Kirche und Nationalsozialismus in Ostpreußen

Zwei Porträts aus dem Kirchenkampf


Wissenschaftliche Studie, 2012

73 Seiten


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

Fritz Kessel - Bischof in Königsberg [1933-1936]
Literatur
Anhang

Der „Fall Pfalzgraf“ in Insterburg/ Ostpreußen
Laien im Kirchenkampf – Prediger des Evangeliums oder Störenfriede?
Literatur

Einleitung

Die Literatur zum sog. Kirchenkampf, dem komplexen „Neben-, Mit- und Gegeneinander“ von NS-Staat und Evangelischer Kirche in der Zeit von 1933 bis 1945, ist nur noch schwer zu überblicken. Erinnerungsbücher, biographische und erbauliche Schriften, wissenschaftliche Monographien, Aufsatzsammlungen, Tagungsberichte, religionspädagogische Entwürfe - vielfältig sind die Möglichkeiten, sich über die Theologen der Bekennenden Kirche, die Synode von Barmen oder Spezialfragen zu informieren.

An vielen Orten tragen Kirchen, Gemeindehäuser, Tagungsstätten die Namen von Protagonisten aus jener Zeit. Nach 1945 hat der Kirchenkampf für die sich neu aufstellende Evangelische Kirche die Funktion eines Gründungsmythos angenommen. Sicherlich hat die kirchliche Erinnerungskultur keine Heldenverehrung intendiert, aber aufgrund eines verklärenden Geschichtsbildes wurde der kritische Blick auf die Einbindung des deutschen Protestantismus in den politischen Kontext verdunkelt. Erst nachdem die Deutungshoheit nicht mehr einseitig besetzt war, konnte die Frage gestellt werden, ob das Erbe der Bekennenden Kirche überhaupt noch eine Rolle spielt, wenn es denn je nach 1945 als zukunftsweisend aufgenommen worden ist. Offenbart die mit der ersten Nachkriegssynode in Treysa (1945) beginnende Entwicklung nicht eine Kirche, die ihre Freiheit dem Wohlwollen der Gesellschaft geopfert hat?

In der neueren Forschung wird der „Denkmalstatus“ der Epochenbezeichnung „Kirchenkampf“ in Frage gestellt. Die Erforschung des Kirchkampfes in den verschiedenen Phasen nach 1945 ist selber zum Gegenstand der Forschung geworden. Nachdem die großen Gestalten biographisch und monographisch „erschlossen“ worden sind, richtet sich der Blick auf Frauen und Männer, die unbeachtet geblieben sind. Gefragt wird nach Anlass und Konsequenzen von Entscheidungen in „statu confessionis“. Oder das wissenschaftliche Interesse konzentriert sich auf Milieus und Mentalitäten. Sogar das Denken und Handeln der Gegenspieler der Bekennenden Kirche wird untersucht. Dagegen finden die ehemaligen Kirchenprovinzen im Osten immer noch wenig Beachtung.

Im Zusammenhang meiner Studie „Wie Schafe mitten unter die Wölfe. Die Bekennende Kirche in Ostpreußen und Dietrich Bonhoeffers Visitationsreisen 1940“ (München 2012) bin ich auf zwei Persönlichkeiten gestoßen, die im Verlauf des Kirchenkampfes in Ostpreußen Spuren hinterlassen haben, von der Forschung aber höchstens am Rande wahrgenommen worden sind: Fritz Kessel und Dr. Andreas Pfalzgraf. Dieser als unbeugsamer Verfechter des „sola fide, sola scriptura, solus Christus“ in der Gemeinde von Insterburg. Jener als Bischof in Ostpreußen, Funktionär in der „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ (= DC) und fanatischer Verfechter einer „Doppelgläubigkeit“ (Manfred Gailus). Kessel wie Pfalzgraf haben in unterschiedlichen Zeiten des Kirchenkampfes agiert. Ob sie sich persönlich kannten, darf vermutet werden. Man muss in ihrem Auftreten zwei sich ausschließende Möglichkeiten des Christseins in jenen Jahren sehen. Dass es neben diesen zwei Optionen noch eine breite Mitte gab, die aus unterschiedlichen Gründen nach Ausgleich bzw. einen dritten Weg suchte, steht hier nicht zur Debatte.

In der historischen Recherche und im sachkritischen Diskurs über die vorliegenden Fakten, Überlieferungen, Materialien usw. bleibt eine Wertung nicht aus. Nach protestantischem Selbstverständnis beschränkt sich der „status confessionis“ nicht auf die Vergangenheit. Im Gegenteil. Gerade in der Situation einer offenen Gesellschaft droht christliche Theologie sich durch Selbstmodernisierung und Anpassung an vermeintlich unabänderliche Plausibilitäten zu verlieren. Nicht allein die Gegenwart fordert heraus. Protestantische Identität lebt davon, Wegstrecken der eigenen Geschichte nicht zu verdrängen, sondern in der Verschränkung mit aktuellen Fragen kritisch zu reflektieren, um angemessen weitergehen zu können. Eberhard Bethge: „ein Bekenntnis, ein status confessionis verrottet, wenn er sich auf die confessio gegen beschränkt und sich nicht einlässt auf die confessio für, das heißt: wenn der Bekennende sich nicht auf seine Verantwortung für die jeweilige Gesellschaft und ihre Opfer einlässt, mit anderen Worten: sich auf Bekenntnis und Widerstand, auf Bekennen mit Widerstand einlässt“ (in: DERS., Bekennen und Widerstehen. Aufsätze, Reden, Gespräche, München 1984, 145).

