aufgrund traumatischer Erfahrungen) handelt (siehe z.B.: van der Kolk, 2000).

Als Ausschlussdiagnosen werden zusammenfassend (in ICD-10 und DSM-IV) folgende Störungen und Diagnosen genannt:

Tiefgreifende Entwicklungsstörung (Autismus); affektive Störungen (depressive-, manische- und Angststörungen); schizophrene Störungen (oder andere psychotische Störungen); dissoziative Störungen; Persönlichkeitsstörungen; posttraumatische Belastungsstörungen und Anpassungsstörungen; organische Primärstörungen (z.B. Hyperthyreose); medikamenteninduzierte Störungen sowie die überaktive Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien.

Um eine Diagnose stellen zu können, braucht es als Grundlage eine ausführliche klinische Exploration des Betroffenen und eine Befragung der Eltern oder Erziehungsberechtigten, sowie der Lehrer. Ergänzend sind standardisierte Verhaltensbeobachtungen und Fragebögen, testpsychologische Untersuchungen und körperliche Untersuchungen notwendig. Es existiert eine Reihe von testpsychologischen Verfahren (auch computergestützt) zur Erfassung von Impulsivität, von Aufmerksamkeit und anderen neuropsychologischen Leistungen. Ebenso existieren apparative Verfahren mit deren Hilfe motorische Unruhe aufgezeichnet werden kann. Diese Methoden sind sicherlich objektiv, andererseits stellt aber ihre Validität ein nicht zu unterschätzendes Problem dar. Zusätzlich muss bedacht werden, dass die Symptome in neuen Situationen oder bei hoch interessanten Aktivitäten in deutlich geringerem Maße oder überhaupt nicht auftreten können (z.B. bei beliebten Computerspielen). Die Testsituation kann dadurch stark beeinflusst werden.

Um das Lesen der restlichen Arbeit zu vereinfachen werde ich im weiteren Verlauf nur mehr die Bezeichnung ADHS verwenden.

Geschichtliche Entwicklung der ADHS:

Betrachtet man die Entstehung des Begriffs ADHS geschichtlich, fällt ein undurchschaubares Begriffschaos auf. Das „impulsive Irresein“ wurde bereits 1881 von Scherpf als die „häufigste Seelenstörung des Kindesalters“ beschrieben (In: Passolt, 2003, S. 144). Später sprach man von sog. „schwererziehbaren“ Kindern und vielen wird noch der Begriff MCD (minimale cerebrale Dysfunktion) oder der Begriff POS (psychoorganisches Syndrom) bekannt sein. Unter diesen beiden Begriffen wurden Kinder beschrieben, die eine Reihe von Symptomen zeigten, deren Ursache nicht eindeutig geklärt werden konnte: Motorisch ungeschickte und sprachverzögerte Kinder, Kinder mit Teilleistungsschwächen, mit sensomotorischen Störungen, dyspraktische Kinder, ebenso wie bewegungsunruhige Kinder. Viele Autoren sehen die Diagnose ADHS als reinen Ersatz für die frühere Diagnose MCD (z.B. Mattner; In: Passolt, 2003, S.39f.). Dabei wird übersehen, dass durch die klare Unterscheidung und Abgrenzung von ADHS und den „umschriebenen Entwicklungsrückständen“ (der Sprache, schulischer Fertigkeiten und motorischer Funktionen), im Kapitel F80-89 (ICD-10) bzw. Kapitel 315 (DSM-IV), die Möglichkeit gegeben wird, die Kinder bereits anhand der Diagnose recht genau zu beschreiben. Nicht jedes Kind mit z.B. einer Lese- Rechtschreibstörung ist in seiner Aufmerksamkeit oder Impulsivität gestört. Umgekehrt muss nicht jedes Kind mit ADHS eine Lese- Rechtschreibstörung haben.

Symptom oder Persönlichkeitsmerkmal?

Ebenso werden in Beschreibungen von ADHS betroffenen Kindern sehr oft Persönlichkeitsmerkmale verallgemeinernd dargestellt. Sie werden oft als gutmütig, hilfsbereit und sonnig beschrieben. So zum Beispiel Köckenberger (2001, S. 20) in der lobenswerten Bemühung eine Positivliste der ADHS-Symptomatik zu erstellen: „(…) Es ist hilfsbereit, offen, ehrlich, charmant und nicht nachtragend. (…)“. Dies sind Persönlichkeitseigenschaften, die mit der Symptomatik der ADHS nichts zu tun haben. Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und motorische Aktivität, die drei Bereiche in denen bei der ADHS eine Symptomatik beschrieben wird, sind neuropsychologische Funktionen und keine Persönlichkeitseigenschaften. Sicherlich werden oben genannte Persönlichkeitseigenschaften in vielen Situationen auf von ADHS betroffene Kinder zutreffen, genauso wie sie auf viele andere Menschen zutreffen werden. Solche Beschreibungen sollten immer nur dann verwendet werden, wenn wir über ein bestimmtes Kind sprechen und auch dann sollte spezifiziert werden, unter welchen Bedingungen diese Eigenschaften zum Tragen kommen, damit sie als Ressourcen aktiviert werden können. Ich persönlich habe noch nie jemanden getroffen, der immer hilfsbereit, gutmütig und sonnig ist.

Hperkinetik oder Hyperaktivität?

Ein weiterer diskussionswürdiger Punkt ist die unterschiedliche Bezeichnung „Hyperkinetik“ und „Hyperaktivität“. „In einer rein sprachlichen Unterscheidung bedeutet Hyperkinetik übermäßige, zu viel Bewegung bzw. Bewegungsenergie, Hyperaktivität dagegen ein Zuviel an Tätigkeit bzw. Handlungsenergie“ (Göbel, Jarosch & Panten; In: Passolt, 1996, S. 153).

Eine hyperkinetische Störung wäre somit aus neuropsychologischer Sicht eine Störung der motorischen Abläufe, betreffend vor allem das extrapyramidale System und den Bereich der Basalganglien, während die Hyperaktivität vor allem den Handlungsablauf und somit z.B. die zielgerichtete Bewegung betrifft, Funktionen, die hauptsächlich im frontalen Anteil des Cortex liegen.

Interessant in diesem Zusammenhang ist die qualitative Beschreibung der Bewegungsmuster von Kindern mit ADHS: „Generell sind ihre Bewegungen zu viel, zu schnell und zu kraftaufwendig. Sie zeigen eine maßlos gesteigerte Bewegungsproduktion, einen Drang zu großräumigen (Fort-) Bewegungen, einen kaum zu stoppenden Redefluss (verbale Hyperaktivität) und dabei trotz des hohen Energieaufwandes meist eine unbefriedigende Leistung, vor allem in der feinmotorischen Koordination, aber auch in der Auge-Hand-Koordination, in der Fingergeschicklichkeit und in der Schreibmotorik, sowie in der Körperbalance (Kiphard, 1988)“ (Altherr; In: Passolt, 2003, S. 13). Zusätzlich beschreibt Kiphard (In: Passolt, 1996, S. 154) eine „Impulsgebundenheit im Sinne infantil-reflexhaften Reagierens, überwiegend taktil-haptische Aktivitäten und eine Vorliebe für primitiv-archaische Bewegungsmuster.“ Auch Hahn & Pieper (2005, S.92ff.) untersuchten das motorische Verhalten von ADHS betroffenen Kindern mit Hilfe des Körper-Koordinationstests für Kinder (KTK), des Trampolin-Körperkoordinationstests (TKT) und der Checkliste motorischer Verhaltensweisen (CMV) hinsichtlich der Grobmotorik. Die Feinmotorik wurde mit Hilfe des diagnostischen Inventars motorischer Basiskompetenzen (DMB) und des Motoriktest MOT 4-6 beobachtet. Zusätzlich wurde der Frostig Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung (FEW) eingesetzt. Die motorischen Leistungen, der von ADHS betroffenen Kinder, waren über alle Tests hinweg im Vergleich zur Normstichprobe unterdurchschnittlich. „Kinder mit ADHS leiden im Speziellen unter einer defizitären Bewegungskontrolle. Sie haben Schwierigkeiten, Bewegungen zu verlangsamen oder zu stoppen. Die Kinder bewegen sich mehr, großräumiger und mit hohem Kraftaufwand. Primitive Bewegungsmuster (…) treten vermehrt auf. Feinmotorische Defizite sind besonders in der Auge-Hand-Koordination, der Fingergeschicklichkeit und der Schreibmotorik zu beobachten. (…) Neben den bereits genannten Bereichen wurden Schwächen im Bewegungs- und Rhythmusgefühl, in der Körperhaltung und in der Reaktionsfähigkeit als typisch für hyperaktive Kinder beschrieben“ (Hahn & Pieper, 2005, S.93). Zusätzlich berichten die Autoren davon, dass mithilfe des CMV und des FEW die Gruppe der ADHS betroffenen Kinder aufgrund des Schweregrades der Störung getrennt werden konnte. Abschließend betonen Hahn und Pieper (2005, S. 100) aber, dass die motorischen Defizite zumeist in einer individuellen Ausprägung auftreten, z.B. nur auf die Feinmotorik beschränkt.

