»Ich kann dich doch nicht wärmen mit deinem Messer in den Gedärmen« – Sexualität und Gewalt in frühen Dramen Peter Weiss'


Referat (Ausarbeitung), 2012

16 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


»Ich kann dich doch nicht wärmen mit deinem Messer in den Gedärmen« – Sexualität und Gewalt in frühen Dramen Peter Weissʼ

Das Geschlechtliche. Die anwachsenden Penisformen. Das Suchen nach weichen Gliedern, daran zu tasten, sie zu liebkosen. Brüste. Hüften. Schösse. Sich an sie zu schmiegen, sich in sie hineinzudrängen. Die innere Welt, ich liefere mich ihr aus. (Kopenhagener Journal, 13)

Dieses Zitat stammt aus demKopenhagener Journal, einem Tagebuch, das Peter Weiss zwischen Juli und Dezember 1960 führte. Es war nie für die Öffentlichkeit bestimmt, enthält es doch sehr private Einsichten, Ansichten und Gedanken von Peter Weiss. Einen großen Raum nimmt das Nachdenken über Sexualität ein, ein konflikthafter Erfahrungsbereich, der Weiss zeit seines Lebens stark beschäftigt hat. Es wird daher nicht verwundern, dass der Sexualitätsdiskurs nicht nur im Privatraum von Weiss eine große Rolle gespielt hat, sondern auch in seinem gesamten Œuvre – angefangen von den Collagen zuAbschied von den ElternundDer Schatten des Körpers des Kutschers, über die experimentellen Filme, bis hin zu seinem literarischen Werk – präsent ist.

Sexualität ist eine Erfahrung mit der sich jeder Mensch auseinandersetzt, sie gehört zu unserer Lebenswelt, wir werden jeden Tag mit ihr konfrontiert: sowohl im eigenen Privatraum als auch durch die Medien. Die Sexualität ist ein allgegenwärtiger Diskurs. Der französische Denker Michel Foucault begreift den Sexulitätsdiskurs als Ausdruck von Machtbeziehungen in der Gesellschaft. Machtbeziehungen sind alle zwischenmenschlichen Beziehungen, die durch Regeln, Normen und Verbote geregelt sind. Zu den Beziehungsgeflechten gehört zwangsläufig die Sexualität. In unserer heutigen Gesellschaft ist es kaum noch vorstellbar, aber in den früheren Epochen, bis sogar weit nach 1900, war der Sexualität ein breiter Regel- und Normenkatalog auferlegt.

Interessanterweise wird in der Literatur eben nicht nur die für »normal« erklärte Sexualität thematisiert, sondern die Abweichung. In diesen Diskurs reihen sich viele Autoren ein, direkt oder indirekt verweisen sie auf erotische Abenteuer und Erlebnisse, und dabei werden oft Regelüberschreitungen beschrieben. Besonders möchte ich auf Bertolt Brecht hinweisen, dessen Darstellung von Sexualität im sozialen Kontext für Peter Weiss als Orientierung angesehen werden kann.

In seinem literarischen Werk thematisiert Peter Weiss eine Befreiung des Einzelnen von der Normierung der Gesellschaft, er inszeniert die Revolte des Einzelnen und revolutionäre soziale Befreiungsversuche, zu der ebenfalls die sexuelle Freiheit zählt. Den Schwerpunkt werde ich in meinen Ausführungen auf Weiss frühe Dramen legen. Darunter verstehe ich alle Stücke bis zumMarat/Sade, da dieses Drama ein Kulminationspunkt in Weiss Œuvre bildet, denn hier verbinden sich viele Elemente aus seinen frühen Arbeiten zu seinem ersten Stück mit explizit politischem Gehalt. Peter Weiss bemerkte in einem Interview, dass seine ersten Dramen unweigerlich auf denMarat/Sadehinarbeiteten. Mein Korpus umfasst demnach denTurm(1948),Nacht mit Gästen(1963) undMarat/Sade(1962/63).Dabei gehe ich von der These aus, dass Weiss die Darstellung von Sexualität mit Gewalt verbindet, wobei diese zunächst in einem privaten Raum thematisiert wird, den Weiss parabelhaft ausarbeitet, damit er für alle Räume stehen kann, und dann in einen öffentlich-politischen Raum transportiert wird, d. h. dass private sexuelle Gewalterfahrungen sich zu welchen mit politischem Hintergrund entwickeln. Gleichzeitig existieren in seinen Dramen nur asymmetrische Beziehungen, in denen entweder der Mann oder die Frau der Herrscher, und der jeweils andere der Beherrschte.

Ich möchte darauf hinweisen, dass ich das literarisches Personal und den Autor nicht gleichsetzten werde, sondern als unterscheidbare Instanzen betrachte., demnach werde ich die Biografie von Weiss nicht als Erklärungsmuster für sein literarisches Werk gebrauchen.

1. Der Turm(1948) – Der ewige Kampf von Eros und Thanatos

Ich komme nun zum ersten dramatischen Stück von Weiss. In meiner Arbeitsthese gehe ich davon aus, dass in diesem Stück sexuelle Gewalt per Psychoanalyse thematisiert wird, und demnach ein privat-psychisches Problem darstellt.