Mit der Widmung möchte ich an einen Theologen erinnern, der, obwohl katholischer Christ, in einer protestantischen Fakultät Sozialethik gelehrt hat. Sein Lebensweg von Danzig über Lübeck, Köln, Fribourg/ CH nach Marburg, sein Eintreten für verfolgte jüdische Menschen, die bis an den Rand des Martyriums reichenden Grenzüberschreitungen, die konfliktbereite Suche nach Menschlichkeit und Wahrheit in Kirchen und Gesellschaft kommentieren das gerade Gesagte. Er war ein wirklicher Lehrer und Freund. Was passt besser, als seiner im Kontext von Essays zum sog. Kirchenkampf in Ostpreußen zu gedenken.

Marburg, Herbst 2012 Ulrich Schoenborn

Fritz Kessel Bischof in Königsberg (1933-1936)*

Schon vor der „Machtergreifung“ Hitlers am 30. Januar 1933 hatte es im deutschen Protestantismus Gruppierungen gegeben, die sich aus unterschiedlichen Gründen mit der Ideologie des Nationalsozialismus identifizierten. Deutschnationales und völkisches Denken hatten nach dem Ersten Weltkrieg Konjunktur. Antisemitische, antidemokratische und antiaufklärerische Einstellungen blickten in evangelischen Kreisen auf eine lange Tradition zurück. Auf diesem Boden entstand die „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ (= DC), die 1932 offizielle Anerkennung in den Landeskirchen fand. Erklärtes Ziel der Glaubensbewegung war eine Kirchenreform, die den neuen politischen Realitäten korrespondierte.

1. Evangelische Kirche und Nationalsozialismus

Mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg (Versailler Vertrag) kam auch das Ende der engen Verbindung von Thron und Altar. In der Zeit der Weimarer Republik hatten säkularistische bzw. kirchenfeindliche Tendenzen beachtlichen Zulauf. Angesichts dieser desolaten Situation waren nicht wenige evangelische (und auch katholische) Christen erfreut, dass die NSDAP und viele ihrer Führer sich zustimmend zur religiösen Frage stellten (§ 24 des Parteiprogramms: „positives Christentum“). Folglich wollten diese kirchlichen Kreise nicht abseits stehen, sondern sich tatkräftig am „nationalen Aufbruch“ beteiligen. Der NS-Staat wiederum hoffte auf die Loyalität evangelischer Gruppen, und die DC wollte im Fahrwasser des neuen Staates eine „Rechristianisierung“ der Gesellschaft einleiten. Aber auch moderate Kräfte im deutschen Protestantismus bemühten sich, den Weg der Kirche strukturell und personell neu zu gestalten. Vor allem die Frage des zukünftigen Reichsbischofs gab Anlass zu Differenzen. Während die DC den Königsberger Wehrkreispfarrer und Kandidaten Hitlers, Ludwig Müller (1883-1945), favorisierten, war von den meisten Landeskirchen Pfarrer Fritz von Bodelschwingh (1877-1946) für das Amt nominiert worden. Bevor die nach langer Vorarbeit entworfene neue Kirchenverfassung angenommen wurde (von allen Kirchen am 11. Juli und vom Staat am 14. Juli 1933), ist F. von Bodelschwingh trotz wilder Gegenkampagnen der DC am 26. Mai 1933 zum Reichsbischof gewählt worden. Der NS-Staat nahm diesen „rechtswidrigen“ Schritt

* Zuerst veröffentlicht in „Königsberger Bürgerbrief“ (Nr. 80/ 2012). Jetzt überarbeitet und ergänzt.

zum Anlass, am 24. Juni einen Staatskommissar für die preußischen Kirchen zu bestimmen, August Jäger (1887-1949). Fritz von Bodelschwingh trat darauf zurück.

Als nächstes ließ Hitler für den 23. Juli allgemeine Kirchenwahlen ansetzen und griff mittels einer von Königsberg ausgestrahlten Rundfunkansprache zugunsten der DC ein. Zum Abschluss der Rede sollen angeblich die Glocken des Königsberger Doms geläutet haben, eine gezielte Falschmeldung. Da sie den Propaganda-Apparat der Partei zur Verfügung hatten, anderen Gruppierungen es dagegen an logistischer Unterstützung fehlte, konnte die DC über 70% der Stimmen für sich verbuchen. Aufgrund dieser Mehrheitsverhältnisse begann allenthalben eine Umgestaltung der Kirchenstrukturen. In den Kirchenvorständen versuchten Vertreter der DC das „neue Denken“ durchzusetzen. Die Kirchenverwaltungen führten zentralistische Maßnahmen und eine staatskonforme Handhabung des Rechts ein. Dazu gehörte u.a. der Arierparagraph. Alle Pfarrer wurden zur Bejahung des NS-Staates genötigt. Auf der X. Preußischen Generalsynode („braune Synode“) am 24. August wurde Ludwig Müller zum Landesbischof gewählt. Am 27. September folgte dann auf der 1. Nationalsynode in Wittenberg seine Wahl zum Reichsbischof. Ein beispielsloser Gleichschaltungsprozess der Evangelischen Kirche war damit eingeleitet.

Bei den Wahlen für das Stadtparlament in Königsberg am 7. Februar 1937 erreichten die Nationalsozialisten mit 54 % die absolute Mehrheit. Und bald stand Ostpreußen mit 56,5 % für die NSDAP an der Spitze aller Reichstagswahlkreise. Nach dem 14. Juli 1933 gab es nur noch eine Partei.