Impulsivität und Aufmerksamkeit:

Der Begriff Impulsivität wird von Döpfner, Schürmann und Frölich (2007, S. 3-4) differenziert betrachtet. Sie unterscheiden zwischen einer kognitiven Impulsivität und beschreiben damit die Tendenz einem Handlungsimpuls zu folgen (z.B. ein Kind platzt mit der Antwort heraus und unterbricht dabei andere) und der motivationalen Impulsivität, mit der die Unfähigkeit umschrieben wird, abzuwarten und ein Bedürfnis aufzuschieben.

Auch der Begriff „Aufmerksamkeit“ muss genauer betrachtet werden. Neuroanatomisch gesehen ist Aufmerksamkeit eine „Funktionsbeziehung zwischen ARAS, unspezifischen Thalamuskernen und Kortexaktivierung“ (Cazzoli, Gergely & Reber, 2005, S. 19).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: ARAS

ARAS (aufsteigendes retikuläres Aktivierungssystem) ist ein nach funktionalen Gesichtspunkten abgegrenztes Zentrum der Formatio Reticularis im Hirnstamm und wird auch als das Weckzentrum bezeichnet. Die unspezifischen Thalamuskerne werden so genannt, weil sie (im Gegensatz zu den spezifischen Thalamuskernen) diffuse Verbindungen mit dem Kortex haben. Eine Aktivierung des ARAS führt somit zu einer unspezifischen Aktivierung des gesamten Kortex. Dies führt zu einer allgemeinen Erweckbarkeit oder Wachheit durch eine Vorerregung der Neurone.

Es gibt verschiedenste Formen von Aufmerksamkeit. Hartje & Poeck (1997, S. 289) unterscheiden folgende Dimensionen und Bereiche der Aufmerksamkeit:

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Abbildung 4: Dimensionen der Aufmerksamkeit nach Hartje & Poeck

Göbl, Jarosch & Panten (In: Passolt, 1996, S. 154) weisen richtigerweise darauf hin, dass Aufmerksamkeitsprozesse grundlegend für eine Reihe weiterer kognitiver Leistungen aus dem Bereich der Wahrnehmung und des Gedächtnisses sind. Diese Prozesse werden durch einen gestörten Aufmerksamkeitsprozess ebenso in ihrem Ablauf behindert. Zusätzlich betonen die oben genannten Autoren, dass die Entwicklung von Aufmerksamkeitsfunktionen nie isoliert betrachtet werden sollte, sondern immer eingebettet in die Gesamtpersönlichkeit und Gesamtsituation des Kindes. Weiters ist Aufmerksamkeit ein Prozess, der stark durch motivationale Faktoren beeinflusst wird.

Entwicklung in Lebensabschnitten:

ADHS und typische Verhaltensmuster werden getrennt voneinander für Säuglinge (Schreikinder z.B.; Skrodzki; In: Passolt, 2003, S. 144), für Kinder und für Jugendliche beschrieben. In den letzten Jahren tritt vermehrt die Diskussion der ADHS im Erwachsenenalter auf.

Zuerst aber zu den Veränderungen im Jugendalter. Verschiedenste Autoren (z.B. Skrodzki; In: Passolt, 2003, S. 163) beschreiben die Entwicklung von Kindern mit ADHS im Jugendalter. Dabei tritt immer wieder hervor, dass die Probleme, die bei allen Pubertierenden aufkommen, bei Jugendlichen mit ADHS durch die bereits erlebten negativen Erfahrungen häufig verstärkt auftreten. Die Null-Bock-Mentalität gepaart mit fehlender Ausdauer und anscheinend mangelndem Interesse und Einsatz erschwert den Übergang ins Berufsleben und das Zusammenleben in der Familie. Bereits im Jugendalter tritt die motorische Unruhe etwas zurück, wird aber durch ein Empfinden einer inneren Unruhe, die Entspannung unmöglich macht, ersetzt. Sobanski & Alm (2010, S. 46-47) führen in erster Linie zwei Hauptprobleme auf, mit denen Erwachsene mit ADHS zu Recht kommen müssen:

- Konzentrationsprobleme, die sich in der Arbeit aber auch bei alltäglichen Tätigkeiten wie z.B. dem Autofahren negativ auswirken.
- Impulsivität und Affektlabilität, was zu einer verminderten Stresstoleranz führt und damit zu Problemen im Beruf, in der Partnerschaft und in der Familie.

Sie appellieren auch daran, dass für die Diagnosestellung im Erwachsenenalter eigene diagnostische Kriterien erstellt werden sollten, da die Kriterien für Kinder konzipiert wurden und somit die Symptomatik im Erwachsenenalter nicht ausreichend beschreiben.

2.2 Diagnostische Kriterien: Störungen des Sozialverhaltens

Störungen des Sozialverhaltens sind ein häufiges Phänomen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Bereits 2000 ging Herpertz-Dahlmann (In: Remschmidt, 2000, S. 279) davon aus, dass Störungen des Sozialverhaltens „30 bis 50 % aller kinder- und jugendpsychiatrischen Zuweisungen“ ausmachen.

Die Störung des Sozialverhaltens wird als ein Verhaltensmuster beschrieben, bei dem die Grundrechte anderer Menschen oder die wichtigsten altersentsprechenden gesellschaftlichen und kulturellen Normen verletzt werden. Dieses Verhalten ist durch eine (unterschiedlich festgelegte) Mindestanzahl von Symptomen beschrieben und muss in den letzten sechs Monaten anhaltend vorhanden gewesen sein.

Die Diagnose Störung des Sozialverhaltens darf dabei nicht mit dem Begriff der Delinquenz gleichgesetzt oder verwechselt werden. „Delinquenz ist ein juristischer Begriff und bezeichnet Zuwiderhandlungen gegen staatliche Gesetzte“ (Herpertz-Dahlmann; In: Remschmidt, 2000, S. 278). Dies schließt natürlich nicht aus, dass Personen mit einer Störung des Sozialverhaltens häufiger delinquent werden als Personen mit angemessenem Sozialverhalten. Was nicht heißt, dass jeder Mensch mit einer Störung des Sozialverhaltens auch delinquent wird.

Wie aus der im Anhang stehenden Gegenüberstellung ersichtlich wird, unterscheiden sich ICD-10 (F91) und DSM-IV (312/313) stark in der Systematisierung und im Bilden von Untergruppen.

