Die Korrelation zwischen Symbolik und der Entwicklung der Hauptfiguren in Christa Wolfs „Der geteilte Himmel"


Hausarbeit, 2011

27 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Figurenentwicklung
2.1 „Alles im richtigen Gleichgewicht“: Leben im Dorf als Ausgangspunkt
2.2 „Schauplatz zukünftiger Abenteuer“: Manfred, Schwarzenbach und „die Stadt“
2.2.1 Manfred
2.2.2 Schwarzenbach
2.2.3 Die Stadt
2.3 Die „Strenge des Lebens“: Im Waggonwerk und bei den Herrfurths
2.3.1 Arbeitsantritt im Waggonwerk
2.3.2 Meternagel
2.3.3 Streit bei Herrfurths
2.4 Nach dem „Gipfel“ die „Sintflut“:
Entwicklung der Beziehung Ritas und Manfreds
2.4.1 Fahrt in den Harz
2.4.2 Der Traum
2.4.3 Beginn der Katastrophe
2.4.4 Probefahrt und „die Nachricht“
2.4.5 Manfreds Flucht und Eindrücke aus Westberlin
2.4.6 Im Sanatorium

3 Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Wer sich für die Literatur der DDR interessiert (und vor allem für jene, die auch aus heutiger Sicht noch uneingeschränkt lesenswert ist), der kommt an Christa Wolf und ihrem Frühwerk „Der geteilte Himmel“ kaum vorbei. Nicht ohne Grund wurde die Erzählung der jungen Autorin in Ost- wie in Westdeutschland seinerzeit als „außergewöhnliches literarisches Ereignis“ verstanden.[1] Sie ist jedoch nicht nur in Bezug auf ihren Inhalt, sondern auch auf ihre Erzähltechnik und Stilistik durchaus beachtenswert, hatte sie doch wesentliche Bedeutung für die Erschließung formaler Möglichkeiten und stofflicher Freiheiten für die kommende DDR-Literatur.[2] Eines der charakteristischsten stilistischen Mittel der Erzählung ist der Gebrauch zahlreicher Symbole, der sich wohl einerseits auf die Freude der unerfahrenen Schriftstellerin am dichterischen Bild zurückführen lässt, andererseits aber auch die Absicht verfolgt, die von der sozialistisch-realistischen Literatur angestrebte Eindeutigkeit zu relativieren.[3] Beispiele hierfür sind die mannigfaltigen Natursymbole, wozu auch das ständig auftauchende Bild des sich verändernden Himmels zu zählen ist, das gemeinsame Zimmer der Hauptfiguren Manfred und Rita, das wie eine „Gondel“ über der Stadt schwebt, die Testfahrt des neuen Waggonmodells während des Raumflugs von Juri Gagarin, Träume, Straßen, Licht und Farben, Stillstand und Bewegung, Dorf und Stadt (vor allem in der Gegenüberstellung von Ost und West), aber auch Ritas Vorbildfiguren. Befasst man sich näher mit der Symbolik der Erzählung, so fällt auf, dass verschiedene Symbole immer wieder auftauchen, sich ihre Bedeutung von Situation zu Situation jedoch verändert. Und betrachtet man dieses Phänomen nun noch genauer, so kann eine Korrelation zwischen der Bedeutung der Symbole und der Entwicklung der Hauptfiguren festgestellt werden. Dieser Zusammenhang soll Thema der vorliegenden Arbeit sein. Zu untersuchen sind dabei folgende Aspekte: Zu welchem Zweck setzt die Autorin welche Symbole ein, durch welche Symbole werden die Entwicklungsschritte der Protagonisten Rita und Manfred begleitet? Was erreicht der Einsatz von Symbolen in der Beschreibung der jeweiligen Lebenssituationen der Figuren, welche Eindrücke werden für den Leser verstärkt? Wie verändert sich die Bedeutung ein und desselben Symbols im Laufe der Erzählung? Und auch: Wie bewertet die Sekundärliteratur Christa Wolfs Einsatz von Symbolen?

Zur Beantwortung dieser Fragen wird im Folgenden nicht einfach Symbol für Symbol abgearbeitet, denn dies würde den Entwicklungsaspekt vernachlässigen. Strukturgebend ist der chronologische Aufbau der Geschichte Ritas, beginnend mit ihrer Jugend im Dorf, dem Kennenlernen von Manfred, der Übersiedlung in die Stadt und der Arbeit im Waggonwerk hin zur Katastrophe in Form von Manfreds Flucht nach Westberlin und Ritas Selbstmordversuch, dem ein langer Aufenthalt im Sanatorium folgt. Die Entwicklung der Figuren (vor allem der Ritas) verfolgend, wird jede Lebensstation auf den Gebrauch seiner ganz eigenen Symbolik hin analysiert. Abschließend werden alle untersuchten Symbole noch einmal kategorisiert dargestellt, um so eine Antwort auf die eingangs gestellten Fragen geben zu können.