In Ostpreußen manifestierten sich die neuen Machtverhältnisse auch im Raum der Kirche. Mit der Einsetzung von Staatskommissar Jäger war Generalsuperintendent D. Paul Gennrich zum 1. Juli 1933 abgesetzt worden. Ähnlich erging es Hans Joachim Iwand, Universitäts-Dozent und Studieninspektor am Lutherstift in Königsberg. Die neue Synode wählte Gauleiter Ernst Koch (1896-1986) zu ihrem Präses. Da er in seiner Jugend dem CVJM in Wuppertal-Elberfeld angehört hatte und Sympathien für die Evangelische Kirche zeigte, schenkten ihm viele Pfarrer und Gemeinden Vertrauen. Nach den schwierigen Jahren der Weimarer Republik schienen Staat und Kirche zu einem neuen Miteinander gekommen zu sein. Am 5. Oktober betrat Fritz Kessel, Pfarrer aus Berlin-Spandau, die kirchenpolitische Bühne in Ostpreußen.

2. Wer ist Fritz Kessel?

Fritz Karl Rudolf Fedor Kessel wurde am 10. März 1887 in Niewodnik, Kr. Falkenberg (Oberschlesien) geboren. Sein Vater war zunächst Bergmann, später Gutsinspektor in der Nähe von Oppeln. Als einziger Evangelischer hatte der Junge in der Schule einen schweren Stand. Ursprünglich wollte er auch einen Beruf im Bergbau erlernen. Ein Stipendium der Zechengesellschaft ermöglichte ihm den Besuch des Gymnasiums. Unterstützt von seinem älteren Bruder studierte er Evangelische Theologie in Königsberg, Heidelberg und Breslau. Nach dem Ersten Theologischen Examen am 1. Dezember 1912 wurde er Vikar in Waldau/ Oberlausitz. Von 1914 bis 1917 nahm er als Kriegsfreiwilliger bei den Lübbener Dragonern bis zu einer Verwundung (Verdun) am Ersten Weltkrieg teil. Am 31. März 1917 wurde er nach dem Zweiten Examen ordiniert und übernahm eine Pfarrstelle in Kaltwasser/ Kr. Lübben (Schlesien). Schon während des Studiums hatte sich öfters zu Arbeitsbesuchen im Zoologischen Museum der Universität Breslau aufgehalten.

Eine große Veränderung trat mit dem Jahr 1920 ein. Kessel ließ sich nach Brasilien aussenden und wurde Pfarrer in Badenfurt (Santa Catarina), wo sich deutsche evangelische Auswanderer niedergelassen hatten. Drei Jahre lang versorgte er die aus mehreren Ortschaften bestehende Gemeinde. In einem Rückblick aus den 50er Jahren werden Unstimmigkeiten und Spaltungen erwähnt. Anschließend ließ Kessel sich beurlauben, um in Rio de Janeiro für die „Deutsche Einheitsfront im Ausland“ tätig zu sein. Außerdem arbeitete er im Bankensektor. Bemerkenswert ist, dass die brasilianische Fauna sein entomologisches Interesse geweckt hat. 1932 veröffentlichte er im Verlag Friedländer & Sohn (Berlin) eine wissenschaftliche Studie: „Fauna brasiliensis coleopterologica“ (162 Seiten). 1925 kehrte er nach Deutschland zurück und verwaltet vom 1. Januar 1926 an die Pfarrstelle in Parchwitz/ Schlesien. In diesen Jahren starben seine (erste) Frau und drei seiner fünf Kinder. Zum 1. September 1928 übernahm er die zweite Pfarrstelle an St. Nicolai in Berlin-Spandau. Sein damaliger Kollege Pfr. Blenn beschrieb 1948 Kessel als geschickten Rhetoriker. Allerdings mangele es ihm an Eindeutigkeit. Er könne verbindlich sein, dann aber auch fanatisch und jähzornig. Vor allem vermisse er bei ihm die Voraussetzungen für die Aufgabe eines Seelsorgers und Gemeindepfarrers (biblische Orientierung). Vielmehr sei er erfüllt gewesen von politischem Ehrgeiz. In der Berliner Gemeinde trug er die Spitznamen „Revolverpastor von Spandau“ bzw. „Piff-Paff-Päffchen-Beffgen“, weil er stets eine Waffe mit sich führte und sie auch zur Warnung eingesetzt haben soll (Vgl. Landeskirchliches Archiv Wolfenbüttel 2631).

Preußen bzw. Friedrich II. nahmen im geistig-politischen Horizont Fritz Kessels einen orientierenden Platz ein. Der Ausgang des Ersten Weltkrieges, der Zusammenbruch der politischen und kirchlichen Strukturen müssen ihn sehr getroffen haben, so dass sich seine Hoffnungen auf eine „nationale Auferstehung“ konzentrierten. Bis 1928 war Kessel Mitglied der DNVP, trat dann aber der NSDAP bei. 1932 gehörte er zu den Mitbegründern der „Glaubensbewegung Deutsche Christen“. In dieser Kirchenpartei war er Reichsreferent für Propaganda und Schulung, „ein großer Trommler für die NSDAP“ (Linck 49). Über eine Wahlveranstaltung aus jener Zeit (1932) mit Kessel als Hauptredner schrieb Agnes von Zahn-Harnack in der Voßischen Zeitung: „Um es gleich vorweg zu nehmen: Das Ergebnis war erschreckend. Erschreckend in seinem Inhalt, fast noch erschreckender durch die demagogische Form, in der die Gedanken vorgetragen wurden“. Abstoßend sei neben der verschwommenen Gedankenführung „der geradezu fessellose Antisemitismus des Redners“ (zit. bei Scholder 272). 1933 stieg Kessel im Konsistorium in Berlin zum theologischen Hilfsreferenten auf. Als die DC nach den gewonnenen Kirchenwahlen (Juli 1933) auf die Stellenpolitik Einfluss nehmen konnten, wurde Kessel gegen den Willen von Gauleiter Koch zum Bischof der Provinz Ostpreußen mit Sitz in Königsberg berufen. Der Bischof bezog eine Villa in Maraunenhof.