Bei den Störungen des Sozialverhaltens gibt es einige Ausschlussdiagnosen:

dissoziale, narzisstische oder Borderline-Persönlichkeitsstörungen; affektive Störungen (bipolare Störungen, depressive oder manische Episoden); tief greifende Entwicklungsstörungen (Autismus oder schwere geistige Behinderungen); psychotische und schizophrene Störungen; hirnorganische Persönlichkeits- und Verhaltensänderungen; posttraumatische Belastungsreaktionen und Anpassungsstörungen. Bei der Störungen des Sozialverhaltens, welche auf den familiären Rahmen beschränkt sind, zusätzlich: Bindungsstörungen und gestörtes Sozialverhalten im Rahmen von Zwangshandlungen.

Um eine Diagnose treffen zu können braucht es eine ausführliche Exploration und Anamneseerhebung, wobei der Betroffene selbst, seine Eltern bzw. Erziehungsberechtigten und evtl. Lehrer oder andere wichtige Bezugspersonen befragt werden. In dieser Befragung sollen unter anderem folgende Bereiche genauer betrachtet werden: Symptomatik; familiäre Beziehungen, Dynamiken, Muster, Methoden und Strategien; Freizeitverhalten des Betroffenen; Drogenkonsum (auch Alkohol und Nikotin); sexuelle Entwicklung; Selbstbild; Entwicklung des Betroffenen (prä- und postnatal); Traumatisierungen; usw. Zusätzlich kann eine apparative Labor- und Testdiagnostik zum Einsatz kommen: standardisierte Fragebögen, altersbezogene Leistungsdiagnostik, körperliche und neurologische Untersuchungen (und evtl. ein Drogenscreening).

2.3 Komorbidität und Begleitstörungen

Bereits die Existenz der Diagnose F90.1 „hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens“ lässt vermuten, dass die beiden oben ausführlich beschriebenen Störungen oft zusammen auftreten.

Viele Kinder und Jugendliche mit ADHS zeigen komorbide Störungen. Die häufigsten dieser Störungen sind:

- Störungen des Sozialverhaltens
- umschriebenen Entwicklungsstörungen
- verminderte Intelligenzleistungen (Dies kann aber ebenso Folge der gestörten Aufmerksamkeitsprozesse sein.)
- emotionale Störungen (Diese sind oft durch eine Minderung des Selbstwertes und des Selbstvertrauens bedingt.)
- starke Stimmungsschwankungen
- Tic-Störungen
- Drogenmissbrauch und -abhängigkeit: Viele Betroffene neigen, vor allem im Jugendalter, zu Selbstmedikation (z.B. mit Cocain). Sorobanski und Alm (2010, S. 49) berichten von einer Studie aus dem Jahre 1999 (Biedermann, Harvard Medical School in Boston), die belegte, dass sich „das Risiko einer späteren Abhängigkeitserkrankung um 85% reduzierte“, wenn die Störung bereits im Kindesalter mit Medikamenten behandelt wurde.
- Hinweise haben sich auf einen möglichen Zusammenhang von ADHS und Enkopresis ergeben. Vermutet werden könnte eine gemeinsame Bedingung über den Ncl. coeruleus, den „wichtigsten Noradrenalinlinker im Gehirn“ (Meeusen et.al., 2001, S. 362). Dieser liegt im Hirnstamm und ist über noradrenerge Fasern mit vielen unterschiedlichen Strukturen und Regionen des Gehirns verbunden. Unter anderem mit frontalen Cortexregionen. Dadurch ist er wesentlich an der Aufmerksamkeitsaktivierung beteiligt. Andererseits wurden auch funktionale Zusammenhänge mit der Darmfunktion festgestellt (vgl.: Gontard, 2004).

Bei den Störungen des Sozialverhaltens werden als komorbide Störungen genannt:

- hyperaktive Störungen
- Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenmissbrauch
- emotionale Störungen – vor allem depressive Störungen (Diagnose F92)
- Angststörungen bzw. phobische Störungen (Diagnose F92)
- vereinzelt paranoid wirkende Symptomatiken

Natürlich kann vermutet werden, dass durch gestörte exekutive Funktionen und Aufmerksamkeitsprozesse das Kind in seiner Entwicklung, vor allem bei schulischen Leistungen, beeinträchtigt sein wird bzw. durch sein Verhalten immer wieder von anderen ausgegrenzt werden wird. Deshalb kann es Probleme in seiner emotionalen und sozialen Entwicklung haben. Trotzdem ist eine genaue Beobachtung der individuellen Ausprägung und der jeweils individuell unterschiedlichen Zusammenhänge sehr wichtig für ein therapeutisches Vorgehen und damit für einen therapeutischen Erfolg. Vorschnelle Urteile führen eben zu „Vor“-urteilen.

Zusätzlich ist eine genaue Betrachtung der störungsrelevanten Rahmenbedingungen wie z.B. die Familienanamnese von größter Bedeutung. Wohnhaas-Baggerd (2008, S.27) berichtet von verschiedenen Studien, welche die Entstehung einer komorbiden Verhaltensstörung bei bestehender Aufmerksamkeitsstörung untersuchten und kommt zum Schluss: „Eine Aufmerksamkeitsstörung in Kombination mit überwiegend positiven Sozialisationsbedingungen wird nicht zwangsläufig komorbide Verhaltensstörungen begünstigen.“ (Wohnhaas-Baggerd, 2008, S. 27).

Der Zusammenhang von Störungen des Sozialverhaltens und Delinquenz wurde weiter oben bereits geschildert. Wohnhaas-Baggerd (2008, S. 28) berichtet von einer Vielzahl an Studien, die belegen, dass durchschnittlich 26 % der Jugendlichen mit einer Störung des Sozialverhaltens zu einem späteren Zeitpunkt eine antisoziale Persönlichkeitsstörung entwickeln. Diese Diagnose wiederum hängt mit späterem delinquentem Verhalten zusammen z.B. Satterfield et.al. (1982) oder Mannuzza et.al. (1989) (In: Wohnhaas-Baggerd, 2008, S.28).

2.4 Fabian und Simon

An dieser Stelle möchte ich, um die Theorie etwas plastischer zu veranschaulichen, zwei Jugendliche, mit denen ich seit geraumer Zeit arbeite, hinsichtlich der oben geschilderten diagnostischen Kategorien beschreiben. Ich nenne sie Fabian und Simon (Namen wurden geändert).

2.4.1 Fabian

Fabian ist 12 Jahre alt und kam im Sommer letzten Jahres aufgrund schulischer und familiärer Probleme in die Wohngemeinschaft. In der Schule verweigerte Fabian die Mitarbeit und provozierte vor allem das weibliche Lehrpersonal. Er konnte sich an keine Regeln halten und missachtete alle Vorschriften. In direktem Kontakt zeigte er sich durchgehend respektlos und gleichgültig gegenüber Konsequenzen. Auch die Kontakte zu Gleichaltrigen waren durch verbale und körperliche Konflikte gekennzeichnet. Zu Hause wurde Fabian der Mutter gegenüber vermehrt aggressiv und körperlich übergriffig. Schließlich kam es zu einer Meldung an die Staatsanwaltschaft des Jugendgerichtes wegen Selbst- und Fremdgefährdung.