In Weiss erstem Drama von 1948 werden wir Zeuge wie der junge Pablo in den Turm zurückkehrt, sein früheres Heim. Der Turm wird von einer Zirkustruppe bewohnt, die sich aus Akrobaten, Tänzern, Zwergen und Tierbändigern zusammensetzt. Im Zirkus herrscht eine strenge Hierarchie, in der der Direktor und die Verwalterin über die Ordnung und die Struktur wachen. Als oberster Grundsatz gilt: Wer zum Turmzirkus gehört, gehört sein ganzes Leben dazu. Pablo ist vor Jahren geflohen unter heftiger Gegenwehr der Gesellschaft des Turmes. Zu dieser Turmgesellschaft kehrt Pablo unter dem Namen Niente zurück. Der Name Niente könnte soviel wie »Niemand« bedeuten. Er begegnet seinen früheren Kameraden, unter anderem seinen Freund Carlo, und er erinnert sich, dass seine Liebe Nelly tot ist, sie wurde vom Zauberer in den Tod getrieben. Der Zauberer scheint die einzige Figur im Stück zu sein, die außerhalb aller Ordnungen und Strukturen steht. Pablo stellt sich dem Zauberer, widersteht dessen tödlichem Einfluss und kann sich in letzter Konsequenz der Turmgesellschaft entziehen.

Der Turm steht für Pablo gleichsam als Gefängnis, als Vergangenheit, die er selbst nach seiner Flucht nicht los wird. Gleichzeitig steht der Zirkus, in dem er aufgewachsen ist als Balanceur, für seine Familie. Er kehrt nicht nur wegen Nelly zurück, sondern auch um sich von seiner »Familie«, seiner Vergangenheit zu lösen, die Nabelschnur zu durchtrennen. Er tritt deshalb als Niente auf, der ein Entfesslungskünstler ist. Dadurch, dass er sich seiner Vergangenheit stellt, sich aus den Fesseln seiner Familie befreit, kann er wieder seinen richtigen Namen, also Pablo, führen.

Die Motivstruktur inDer Turmlegt eine psychoanalytische bzw. freudianische Lesart nahe: Der Turm steht für die menschliche Psyche, die geprägt ist durch Familie, eben dieser Zirkusfamilie, von der man sich lösen muss, wenn man ein selbstständiges Wesen sein möchte, aber auch Triebe beherrschen die Psyche, die symbolisiert werden durch einzelne Gestalten des Zirkus. Nach Freud beherrschen zwei Triebe die Psyche: Eros und Thanatos. Sigmund Freud identifiziert Eros und Thanatos, in seinem AufsatzJenseits des Lustprinzipes(1920), als die zwei Triebe, die in uns um die Vorherrschaft kämpfen. Eros strebe zum Organischen, wäre demzufolge das lebensbejahende Prinzip, es falle mit unserer Libido zusammen und wäre unser Selbsterhaltungstrieb. Dagegen stehe Thanatos, es strebe zum Anorganischen, wäre demnach unser Selbstzerstörungstrieb. Diese zwei Triebe werden bei Weiss durch die Zirkusmitglieder symbolisch repräsentiert: Der Zauberer verkörpert Thanatos, während Nelly und die Dompteuse Eros verkörpern, also die Libido, die Lust.

Der Zauberer ist imTurmdas negative Prinzip. So treibt er Nelly in den Tod. Das gleiche versucht er nun mit Pablo durch Hypnose, Gaukelei und Lügen. So redet er Pablo ein, er habe die Dompteuse vergewaltigt:

Pablo Überall tauchtest du auf mit deinem Flüstern. In der Umkleideloge sah ich dich plötzlich im Spiegel. Nachts fühlte ich plötzlich, daß du neben mir auf dem Bettrand saßst. […] Aus Furcht vertraute ich mich dir an. Ich hatte Angst […] Parasit! […]

[...]

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Details

Titel
»Ich kann dich doch nicht wärmen mit deinem Messer in den Gedärmen« – Sexualität und Gewalt in frühen Dramen Peter Weiss'
Hochschule
Universität Rostock  (Institut für Germanistik)
Veranstaltung
„Welttheater“. Annäherungen an den Dramatiker Peter Weiss II.
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
16
Katalognummer
V205900
ISBN (eBook)
9783656332206
ISBN (Buch)
9783656332237
Dateigröße
548 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Dieser Vortrag wurde ebenfalls im Rahmen der Peter-Weiss-Woche 2012 in Rostock am 08. Mai 2012 auf dem Peter-Weiss-Kolloquium gehalten.
Schlagworte
messer, gedärmen«, sexualität, gewalt, dramen, peter, weissʼ
Arbeit zitieren
Stefan Tuczek (Autor:in), 2012, »Ich kann dich doch nicht wärmen mit deinem Messer in den Gedärmen« – Sexualität und Gewalt in frühen Dramen Peter Weiss', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/205900

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