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Führende Persönlichkeiten der Glaubensbewegung „Deutsche Christen“: 1. Reihe: P.Kessel, P.D.Freitag, P.Peter, Reichsleiter P.Hossenfelder, Assessor Dr. Kettner, P.Nobeling; 2. Reihe stehend: P.Kersten, P.Jakubski, Pg.Kachner, Komm.-Direktor P.Propp, P.Dr.Thom, Pg. Pichottka, P.Dr.Wienicke/ Soldin, Oberkonsistorialrat D.Koch, Pg.Krüger, P.Loerzer, Hauptschriftleiter de la Croix.

3. Bischof in Königsberg

Das Bischofsamt war in Ostpreußen ein Novum. Zwar hatte Friedrich I. im Zusammenhang seiner Krönung zum König in Preußen 1701 den reformierten Pfarrer Ursinus und seinen lutherischen Kollegen Bernhard von Sanden in den Bischofsstand erhoben. Und 1829 wurde Ludwig Ernst von Borowski (1740-1831) sogar den Titel „Erzbischof“ verliehen. In der Kirchenverfassung blieb jedoch der Titel „summus episcopus“ dem Landesherrn vorbehalten, während der Generalsuperintendent und die Superintendenten die geistliche Obrigkeit des Konsistoriums repräsentierten. Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges war das landeskirchliche System obsolet geworden. Nun sollte nach den Vorstellungen der DC das Führerprinzip die Kirchenstruktur bestimmen. Daher die Aufnahme des Bischoftitels (als Ausdruck einer „Befehlsgewalt“) für die Reichskirche und die Kirchen in den ehemals preußischen Provinzen.

Den Reformationstag 1933 nimmt der neue Bischof zum Anlass, um zusammen mit Gauleiter Koch im Königsberger Schlosshof in demonstrativer Einigkeit die „Selbstgleichschaltung“ (Günter Brakelmann) der Evangelischen Kirche zu offenbaren. Während die Rede des Gauleiters, von seinem ghost-writer Otto Weber-Krohse konzipiert, auf den Tag einging, muss der Auftritt Kessels von irritierender Art gewesen sein. Seine Rede entbehrte jeder theologischen Reflexion und war ein Appell zum Glauben an den Nationalsozialismus. Damit hatte der Bischof gleich zu Beginn seines Wirkens viel Vertrauen verloren. Dennoch ging er unbeirrt daran, die Ziele der DC umzusetzen.

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Predigerseminar Klein-Neuhof

Wie der Umbau der Kirche gedacht war, zeigt das Schicksal des Predigerseminars (Ausbildungsstätte der Vikare). Von Carlshof (bei Lötzen in Masuren) war es 1928 nach Klein-Neuhof (bei Rastenburg) umgezogen und hatte sich unter Lic. Johannes Besch als eine in Kirche und Gemeinden geschätzte Einrichtung profiliert. Ab Oktober 1933 entstand unter der Leitung des DC-Pfarrers Wilhelm Brachmann in Klein-Neuhof ein „Versuchsseminar“. Es unterstand dem Reichsbischof. Hier sollten Kandidaten aus allen preußischen Landesteilen ausgebildet werden: eine „braune Pfarrer-Elite“ bzw. „Offiziere im Talar“. Die theologischen Studien wurden ergänzt durch Behandlung der Werke von u.a. Wilhelm Stapel, Oswald Spengler, Möller van den Bruck, Alfred Rosenberg (Mythos) oder H.F.K. Günther (Rassenkunde). Morgengymnastik, Wehrsport und zweimal täglich Flaggenparaden gehörten zum Alltag. Moderate Inspektoren wurden durch systemkonforme ersetzt. Von Brachmann war z.B. folgende Botschaft zu hören:

Das deutsche Reich „ist das allervorletzte vor dem allerletzten, das kommt, wenn das Reich der Himmel über die Völker hereinbricht. Bis dahin heißt für das Reich Gottes leben nichts anderes, als bereit sein, für Deutschland zu leben … Für das Reich Gottes arbeiten heißt: ausschließlich bereit sein für Deutschland. Wer für Deutschland lebt und stirbt, der hat einst ewiges Leben. Kein anderer in Deutschland“ (zit. bei Linck 64).

Mangelnder Respekt vor den Traditionen der Kirche, diffamierender Umgang mit der Arbeit ausgewiesener theologischer Lehrer und eine wüste Mischung aus politischen und religiösen Bruchsteinen sorgten dafür, dass das Predigerseminar in Ostpreußen jeglichen Rückhalt verlor. Als einige Kandidaten sich der Leitung verweigerten, kam es zu einem Eklat (s.u.).