Sofort auffällig war Fabians aufbrausendes, oppositionelles Verhalten vor allem gegenüber Frauen und seine sehr stark sexualisierte (teils vulgäre) Sprache. Fabian hatte bei allen Arbeiten eine sehr geringe Frustrationstoleranz, wurde bei geringsten Anlässen schnell verbal und körperlich aggressiv und musste einige male in seiner Aggression (Bedrohungen mit Steinen, Schaufel usw.) auch körperlich eingebremst werden. Fabian hatte den Wunsch, v.a. aufgrund des finanziellen Anreizes, in den Arbeitsgruppen (Garten, Stall, Haus) mitzuarbeiten, schaffte es aber zu Beginn kaum länger als fünf Minuten an einer Arbeit festzuhalten. Sein Vorgehen bei der Arbeit war gekennzeichnet durch Sprunghaftigkeit, Impulsivität und man konnte kaum Handlungsplanung erkennen. Ebenso konnte er sich im Raum nicht richtig positionieren, wählte ungünstige Distanzen und nahm eine ungünstige Körperposition beim Arbeiten ein. Zusätzlich fehlte ihm das Gefühl für eine korrekte Kraftdosierung. Da es unmöglich war ihm Tipps oder Anregungen zu geben, da er diese sofort als Kritik aufnahm und mit Aufbrausen und Aggression reagierte, waren seine Versuche oft durch Misserfolg gekennzeichnet.

In der Ergotherapie wurde schnell deutlich, dass Fabian einen generellen Entwicklungsrückstand und Wissenslücken (Fabian konnte z.B. die Uhr noch nicht lesen) hatte, die er aber sehr schnell aufholen konnte. Ebenso wurden auch feinmotorische Schwierigkeiten bemerkbar. Beim Versuch ein Bild zu gestalten wurde ersichtlich, dass er sehr große Probleme hatte den Raum zu erfassen (ein dreidimensionales Denken oder das Erfassen von Raumtiefe waren unmöglich) sowie die Entstehung des Bildes in einzelne Schritte zu zerlegen und sein Vorgehen zu planen. Ebenso zeigt er Schwierigkeiten die Aufmerksamkeit bei länger dauernden Aufgaben aufrecht zu erhalten.

Zusätzlich viel auf, dass Fabian hin und wieder einkotete. Diese Problematik war aus verschiedensten Berichten bekannt, wurde aber immer als Druckmittel gegenüber der Mutter beschrieben. Fabian selbst spricht davon, dass er sich oft nicht die Zeit nehme auf die Toilette zu gehen, da ihn andere Beschäftigungen oft mehr interessieren würden. Ebenso ist auffällig, dass Fabian körperliche Sensationen oft nicht interpretieren kann („habe Bauchschmerzen“ wenn er auf die Toilette gehen müsste). Seitdem das Problem offen angesprochen wurde, hat sich die Symptomatik bereits sehr stark gebessert.

In den ersten mototherapeutischen Gruppeneinheiten konnten folgende Beobachtungen gemacht werden:

- Geringe Frustrationstoleranz und Respektlosigkeit gegenüber Autoritätspersonen, aber in schwierigen Situationen auch gegenüber anderen Jugendlichen. Körperlich übergriffig (aggressiv) gegenüber Autoritätspersonen und anderen Jugendlichen.
- Fabian kann kaum eigene Bedürfnisse aufschieben.
- Hohe Impulsivität, verbal und motorisch (platzt mit der Antwort heraus bevor er weiß was die Frage ist, nimmt sich sofort jegliches Material das in sein Blickfeld gelangt, usw.).
- In der Gruppe zeigt Fabian eine sehr hohe Ablenkbarkeit.
- Ständige taktil-kinästhetische und vestibuläre Eigenstimulation. Fabian kann kaum ruhig sitzen. Wenn er ruhig sitzt stimuliert er sich über die Stimme (lautes sinnfreies schreien, knurren, summen, usw.). Fabian benötigt sehr starke taktile Reize über die er sich teilweise etwas beruhigen kann.
- Handlungsplanung und Handlungssteuerung sind kaum vorhanden. Fabian beginnt meist ohne nachzudenken mit einer Handlung, zeigt viele ungerichtete ziellose Bewegungen und ärgert sich dann darüber, dass er zu keinem befriedigenden Ergebnis kommt. Zusätzlich kann er verbale Hinweise kaum umsetzen.
- Starker Leistungswunsch: möchte immer der Beste sein und belohnt werden.
- Fabian zeigt ein unreifes Spielverhalten, das für ein Vorschulkind angemessen wäre.
- Fabian hat oft kein Gefühl für Nähe/Distanz zu anderen Personen. Er ist den anderen Jugendlichen oft sehr nahe und verändert dies auch nicht, wenn er darauf hingewiesen wird (wird dann eher aggressiv).
- Fabian nimmt und zerstört teils mutwillig und teilweise aufgrund mangelnder Impulskontrolle, das Eigentum anderer (z.B. Schulsachen).
- Wenn Fabian aufgrund aggressiver Handlungen körperlich eingebremst werden muss (z.B. Festhalten seines Arms wenn er schlagen will), fühlt er sich angegriffen und verbalisiert dies auch so (schreit z.B. „greif mich nicht an“).
- Keine Differenzierung der eigenen Befindlichkeit und eigener Emotionen möglich. Fabian kennt nur „es geht mir gut“ oder „i bin sierig“ (= ich bin zornig).
- Fabian zeigt kaum die Fähigkeit zur Empathie.

Im Einzelsetting, bei dem u.a. auch das Klettern zum Einsatz kam, konnten folgende gezielte Beobachtungen gemacht werden:

- Fabians Grobmotorik ist etwas unreif: Mitbewegungen bei höheren koordinativen Anforderungen, Diadochokinese mit sehr kleiner Amplitude und Bewegung aus dem Schultergelenk, Probleme in der Kraftdosierung.
- Seine Feinmotorik ist ebenso etwas unreif: Schwierigkeiten beim Nachahmen isolierter Finger- und Handbewegungen, Probleme beim Fingertapping und der Fingeropposition, Probleme in der Kraftdosierung sowie bei der Stifthaltung oder der Benutzung von Besteck beim Essen.
- Körperschema und Raum-Lage-Orientierung sind dementsprechend noch unreif. Dies wird vor allem ersichtlich in der Positionierung des eigenen Körpers bei verschiedenen Aufgabenstellungen oder beim Finger-Nase-Versuch. Generelle rechts-links Unterscheidung gegeben, ebenso schafft er es die Mittellinie zu kreuzen.
- Verkürzungen der Muskulatur v.a. der isciocruralen Muskulatur, des M. iliopsoas sowie der Adduktoren in den Oberschenkeln (Langsitz oder Schneidersitz nur erschwert möglich). Fabian ist für sein Alter aber bereits recht groß und in den letzten Wochen sehr schnell gewachsen.
- Sensorik: generelle taktile und propriozeptive Unterempfindlichkeit (Unreife), Probleme bei der Tastlokalisation und der Grafästhesie. Die Reaktion auf vestibuläre Reize hingegen ist gut.

Als Ressource können seine generelle Bewegungsfreude, seine Neugier und daraus entstehend seine hohe Motivation Neues zu lernen genannt werden.

Bei Fabian wurde die Achse I Diagnose F91.3 „Störung des Sozialverhaltens mit oppositionell, aufsässigem Verhalten“ sowie die Achse II Diagnose F 81.1 „isolierte Rechtschreibstörung“ gestellt.