Das Beispiel „Predigerseminar“ kann als symptomatisch für das autoritäre und rüde Auftreten der neuen Kirchenleitung angesehen werden. Bischof Kessel zeigte wenig Sensibilität im Umgang mit der ostpreußischen Pfarrerschaft. So bestimmte eine angespannte Atmosphäre die Tagesordnung und ließ innerkirchlichen Widerstand aufkommen. Die Konfrontationen eskalierten. Dazu gehörte u.a. der Konflikt um das Lutherheim in Königsberg, das Kessel unter allen Umständen unter DC-Einfluss bringen wollte. Bald gehörten in der Evangelischen Kirche Ostpreußens Amtsenthebungen, Gehaltskürzungen, Versetzungen und Ausweisungen aus Ostpreußen zum kirchlichen Alltag.

Die Biographie von Pfarrer Fritz Rzadtki (1887-1972) veranschaulicht das Vorgehen der unter DC-Einfluß stehenden Kirchenleitung. Weil er einem Zeitungsartikel des Gauleiters der Grenzmark, Wilhelm Kube, widersprochen hatte, war er wochenlang im KZ Sonnenburg inhaftiert und wurde danach in die Johannisburger Heide (Turoscheln) versetzt. Er hat sich sehr für den Konsens zwischen ostpreußischem Bruderrat und den Brüdern im Westen eingesetzt. Später wurde er in das Amt des Superintendenten von Allenstein berufen (Vgl. Linck 53f; 56).

Die kirchenpolitischen Maßnahmen zur Konsolidierung der neuen Strukturen fanden im sog. „Maulkorberlass“ des Reichsbischofs vom 4. Januar 1934 (in Anlehnung an das sog. „Heimtückegesetz“) einen Höhepunkt. Verboten wurde jegliche interne Kritik an der Amtsführung der neuen Kirchenleitung. Außerdem wurden alle evangelischen Geistlichen aufgefordert, sich rückhaltlos zum NS-Staat zu bekennen und das Führerprinzip zu bejahen.

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Bischof Fritz Kessel in Georgenswalde

Kennzeichnend für das „neue theologische Denken“ der DC war die Konvergenz von Evangelium und aktueller politischer Konstellation. Die historische Erscheinung des Nationalsozialismus und sein Führer wurden in den Rang einer Offenbarungsquelle erhoben. Davon handelt eine Predigt über Johannes 6, 63 („Der Geist ist’s, der da lebendig macht; das Fleisch ist nichts nütze. Die Worte, die ich zu euch geredet habe, die sind Geist und sind Leben“), die Bischof Kessel 1935 in Osterode (Ostpr.) gehalten hat:

„Wenn von uns in der Kirche verlangt wird, daß wir etwa ein neues Bekenntnis aus dem Jahre 1935 geben, dann muß ich sagen: Wir wollen das gar nicht, denn wir wissen, dass der Reichtum Gottes, der Geist und Leben ist, niemals in dieses Bekenntnis eingefangen werden könnte, sondern mitten hindurch gehen muß. Wir möchten nur das eine sagen: Kehre dich ab von der Theorie, von der Meinung der Sicherung und spring in getrostem Glauben auf Gott und den Heiland ins Ungewisse hinein, aber nicht so, wenn du diesen Sprung tust, daß du weißt, er wird dich auffangen“. Ohne Rücksicht auf Tradition und Bekenntnis solle man sich dem „Ruf des Volkes“, das durch den Nationalsozialismus erneuert worden ist, öffnen. „Seht ihr denn nicht das Neuwerden des Volkes, das geheimnisvolle Walten der Macht, die Geist und Leben ist und dem Führer gibt, daß alle Anschläge seiner Feinde zunichte werden?“ „Wagnis des Glaubens“ heiße das Gebot der Stunde (zit. bei Burdach 262f).

4. Kirchenkampf in Ostpreußen

Die kirchenpolitische Entwicklung in Deutschland hatte im Verlauf des Jahres 1933 zu einer ersten Klärung der Fronten geführt. Im September gründete Martin Niemöller mit Freunden den sog. Pfarrernotbund, dem bald mehr als 6000 Pfarrer angehörten. Erklärte Ziele waren u.a. die Verpflichtung auf Bibel und Bekenntnis, die Zurückweisung des Arierparagraphen und die Ablehnung der DC-Ideologie. Mit äußerster Skepsis reagierte die kirchliche Opposition auf die Versuche der DC-geleiteten Kirchen, den NS-Staat und seine obersten Repräsentanten als Offenbarung Gottes zu proklamieren.

In Ostpreußen haben die Ereignisse die abwartende Haltung in der Pfarrerschaft unterbrochen und aktive Reaktionen provoziert. Am 28. November 1933 konstituierte sich nach dem Vorbild in westlichen Landeskirchen ein Kreis, der politisch und theologisch zur DC auf Distanz ging. Aus diesem Kreis bildete sich Anfang 1934 die „Kirchliche Arbeitsgemeinschaft“ als regionaler Zweig der Bekennenden Kirche (= BK) in Ostpreußen. Den Vorsitz übernahm Pfr. Theodor Kuessner (1896-1984), der als geistlicher Leiter dem Masurischen Diakonissenmutterhaus Bethanien in Lötzen vorstand. Kuessner vertrat einen ausgleichenden Kurs und betonte gegenüber der BK im Westen ein Luthertum mit ostpreußischem Profil. Obgleich kein Nationalsozialist, stellte er sich auf die Seite des „nationalen Aufbruchs“ und pflegte gute Kontakte zu Gauleiter Koch. Die theologische Meinungsbildung in der Arbeitsgemeinschaft lebte von den starken Impulsen, die H.J.Iwand, J.Schniewind und M.Noth, Professoren an der Königsberger Fakultät, gaben. Ihnen lag diplomatische Zurückhaltung oder dezisionistisches Verhalten mehr als ferne.

Von Königsberg breitete sich das oppositionelle Denken schnell in die Provinz aus und fand große Zustimmung in den Gemeinden. In der kirchlichen Zeitung „Evangelisches Volksblatt für die Ostmark“ (später: Evangelisches Volksblatt für Ostpreußen; Herausgeber war Superintendent Wilhelm Schmidt, Königsberg/ reformierte Burgkirche) hatte die Bekennende Kirche ein viel gelesenes Medium. In der Beurteilung der kirchlichen Lage war man sich mit der gesamten BK in Deutschland einig, auch wenn von ostpreußischer Seite auf die eigene Perspektive Wert gelegt wurde.

Derweilen hatte sich die DC immer weiter ins Abseits manövriert. Ihr Verfall begann mit der Sportpalast-Kundgebung am 13. November 1933 in Berlin. Vor über 20 000 Menschen polemisierte der Hauptredner, Dr. Reinhold Krause, in gröbster Weise gegen das Christentum und forderte einen völkischen Glauben. Massive Proteste, Austritte, Aufspaltungen und Flügelkämpfe waren die Folgen. In der ostpreußischen Kirche wuchs die Ablehnung Müllers als Reichbischof. Ein Großteil der Pfarrer und viele Hochschullehrer forderten ihn zum Rücktritt auf. Sie wollten die politischen Anbiederungen und theologischen Verzerrungen nicht länger mittragen. Müller hingegen hüllte sich in Schweigen und antwortete nicht. Seine Hilfstruppe, die DC, splitterte sich auf und büßte allenthalben die Macht ein. Das merkte auch Bischof Kessel und verschärfte seinen autoritären Führungsstil. Die Gemeinden reagierten auf ihre Weise. Wenn der Bischof zu Gottesdiensten oder Versammlungen erschien, boykottierten sie seine Anwesenheit.

Inzwischen hatte in Wuppertal-Barmen (29.-31. Mai 1934) die Erste Bekenntnis-Synode getagt und mit der „Theologischen Erklärung“ ein deutliches Signal gesetzt. Die Synode lehnte das Führerprinzip ab und wählte einen aus zwölf Vertretern bestehenden „Bruderrat“. In einer Erklärung zur Rechtslage wurde dem aktuellen Kirchenregiment bestritten, rechtmäßige Kirchenleitung zu sein. Gegen die Gleichschaltungspolitik des Reichsbischofs richtete sich die Feststellung, dass die äußere Ordnung der Kirche nicht von ihrem Bekenntnis geschieden werden könne. Aus Ostpreußen hatte in Barmen nur Pfr. Otto Glüer / Groß-Schmückwalde als Gast teilgenommen. Die Barmer Erklärung hat noch im Juni 1934 große Zustimmung auf einer Kundgebung in Königsberg erfahren. Mit der sog. Knochensynode am 13. September 1934 begann der Weg der BK in Ostpreußen (vgl. Linck 74f; Koschorke 129ff). Am 20. Oktober 1934 wurde auf der BK-Synode von Berlin-Dahlem das kirchliche Notrecht verkündet, ein Schritt, der den DC-Kirchenleitungen die Gefolgschaft aufkündigte und eine rechtliche Basis für die BK formulierte.

Als Reaktion der Kirchenleitung erfuhren die Hauptbeteiligten, u.a. Pfr. Leopold Beckmann, Gehaltskürzung und Amtsenthebung. Unterdessen nahm die Durchsetzung kirchenpolitischer Vorstellungen des Nationalsozialismus ihren Fortgang. Die Ariergesetze wurden strikt angewandt. Pfarrer, Kirchenbeamte, Organisten (in Königsberg u.a. die Kirchenmusiker Altmann/ Burgkirche und Masch-

ke/ Luisenkirche), die einen nichtarischen Hintergrund hatten, wurden zwangspensioniert. Kirchliche Veranstaltungen in öffentlichen Räumen waren seit dem 7. Dezember 1934 verboten. Das Lutherheim (Hindenburgstraße 11), Zentrum der BK unter den Studenten, wurde aufgrund einer vorgetäuschten Insolvenz geschlossen (vgl. Koschorke 193ff; Burdach 264ff). Sein Inspektor (seit 1923), Hans Joachim Iwand, wurde im Herbst 1934 nach Riga „abgeordnet“.

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Leopold Beckmann (1886-1946)

Pfarrer in Königsberg-Ponarth

5. Amt und Gewalt

Die Problematik der Amtsführung Bischof Kessels offenbarte sich in wachsenden Konflikten mit der BK. Exemplarisch kam die Unversöhnlichkeit der theologischen Standpunkte und der Kirchenverständnisse im „Fall Iwand“ zur Sprache.