2.4.2 Simon

Simon kam vor mittlerweile 1 ½ Jahren in unsere Einrichtung. In der Schule wurde er für die Lehrpersonen „nicht mehr tragbar“ und sein schulischer Erfolg stand in Frage. Er hielt sich in der Schule an keinerlei Regeln, wurde verbal und körperlich aggressiv und störte den Unterricht der eigenen Klasse sowie den anderer Klassen. Ebenso kam es zu vermehrten Problemen im Elternhaus. Simon ist heute 14 Jahre alt und ein eher kleiner, sehr schlanker, junger Mann. Simon fällt sofort durch seinen ununterbrochenen Redefluss und seine humorvolle Art und Weise auf. In emotional schwierigen Situationen beginnt er leicht zu stottern und löst dies durch einen motorischen Tic (Hochziehen der Augenbrauen) auf. Oft spielt er den „Clown“ und steht dadurch im Mittelpunkt des Geschehens. Zusätzlich ist Simon ständig in Aktion und in Bewegung. Er macht immer und überall mit und möchte überall dabei sein. Ebenso kann er nur sehr schlecht still sitzen, kippelt mit dem Stuhl, trommelt mit den Fingern, oder tritt mit dem Fuß gegen Tisch oder Mauer. Er springt sehr schnell mit seinen Gedanken und reagiert auf äußere Reize mit einer hohen Ablenkbarkeit und starken Impulsivität. Ebenso fällt es ihm schwer Handlungen richtig zu steuern (abzubremsen) und vor allem Bedürfnisse aufzuschieben. In der Ergotherapie wurden leichte Probleme in der Handlungsplanung, die er verbal und durch seinen Humor sehr gut überspielt, bemerkbar. Über einen längeren Zeitraum still und konzentriert an einer Aufgabe zu arbeiten fällt ihm schwer, obwohl er gerne und auch kreativ an verschiedenste Projekte herangeht.

In mototherapeutischen Gruppen- als auch Einzelsettings konnten folgende Beobachtungen gemacht werden:

- Grob- und Feinmotorik sind normal entwickelt.
- Sensorik ist normal entwickelt. Simon sucht aber gerne starke taktile und propriozeptive Reize. Das Vestibulärsystem ist leicht unterempfindlich.
- Simon hat einen Muskeltonus im unteren Normalbereich.
- Simon kann verschiedene Emotionen sehr genau unterscheiden und hat im Einzelsetting auch gute empathische Fähigkeiten.
- In der Gruppe spielt das Thema „Macht“, „bestimmen können“ eine sehr große Rolle. Ist Simon in einer führenden Rolle, kann er sehr einfühlsam und kooperativ mit anderen zusammen arbeiten. Schwierig wird die Zusammenarbeit, wenn er in einer passiven, nicht bestimmenden Rolle ist.
- Normale kognitive Entwicklung.

Als Ressource können seine generelle Motivation unterschiedlichste Angebote in Anspruch zu nehmen, seine Kreativität, seine grundsätzlichen guten sozialen Kompetenzen sowie guten motorischen Kompetenzen genannt werden.

Bei Simon wurde die Achse I Diagnose F90.1 „hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens“ (DSM IV: 314.01 ADHS - Mischtypus und 313.81 Störung des Sozialverhaltens mit oppositionell Trotzverhalten) und auf Achse II die Diagnosen Stottern und motorische Tics gestellt.

Dies ist eine rein qualitative Beschreibung der Symptome von Fabian und Simon auf Verhaltensebene. Über die Entstehungsbedingungen sagt diese Beschreibung noch nichts aus.

2.5 Ätiologie der Störungsbilder und therapeutische Ansätze

„Denn es gibt keine Handlung ohne Grund, und das was ein Kind spontan tut, entspricht immer seinen tiefen Motivationen.

An uns liegt es, zu verstehen, was dieses Tun wirklich ausdrückt – und durch unser eigenes Tun zu antworten.“

(Aucouturier & Lapierre, 1995; In: Esser & Bartik, 2002).

2.5.1 Ursachen für die Entstehung von ADHS

Die Ursachenforschung zur ADHS ist nur sehr schwer überschaubar und durch unterschiedlichste Zugangsweisen geprägt. Vor allem im Bereich der neurobiologischen und neuropsychologischen Forschung gibt es zahlreiche Modellvorstellungen, die im Großteil der Literatur zur ADHS aber nicht ausreichend berücksichtigt werden. Dadurch bilden sich oft Vorurteile (z.B. die pauschale Ablehnung einer Medikation). Ich möchte im Rahmen dieser Arbeit versuchen einen interdisziplinären Überblick zu geben.

ADHS ist keine Krankheit im eigentlichen Sinne und dementsprechend gibt es nicht „die Ursache“ für ADHS wie z.B. einen bestimmten Virus bei einer Grippeerkrankung. Quaschner (In: Remschmidt, 2000, S. 145) schreibt z.B.: „Eine einheitliche Ursache der hyperkinetischen Störung ist nicht bekannt. Es wird eine Vielzahl von ätiologischen Faktoren diskutiert. Eine entscheidende Rolle spielen konstitutionelle Faktoren im Sinne einer genetischen Prädisposition bei der Genese der Störungen. Andererseits scheinen der Schweregrad, die Art der Begleitsymptomatik und der langfristige Verlauf auch in engem Zusammenhang mit Umwelteinflüssen zu stehen.“

Im Folgenden möchte ich die wichtigsten Hypothesen zu den Entstehungsbedingungen der ADHS skizzieren. Dabei gehe ich auf eine Reihe von Vermutungen, wie Lebensmittelunverträglichkeiten, Bleivergiftungen, evolutionsbiologische Erklärungs-modelle oder tiefenpsychologische Ansätze, die in der aktuellen Forschung geringere Relevanz besitzen, nicht ein.

a) Neurobiologische und neuropsychologische Erklärungsmodelle

Neurobiologische Erklärungsversuche

Der folgende Überblick wurde von Moll & Hüther (In: Förstl, Hautzinger & Roth, 2006, S. 653) übernommen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 5: neurobiologische Modelle zur Entstehung von ADHS

Morphologische Unterschiede:

Die vorgefundenen Unterschiede sind laut Moll & Hüther (In: Förstl, Hautzinger & Roth, 2006, S. 653) inkonsistent. Sie führen dies vor allem auf Unterschiede in der Stichprobenzusammensetzung der verschiedenen Untersuchungen zurück (genaue Diagnosestellung, komorbide Störungen, usw.), aber auch auf den Faktor Geschlecht.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die betroffenen Bereiche im frontalen Cortex vor allem mit der übergeordneten Verhaltenssteuerung (exekutive Funktionen wie z.B. Planungsvermögen, Arbeitsgedächtnis, selektive und dauerhafte Aufmerksamkeit, usw.) beschäftigt sind. Sie bilden mit subkortikalen Regionen Schaltkreise. Zu diesen subkortikalen Regionen zählen u.a. die Basalganglien z.B. der Ncl. caudatus. Dies ist ein Teil des Striatum und daher mitverantwortlich z.B. für die hemmende Beeinflussung motorischer Impulse. Interessant erscheint auch die kleinere Volumenausbildung des Cerebellums. Hier sind vor allem neuronale Netzwerke betroffen, die „als wesentlich für die präzise Ausführung zeitlicher Vorgänge angesehen werden“ (Moll & Hüther; In: Förstl, Hautzinger & Roth, 2006, S. 653).

Untersuchungen des zerebralen Blutflusses:

Moll & Hüther (In: Förstl, Hautzinger & Roth, 2006, S. 654) berichten von Untersuchungen der Hirndurchblutung und des Energieverbrauchs unter Ruhebedingungen und während der Lösung von Aufgaben welche Aufmerksamkeit und Impulskontrolle fordern. In diesen Untersuchungen wurde ersichtlich, dass die bereits oben erwähnten Hirnbereiche (frontaler Kortex, Basalganglien, Cerebellum) weniger durchblutet werden. Bei unterschiedlichsten Aufgaben zeigten sich auch andere und vor allem diffusere Aktivierungsmuster als bei gesunden Vergleichspersonen.

Auch hier gibt es aber unterschiedlichste Studien und dementsprechend werden die Ergebnisse sehr kontrovers diskutiert.