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Hans Joachim Iwand (1899-1960)

Hans Joachim Iwand (1899-1960) hatte als theologischer Lehrer großen Rückhalt in der Studenten- wie in der Pfarrerschaft. Kessels Angriffe auf das Lutherheim galten in Wahrheit dessen Inspektor. Er forderte die Abberufung Iwands, weil dessen Theologie für die ostpreußische Kirche „untragbar“ sei. Ihm wurde vorgeworfen, er mache aus dem Studentenheim eine „Domäne der Dialektischen Theologie …, die gegen die Realitäten Staat, Volk, Nation, Blut und Rasse stand“ (Koschorke 193). Im Juni 1934 war es im Predigerseminar Klein-Neuhof zu einer „Revolte“ gekommen. Sechs Kandidaten verweigerten gegenüber dem Reichsbischof die Erklärung unbedingten Gehorsams. Diese Unbotmäßigkeit wurde Iwand angelastet. In dieser Zeit hatte ihn die Anfrage erreicht, ob er in Riga die Vertretung einer Dozentur für Neues Testament übernehmen könne. Weil er keine Möglichkeit sah, die fortwährenden Auseinandersetzungen in Königsberg zu beenden und die Atmosphäre des Misstrauens und der Intrigen („Es gibt hier einen lic. theol. Iwand, der mit einer Jüdin verheiratet ist und dessen Kinder Nichtarier sind“. Im Übrigen sei er „von der nur vorübergehenden Bedeutung des Nationalsozialismus“ überzeugt.) ihn belasteten, entschloss er sich Ostpreußen zu verlassen. Er bot dem Bischof den Rücktritt von seiner Funktion als Studieninspektor an und erhielt von diesem auch „grünes Licht“ für die neue Aufgabe. Mit Rücksicht auf die laufenden Verhandlungen hatte er sich in jenen Wochen zurückgehalten. Unvermutet kam plötzlich in die Umzugsvorbereitungen der Familie Iwand vom Reichserziehungsministerium in Berlin ein Widerruf der Berufung. Ebenso plötzlich wurde dann die Anordnung (der „Befehl“) erteilt, Iwand solle dem Ruf folgen. Es war der Tag nach der Entlassung von Staatskommissar Jäger (26. Oktober 1934). Dieses „Tauziehen“ macht deutlich, dass Bischof Kessel Iwand los werden wollte, aber keine Gelegenheit ausließ, ihm Hindernisse in den Weg zu legen. Andererseits wollte die DC-Kirchenleitung in Ostpreußen Iwand nicht zum Märtyrer machen.

Iwands Lehrauftrag in Riga war begrenzt. Im März 1935 wurde ihm plötzlich die „venia legendi“ aufgrund von § 6 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom April 1933 entzogen und zugleich die Stelle in Königsberg aufgrund von Sparmaßnahmen gestrichen. Weitere Denunziationen über staatskritische Äußerungen hatten Iwands Tätigkeit in Riga sabotiert. Er übernahm die Leitung des neu gegründeten Predigerseminars der BK in Blöstau (bei Konradswalde, 20 KM nordöstlich von Königsberg), wurde aber bald mit Redeverbot belegt und aus Ostpreußen ausgewiesen.

Aktenkundig sind auch andere Konflikte, die Bischof Kessel in der Regel mit Gewaltmaßnahmen in seinem Sinne „löste“, z.T. mit Hilfe der Polizei und brachialer Gewalt.

Die Superintendenten von Insterburg (H.Federmann), Ortelsburg (J.Gemmel) und Rastenburg (W.Gemmel) wurden suspendiert, weil keine Zusammenarbeit mit ihnen möglich sei.

Vikare (Marienfeld, Zürcher), die eine Verpflichtung zu unbedingtem Gehorsam, ablehnten, wurden nicht ordiniert (vgl. Linck 115; Koschorke 115). Marienfeld blieb „Zielscheibe“ von Anfeindungen, solange Kessel in Ostpreußen wirkte.

Pfarrer, die der BK angehörten und dem Bischof widersprochen hatten, wurden (straf-)versetzt. Sie mussten das Pfarrhaus räumen bzw. wurden mit Polizeigewalt des Ortes verwiesen. Der Vorsitzende des ostpreußischen Pfarrervereins, Helmut Guddas, wurde bereits am 1. August 1934 nach Rostow/ Pommern strafversetzt.

Pfarrer, die ihren Irrtum erkannt hatten und aus der DC austraten und in die BK eintraten, wurden von ihren ehemaligen Gesinnungsgenossen diffamiert.

Die Mitglieder des Bruderrates (u.a. Leopold Beckmann/ Königsberg-Ponarth) erfuhren besondere Sanktionen. So wurde Beckmann seines Amtes enthoben, fand aber „Zuflucht“ im Löbenichtschen Gemeindehaus (Pfr. Hugo Linck).

Im Vorstand des Diakonissenmutterhauses Bethanien (Lötzen) hatte Kessel ebenso den Vorsitz wie im Krankenhaus der Barmherzigkeit (Königsberg) oder im Ostpreußischen Provinzialverein für Innere Mission. Durch Drohungen, Unsachlichkeit und autoritäres Verhalten versuchte er die Gremien einzuschüchtern und ihm unbequeme Mitglieder auszuschließen (vgl. Koschorke 427f).

Rundfunkpredigten mussten dem Bischof zur politischen Zensur vorgelegt werden. Hugo Linck hatte in einer Predigt über Psalm 139 zu Vers 6 („Solche Erkenntnis (im Blick auf Gott - U.Sch.) ist mir zu wunderbar und zu hoch; ich kann sie nicht begreifen“.) u.a. geschrieben: „Unser Wissen ist Stückwerk, unser Wille Stümperei“. Kessel notierte am Rand: „Diesen Satz bitte ich nicht zu sprechen, er widerspricht dem Aufbruch unseres Volkes“ (Linck 61).