Neurophysiologie:

Wie alle anderen Befunde werden auch die Ergebnisse zu den Messungen der elektrischen Hirnaktivität kontrovers diskutiert. Zusammenfassend berichten Moll & Hüther (In: Förstl, Hautzinger & Roth, 2006, S. 654f.) davon, dass im Ruhezustand ein höherer Anteil langsamer theta-Wellen vorliegt, was für weniger grundlegende Energie bei verschiedensten Aufmerksamkeitsprozessen spricht.

Bei der Ableitung ereignisbezogener Hirnpotenziale (Reaktion auf Aufgaben und Reize) konnte, wie bereits bei den Untersuchungen zur Hirndurchblutung, ein diffuseres Bild festgestellt werden (z.B. Verzögerung der Reizverarbeitung, stärkere Orientierungsreaktionen auf einen Hinweisreiz, usw.). Defizite traten in einer Untersuchung von Moll et.al. (2000, 2001; In: Förstl, Hautzinger & Roth, 2006, S. 653) auch in der intrakortikalen Regulation (v.a. des motorischen Systems) auf.

Neurochemie und Transmittersysteme:

Wie in den anderen Bereichen existieren auch hier widersprüchliche Ergebnisse. Unterschiede ergeben sich vor allem in der Untersuchung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, was darauf schließen lässt, dass das vorgefundene Ungleichgewicht in verschiedenen Transmittersystemen keine irreversible Tatsache, sondern ein sich entwickelnder Prozess ist. Einig ist sich der Großteil der Autoren auch darin, dass „nicht ein Neurotransmittersystem allein gestört“ ist, „vielmehr handelt es sich eher um eine Imbalance mehrerer Systeme (…), wobei in neuerer Zeit vor allem das dopaminerge“ (und das noradrenerge System) „im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses steht.“ (Döpfner, Schürmann & Frölich, 2007, S. 25). Moll und Hüther (In: Förstl, Hautzinger & Roth, 2006, S. 656) schreiben dazu: „Aktivitätsunterschiede im dopaminergen System können entscheidend die Funktionen präfrontaler / frontaler Neuronensysteme modulieren und Leistungsunterschiede u.a. im Arbeitsgedächtnis mit bedingen.“ Das Dopaminsystem ist aber auch entscheidend bei der „Regulation von Aufmerksamkeits- und kognitiven Prozessen beteiligt und an der Verstärkung von Intentionen und deren Umsetzung in entsprechende Handlungen“ (Moll und Hüther; In: Förstl, Hautzinger & Roth, 2006, S. 660). Zusätzlich ist es an Netzwerken beteiligt, die für die Verarbeitung neuartiger Informationen, für die Herstellung assoziativer Verbindungen, für die Verarbeitung von Bedrohung und die richtige Funktionsweise des Belohnungssystems mitverantwortlich sind.

Genetik:

Eine familiäre Häufung des ADHS-Verhaltensmusters wurde in zahlreichen Studien bestätigt. Dies beweist jedoch nicht, dass es deshalb genetisch bedingt ist. In diesem Bereich wurden vor allem Gene untersucht, welche die Funktionsweise des dopaminergen und noradrenergen Transmittersystems beeinflussen können. Moll & Hüther (In: Förstl, Hautzinger & Roth, 2006, S. 656f.) berichten von Studien, die insbesondere das Dopamintransportergen (DAT-Gen) und das Dopamanirezeptor-D4-Gen untersuchten. Die Ergebnisse zu diesen Studien sind aber nicht einheitlich. Aus diesem Grund zielt die Forschung vermehrt auf die Untersuchung von Interaktionen zwischen Genen bzw. Interaktionen von Umwelteinflüssen und Genen.

Epigenetische Erklärungsversuche:

In verschiedensten Studien wurden unterschiedlichste Risikofaktoren wie z.B. Nikotin und Alkoholkonsum, oder der Faktor Stress in der Schwangerschaft untersucht. Zusammenhänge konnten wiederum festgestellt werden. Diese alleine reichen aber zur Erklärung der Entstehung eines ADHS Verhaltensmuster nicht aus.

Zusammenfassend ergibt sich die Hypothese einer dopaminergen Hypo- oder Hyperfunktion sowie Unregelmäßigkeiten im noradrenergen System. Für die Ursachen dieser „Fehlfunktion“ im dopaminergen System ist noch keine einheitliche Erklärung gefunden worden (bestimmtes Gen, Gen-Gen-, Gen-Umweltinteraktion oder reiner Umwelteinfluss). Aufgrund dieser Veränderungen im Dopaminhaushalt ergeben sich aber vermutlich die oben erwähnten Volumenunterschiede in den für übergeordnete Verhaltenssteuerung und die motorische Kontrolle verantwortlichen Systemen. Zusätzlich gibt es Unterschiede in der Hirndurchblutung in Ruhe und vor allem bei spezifischen Aktivitäten. All diese Befunde weisen nach Moll und Hüther (In: Förstl, Hautzinger & Roth, 2006, S. 658) auf Schwierigkeiten von ADHS-Betroffenen bei folgenden Anforderungen auf Verhaltensebene hin:

- Schwierigkeiten bei längerfristigen Leistungsanforderungen an das Aufmerksamkeitssystem;
- Leistungseinbußen bei Zunahme der Menge und der Komplexität der zu verarbeitenden Information sowie der geforderten Gründlichkeit und Geschwindigkeit;
- Schwierigkeiten Belohnungen aufzuschieben (wenig Reaktion auf Bestrafung);
- erhöhte und schwer zu hemmende Bereitschaft zu motorischer Aktion;
- Schwierigkeiten in der Steuerung, Kontrolle und Regulation motorischer Aktivitäten (Selbstregulation);
- Schwierigkeiten in der Steuerung zeitlicher Prozesse.

Zusätzlich verstärken sich all diese ADHS-Verhaltensmerkmale in unkontrollierbaren Stresssituationen.

Hier knüpft eine Forschungsrichtung an, die sich mit der Entwicklung unseres Nervensystems beschäftigt. „Die Gehirnentwicklung kann (…) als ein sich selbst organisierender und durch Interaktionen mit der äußeren Welt gelenkter Prozess verstanden werden“ (Moll & Hüther; In: Förstl, Hautzinger & Roth, 2006, S. 659). Die Plastizität unseres Gehirns und die Wechselwirkung mit verschiedensten Umwelteinflüssen ist bis heute noch nicht ausreichend erforscht und birgt wahrscheinlich noch viele zu lösende Rätsel. Eines dieser Rätsel ist die Wechselwirkung zwischen Stresssystem und der Funktionsweise des dopaminergen Systems (Dopamin ist nicht nur Neurotransmitter sondern auch Neuromodulator) bzw. die daraus folgenden Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung (prä- und postnatal). Bei ungünstigen Bedingungen (psychosoziale Belastungen, Stress) können sich keine stabilen internen Repräsentanzen bilden (da Bahnungsprozesse verhindert werden) und man bleibt abhängig von äußeren Reizen. Viele kennen das Phänomen, dass unter Druck und Stress selbst gewohnte Handlungsabläufe (innere Repräsentanzen) nicht gelingen. Herrscht dieser Zustand erhöhter und vor allem diffuser Aktivität (Stress) grundsätzlich in der Zeit der Gehirnentwicklung vor, verhindert dies den Aufbau und die Stabilisierung dieser inneren Muster. Im Jugendalter werden dann all jene Verschaltungen, die nicht ausreichend stabilisiert wurden, durch das Pruning (Rückbildung der übermäßigen synaptischen Angebote) gelöscht. (Dies würde auch eine Erklärung für die oft zu beobachtende verstärkte „Null-Bock-Phase“ von ADHS-Betroffenen in der Adoleszenz bieten.)

Dem Zitat von Aucouturier am Eingang dieses Kapitels folgend, würde das für Kinder und Jugendliche mit ADHS (selbst aus neurobiologischer Sicht) bedeuten:

Ich brauche Stabilität und fixe Bezugspersonen,

die mir als Vorbilder helfen

mich selbst und mein Umfeld zu strukturieren und mich positiv verstärken,

Raum und Zeit mich zu erproben und

durch Wiederholungen wertvolle Erfahrungen zu sammeln.

Ich brauche Liebe, Wertschätzung, Geborgenheit, Sicherheit und Vertrauen.

Neuropsychologische Modelle

Diese Modelle sind auf der Grundlage neurobiologischer und neuropsychologischer Untersuchungen erstellt worden und werden hier nur kurz erwähnt.

Modell der mangelnden Reaktionsinhibition:

Dies ist ein Modell, das eine Störung der sog. exekutiven Funktionen annimmt. Es existiert eine Reihe von Modellen mit dieser Grundthese. Barkley (In: Förstl, Hautzinger & Roth, 2006, S. 674) ging bereits 1997 von einer mangelhaften Hemmungskontrolle bei von ADHS betroffenen Kindern aus. Diese tritt vor allem in drei Bereichen auf: Hemmung von Handlungsimpulsen, Unterbrechung einer Handlung und Kontrolle von Interferenzen. Diese Prozesse werden wiederum als grundlegend für bestimmte höhere exekutive Funktionen angesehen, die ihrerseits wiederum eine stabile Basis für die Selbstregulation bilden. Döpfner, Schürmann und Frölich (2007, S.28/29) bringen dieses Modell in einen größeren Gesamtzusammenhang.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 6: Modell zur Entstehung von ADHS nach Döpfner, Schürmann & Frölich

Zusätzlich wird in der Literatur (siehe dazu: Förstl, Hautzinger & Roth, 2006) das kognitiv-energetische Modell von Sergeant (2000), das Modell der Verzögerungsaversion (Störungen im Bereich der Motivation) von Sonuga-Barke et.al. (1994) und das duale Modell (inhibitorischer und motivationaler Dysfunktionen) von Soltano et.al. (2001) oder von Sonuga-Barke et.al. (2003) postuliert. Ebenso spielt das Verhaltenshemmung- Verhaltensaktivierungsmodell das von Quay (1993) entwickelt und von Nigg (2001) weitergeführt wurde eine nicht unbedeutende Rolle. Das System zur Verhaltenshemmung wird bei Bestrafung (auch Nicht-Belohnung) und durch neuartige Reize aktiviert, das System zur Verhaltensaktivierung hingegen hauptsächlich durch Belohnung. Bei Personen mit einer ADHS soll das System zur Verhaltenshemmung nicht ausreichend reagieren, was bedeutet, dass ADHS-Betroffene auf Bestrafung schlechter reagieren.

Zusammenfassend möchte ich ein Zitat von Döpfner und Lehmkuhl (Förstl, Hautzinger & Roth, 2006, S. 679) übernehmen: „Wenngleich die empirischen Studien beim Vergleich von ADHS-Patienten mit unauffälligen Kontrollprobanden zumindest einige Aspekte der genannten Theorien bestätigen, so ist doch der Nachweis einer ADHS-spezifischen neuropsychologischen Störung, die abgrenzbar ist von neuropsychologischen Auffälligkeiten bei anderen Störungen (…) allenfalls nur in Ansätzen gelungen (…).“ Vor allem in der Abgrenzung zu den Störungen des Sozialverhaltens ergaben sich in unterschiedlichsten Studien keine Unterschiede zwischen den Patientengruppen. Damit geht der Blick auf das Feld der verschiedensten Umweltfaktoren und auf die weiter greifenden biopsychosozialen Modelle.

b) Psychomotorische Ansätze

In der psychomotorischen Literatur findet man immer wieder den Hinweis, dass bei ADHS betroffenen Kindern Probleme in der Wahrnehmungsverarbeitung zu beobachten sind. Daraus folgt ihr auffälliges Verhalten. Genannt werden dabei in erster Linie Probleme in der Wahrnehmungsverarbeitung betreffend das taktil-kinästhetische System, das vestibuläre System und die sensorische Integration.

Dieser Ansatz beruht auf der Annahme, dass wir unsere Welt nur über unsere Sinne „(für) wahr-nehmen“ und unser Selbst (Körperschema - Körperbild - Identität) sich auf der Grundlage unserer Wahrnehmungsfähigkeit entwickelt. Beobachtet man von ADHS betroffene Kinder stellt man schnell fest, dass sie auf ständiger Suche nach taktil-kinästhetischen und vestibulären Reizen sind: Sie zappeln herum, trommeln mit den Fingern auf dem Tisch, kippeln mit dem Stuhl, schaukeln bei jeder Gelegenheit, drehen sich im Kreis, springen auf und nieder, klettern, usw. Einige der betroffenen Kinder zeigen ein vermehrt abwehrendes Verhalten, werden nur ungern berührt, können zu enge Kleidung oder bestimmte Materialien nicht aushalten, usw. Aufgrund dieser Beobachtungen wurde die Hypothese einer taktilen Über- oder Unterempfindlichkeit bzw. einer vestibulären Unterempfindlichkeit entwickelt. Diese Über- bzw. Unterempfindlichkeit wirkt sich wiederum negativ auf die Aufmerksamkeit aus. Das Verhalten des Kindes wäre somit der Versuch ein unzureichend entwickeltes sensorisches System mit Informationen „zu füttern“. Ayres (2002) geht in ihren Annahmen dabei noch weiter und erwähnt die sensorische Integration, also die Verschaltung der unterschiedlichsten sensorischen Kanäle und die richtige Abstimmung und Zusammenarbeit dieser. Die sensorische Integration soll bei von ADHS betroffenen Kindern gestört sein.

In der Zwischenzeit gibt es eine Reihe von Beobachtungsmethoden, die darauf abzielen die sensorische und motorische Entwicklung sowie die Ausreifung der sensorischen Integration beim Kind bzw. Jugendlichen strukturiert zu erfassen. Auf Grundlage einer derartigen Förderdiagnostik können dann gezielte Interventionsmaßnahmen geplant werden um eventuelle Entwicklungsrückstände in einem sensorischen System oder in der sensorischen Integration aufzuholen.

Ansonsten findet man in der Psychomotorik hauptsächlich Ansätze, welche versuchen, die Ganzheit der Person und das System, in dem sie lebt, zu erfassen. Solche Ansätze möchte ich im folgenden Kapitel genauer darstellen.

c) Biopsychosoziale Modelle

In unterschiedlichsten Studien wurden verschiedenste psychosoziale Bedingungen untersucht: sozioökonomischer Status, ungünstige familiäre Bedingungen (z.B. unvollständige Familien), beengter Wohnraum, psychische Störungen der Mutter, usw. Die Ergebnisse der Studien sind sehr unterschiedlich und weisen laut Döpfner, Schürmann & Frölich (2007, S. 26) eher auf einen Zusammenhang „mit aggressiven und dissozialen Verhaltensauffälligkeiten (…) als mit hyperkinetischen Störungen“ hin.

Döpfner, Schürmann und Frölich (2007) als auch Döpfner und Lehmkuhl (In: Förstl, Hautzinger & Roth, 2006) weisen auf einen Zusammenhang zwischen hyperkinetischem Verhalten und einem bestimmten Eltern-Kind-Beziehungsmuster hin. Es wird ein Beziehungsmuster beschrieben. das die „Entwicklung negativer Interaktionen“ begünstigt. In diesem Interaktionsmuster wird hauptsächlich das auffällige Verhalten des Kindes beachtet (wenn auch in bestrafender Funktion), das ruhige und „folgsame“ Verhalten des Kindes wird nicht beachtet. Für das Kind bedeutet dies aber häufigere Zuwendung der Eltern bei auffälligem Verhalten und somit Verstärkung desselben. Ob dieses Verhalten der Mütter aber wiederum eine Reaktion auf die ADHS der Kinder sein könnte ist noch nicht endgültig geklärt.