Wo Kessel bei Veranstaltungen oder Gottesdiensten auftrat, ist es mehrfach zu Handgemenge oder sogar Schlägereien gekommen. Gemeinden haben im Vorhinein mit Boykott und Protest reagiert bzw. haben sich umgehend der BK angeschlossen. Als Kessel einmal einen Vortrag halten wollte, hat die Gemeinde die Kirche verschlossen und dafür gesorgt, dass die Veranstaltung fast ohne Zuhörer im Gasthaus stattfinden musste. In Goldap wurden die DC-Kirchenältesten, als sie für einen Gottesdienst mit Bischof Kessel warben, gefragt, ob die Orts-Pfarrer auch kämen. Auf die verneinende Antwort folgte die Replik: „Geht Hirt nicht, geht Schaf auch nicht“.

Im September 1935 veröffentlichte Kessel „Leitsätze für eine Neuordnung der Deutschen Evangelischen Kirche“, mit denen er seine „theologische Vision“ entfaltete. Darin forderte er nach einem einleitenden Lutherzitat aus dem Großen Katechismus das Ende aller Streitereien und Machtkämpfe. Dann heißt es: „Jeder Mensch trägt seine Gottheit als einen persönlichen Besitz in sich. Eines Menschen Zuflucht, Heimstatt und persönlicher Besitz kann niemals Gegenstand des Richtens und Aburteilens sein“. Wer nach Jesu Gebot der Liebe lebe, sei „mit Christus eine Person geworden“. Der Neubau der Evangelischen Kirche müsse auf der Grundlage des Nationalsozialismus geschehen. „Wie Gott zu den Vätern geredet hat, so hat er zuletzt zu uns geredet durch den Aufbruch des deutschen Volkes zum nationalsozialistischen Reich“. Es folgen Ausführungen, in denen die ideologischen Umdeutungen der Theologie Ausdruck finden.

„Im Mittelpunkt des deutschen Christenglaubens steht nicht die Bibel, steht auch nicht der Jesus von Nazareth, der vor 2000 Jahren gelebt hat – im Mittelpunkt des deutschen Christenglaubens steht das religiöse Glaubens- und Gedankengut, das die deutsche Seele in der Zeit nach der Christianisierung geschaffen hat und in Zukunft schaffen wird … Die Spuren seines (Christi) Leidens und Lebens trägt Deutschland an seinem Leibe. Darnach ist bei der Begegnung von deutschen Menschen nicht entscheidend, wie sie ihren Glauben formulieren und aussprechen, sondern das Ereignis der Begegnung selbst, in dem wir aufgerufen sind, mitlebender und mitleidender Bruder des anderen zu sein. In diesem Aufruf haben wir Gottes lebendiges Wort unter uns. So wird Gott Mensch. Das ist gegenwärtiger Christus-Glaube“ (zit. bei Linck 108f; vgl. Koschorke 111f).

Es erstaunt nicht, dass Kessel mit dieser „Mischmasch-Theologie“ in Ostpreußen weder in der Pfarrer- noch in der Studentenschaft Anklang fand. Kommunikationsprobleme muss es auch mit den leitenden Juristen im Königsberger Konsistorium gegeben haben (z.B. Dr. Walter Tröger). Ein engagierter Laie aus Angerburg, Studienrat Appel, hielt in einem Brief fest:

„Der Mann hat zwei Gesichter, ein honigsüß lächelndes, dessen Mund sehr verbindliche Worte entgleiten, und ein raubtierartig gestrafftes mit funkelnden Augen, das durch Zurückwerfen des Kopfes unter gleichzeitigem ruckartigem Vorstoßen des Kinns wohl noch den Zug des Gebieterischen, Unfehlbaren bekommen soll, in Wirklichkeit aber auf mich den Eindruck brutaler Kälte machte … Welches von beiden ist nun das echte? Oder sind beide nur Maske?“ (zit. bei Linck 58).

6. Ende der Ära Kessel

Als der Bischof, dessen theologische Einstellung und kirchenleitende Tätigkeit nichts als Ablehnung gefunden hatte, sich Anfang 1935 im Urlaub befand, trafen Vertreter der BK (u.a. die Pfarrer Kuessner, Wien, Hildebrandt, Weder, Mingo und Ellinger) und des Konsistoriums, d.h., der offiziellen Kirchenleitung, zusammen, um eine Lösung der konfliktuösen Situation zu finden. Im sog. „Juristenabkommen“ (19. März 1935) wurden alle Amtsenthebungen und Zwangsmaßnahmen zurückgenommen und ein Agreement zwischen beiden Seiten getroffen. Diesem „Verwaltungsfrieden“ (vgl. Linck 111ff; Koschorke 158ff) hat anfänglich sogar Gauleiter Koch zugestimmt. U.a. wurde der BK eine eigene Prüfungskommission zugestanden. Die Absprachen hatten aber keinen langen Bestand, und die Fronten verhärteten sich erneut, als Bischof Kessel aus dem Urlaub zurückgekehrt war und die Übereinkünfte aufkündigte.

[...]

Ende der Leseprobe aus 73 Seiten

Details

Titel
Kirche und Nationalsozialismus in Ostpreußen
Untertitel
Zwei Porträts aus dem Kirchenkampf
Hochschule
Philipps-Universität Marburg
Autor
Jahr
2012
Seiten
73
Katalognummer
V205894
ISBN (eBook)
9783656332213
ISBN (Buch)
9783656332305
Dateigröße
17723 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Insterburg, Kirchenkampf Nationalsozialismus Bekennende Kirche H.J.Iwand Hans Graf von Lehndorff, Widerstand Bekenntnis
Arbeit zitieren
Prof. Dr. Ulrich Schoenborn (Autor:in), 2012, Kirche und Nationalsozialismus in Ostpreußen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/205894

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