Diskussionsthema, vor allem in der psychomotorischen Literatur, sind immer wieder die veränderten gesellschaftlichen Lebens- und Umweltbedingungen. Genannt werden hier:

- Zunahme der (v.a. visuellen und akustischen) Reizflut und eine Steigerung des Lebenstempos;
- Zunahme an Hektik, Stress und Unsicherheit;
- Zunehmende Beziehungslosigkeit und Vereinsamung des Individuums;
- „Verinselung“ und Aufsplitterung der Lebenszusammenhänge;
- Leistungsorientierung unserer Gesellschaft;
- materielle Orientierung unserer Gesellschaft;
- verstärktes Konkurrenzdenken;
- Werteverlust (bezogen auf Familie, Moralvorstellungen, usw.);
- Kinder werden schon frühzeitig „in die Verantwortung“ genommen, einerseits aufgrund von lebenspraktischen Bedingungen (allein erziehende Eltern z.B.), andererseits aufgrund der pädagogischen Annahme, dass Kinder schon frühzeitig aus Einsicht lernen müssten;
- westliche Wertvorstellungen, die vor allem auf Individualität und Einzigartigkeit abzielen und dadurch den Leistungsdruck zusätzlich erhöhen;
- usw.

Verschiedenste Autoren z.B. Neuhaus, Hammer oder Passolt (In: Passolt, 1996, S. 11; zitiert nach: Voß 1993, S. 18) betonen immer wieder: „Hyperaktivität ist, wie alle anderen auffälligen Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen in den verschiedenen Erscheinungsformen bis hin zu psychischen, psychosomatischen oder körperlichen Erkrankungen, eine gesunde Reaktion auf eine krankmachende Lebenswelt. (…) Sie ist als Problemlösungsversuch zu verstehen, der es den Kindern in konkreten, sozialen Situationen ermöglicht, die jeweilige Konfliktsituation zu überleben. Als Mittel der Problemlösung übernimmt sie zugleich eine vorbeugende Funktion, die das Kind vor schweren Störungen und Erkrankungen schützt. Diese Notsignale sind Botschaften, die von uns – zusammen mit dem Kind – zu decodieren und als gesellschaftliche und pädagogische Herausforderung anzunehmen sind.“

Die einseitige Überbetonung dieser Sichtweise kann aber auch eine große Gefahr darstellen. Alle genannten Faktoren haben sicherlich ihre Berechtigung in der Aufrechterhaltung und Ausbildung sekundärer Störungen. Veränderungen in diesen unglaublich wichtigen Rahmenbedingungen sind für das betroffene Kind bzw. Jugendlichen von immenser therapeutischer Relevanz. Vor allem der Einwand von Hahn & Pieper (2005, S. 92) erscheint plausibel: „Die aktuelle Situation wirkt sich auf Kinder mit ADHS stärker aus als auf andere, weil sie auf Grund ihrer verminderten Aufmerksamkeitsspanne langsamer lernen, nicht nur in kognitiven, sondern auch in motorischen Bereichen.“ In der Behandlung und Therapie eines Kindes oder Jugendlichen ist es wichtig Verantwortung zu übernehmen und den Betroffenen in ihrer gegenwärtigen Situation zu helfen. Veränderungen gesellschaftlicher Strukturen sind erstrebenswert, werden aber nicht schnell umsetzbar sein. Dennoch muss gut überlegt werden, welche Möglichkeiten sich ergeben dem Kind oder Jugendlichen Nischen anzubieten in denen es/er andere, positive, Erfahrungen machen kann und, aufbauend auf diesen neuen Erfahrungen, den Teufelskreis, wie ihn Köckenberger (2001, S.19) in der unten stehenden Abbildung beschreibt, durchbrechen kann.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 7: Modell zur Entstehung von ADHS nach Köckenberger

d) Integratives Modell

Wie aus meinen Ausführungen ersichtlich wird, haben für mich sowohl neurobiologische und -psychologische Modelle als auch Modelle, die sich vermehrt auf psychosoziale und gesellschaftliche Rahmenbedingungen beziehen, ihre Berechtigung. Bisher habe ich aber noch kein Modell gefunden, dass in meinen Augen alle diese Bereiche integriert und sie in einen größeren, sich gegenseitig bedingenden, Zusammenhang stellt. An dieser Stelle möchte ich deshalb kurz ein Modell der Entstehungsbedingungen (und der Bedingungen zur Aufrechterhaltung) der ADHS skizzieren, das sich auf die oben genannten Modelle von Köckenberger (2001) und Döpfner, Schürmann & Fröhlich (2007; Nach: Barkley, 1989) stützt.

Dabei wird ersichtlich, wie komplex die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Teilbereichen sind, und dass eine eindimensionale Betrachtung vor allem im therapeutischen Bereich nicht zielführend sein kann.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 8: Integratives Modell zur Entstehung von ADHS

2.5.2 Ursachen für die Entstehung von Störungen des Sozialverhaltens

a) Neurobiologische und neuropsychologische Auffälligkeiten

Bei den Störungen des Sozialverhaltens existiert keine so intensive neurobiologische und neuropsychologische Forschung wie bei der ADHS. Es treten aber immer wieder Hinweise auf, dass die neuropsychologischen Auffälligkeiten, die bei ADHS betroffenen Kindern und Jugendlichen gefunden wurden, auf Kinder und Jugendliche mit Störungen des Sozialverhaltens übertragbar sind. Dies betrifft vor allem Untersuchungen zu den hemmenden Funktionen. Döpfner und Lehmkuhl (In: Förstl, Hautzinger & Roth, 2006, S. 679) berichten beispielsweise von einer Studie aus dem Jahre 2001 (Scheres et.al.) die „ keine Unterschiede zwischen Patienten mit ADHS (ohne Störungen des Sozialverhaltens) und Patienten mit Störungen des Sozialverhaltens (ohne ADHS) bei inhibitorischen Funktionen finden“ konnte.

Herpetz-Dahlmann (In: Remschmidt, 2000) entwarf ein Modell zur Entstehung des gestörten Sozialverhaltens, das den Entstehungsbedingungen der ADHS sehr ähnlich ist.

Er postuliert eine genetische Prädisposition welche zu bestimmten neurochemischen und neurophysiologischen Ver-änderungen führt, was sich wiederum auf das Verhalten auswirken und gemeinsam mit unterschiedlichsten psycho- sozialen Einflüssen zur Ausprägung einer Störung des Sozialverhaltens führt. Zusätzlich spricht er davon, dass die „Wahrscheinlichkeit der Entstehung der Störung mit der Anzahl der Risikofaktoren wächst“ (Herpetz-Dahlmann; In: Remschmidt, 2000, S. 280).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 9: Modell zur Entstehung der Störungen des Sozialverhaltnes nach Herpetz-Dahlmann

[...]

Ende der Leseprobe aus 160 Seiten

Details

Titel
MMP-relevante Wirkfaktoren des Sportkletterns und Boulderns bei Jugendlichen mit ADHS und Störungen des Sozialverhaltens im Rahmen eines interdisziplinären Therapieansatzes
Autor
Jahr
2012
Seiten
160
Katalognummer
V205938
ISBN (eBook)
9783656333210
ISBN (Buch)
9783656334422
Dateigröße
7903 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
KLettern, Bouldern, Sportklettern, ADHS, Störungen des Sozialverhaltens
Arbeit zitieren
Gisela Olsacher (Autor:in), 2012, MMP-relevante Wirkfaktoren des Sportkletterns und Boulderns bei Jugendlichen mit ADHS und Störungen des Sozialverhaltens im Rahmen eines interdisziplinären Therapieansatzes, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/205938

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