2 Figurenentwicklung

2.1 „Alles im richtigen Gleichgewicht“: Leben im Dorf als Ausgangspunkt

Die neunzehnjährige Rita Seidel, Hauptfigur und strukturgebendes Element der Erzählung, lebt seit frühester Kindheit mit Mutter und Tante in dörflicher Umgebung. Sie präsentiert sich dem Leser eingangs als ausgeglichenes, unbedarftes Mädchen, das die Idylle seiner Lebenswelt zu schätzen weiß: „Sie war zufrieden mit ihrem Dorf. Rotdachige Häuser in kleinen Gruppen, dazu Wald und Wiese und Feld und Himmel in dem richtigen Gleichgewicht, wie man sich’s kaum ausdenken könnte“ (W: 11)[4]. Der Himmel, der als Hauptsymbol der Erzählung im weiteren Verlauf der Geschehnisse in dramatischer Form für das Scheitern einer Beziehung stehen wird, fügt sich zu diesem Zeitpunkt harmonisch in das positive Bild der Natur ein.

In ihre Zukunft setzte Rita zu Schulzeiten große Hoffnungen: „Sie erwartete Außerordentliches, außerordentliche Freuden und Leiden, außerordentliche Geschehnisse und Erkenntnisse.“ (W: 14) Tatsächlich langweilt sich die junge Frau jedoch an ihrem Arbeitsplatz in einem Versicherungsbüro in der nächsten Kreisstadt. Ihre Sehnsucht nach der „reichen Welt“, einem Leben, das „geprägt ist von dem Wegstreben aus Enge und einem an Größe armen Alltag“[5], kann in ihrer aktuellen Lebenssituation nicht befriedigt werden. Zwar kehrt sie abends gerne in ihren Ort zurück: „Abends führte aus dem dunklen Kreisstadtbüro eine schnurgerade Straße mitten in den untergehenden Sonnenball“ (W: 11) (die Gegenüberstellung der Lichtverhältnisse – „dunkler“ Arbeitsplatz versus das mitten im „untergehenden Sonnenball“ liegende Heimatörtchen – und der Wege in die bzw. aus der Kleinstadt – Richtung Arbeitsplatz muss Rita ihr Rad „bergauf bis zur Chaussee“ (W: 11) schieben, zurück folgt sie einer „schnurgerade[n] Straße“ – stellt den Leser bei der positiven Einordnung des Dorfes vor keine große Herausforderung). Auch vermag diese Umgebung kurzfristig und vorübergehend, „einem überarbeiteten Kopf Entspannung zu geben“ (W: 11) – doch auf Dauer wird das Entspannende zum Lähmenden, das Rita die Kraft nimmt, „einen winzigen Teil dieses großen [gesellschaftlichen, d. Verf.] Stromes in ihr […] Leben abzuleiten“ (W: 15). Die idyllische Prägung ist dem Dorf nur eigen, solange es Ausgangspunkt für den persönlichen und gesellschaftlichen Reifeprozess Ritas ist[6], wie Schuler feststellt: „Das beschaulich-dörfliche Leben wird erst im Entschluß zum Aufbruch, nachdem es schon überwunden ist, als grundlegende Geborgenheit empfunden.“[7] Das Symbol des Dorfes markiert in Ritas Werdegang also einerseits eine feste Instanz, aus der sie zu späteren Zeiten Kraft schöpfen zu können glaubt, und den Startpunkt des ideologisch „unbeschriebenen Blattes“ Rita. Hier muss sich die Protagonistin (vorerst) keiner Konfrontation mit gesellschaftlichen Spannungen, Aufbauproblemen oder der unbewältigten Vergangenheit stellen. Andererseits ist sie gefangen in einem „Gefühl der Verlorenheit“ (W: 15) und Einsamkeit, denn obgleich sie von jedem freundlich behandelt wird – „worüber sie sich wirklich freute und woran sie wirklich litt, das zeigte sie keinem“ (W: 15). Sie lebt mit dem Gedanken, im Hier und Jetzt des dörflich-kleinstädtischen Lebens und seinem Rhythmus, der nur durch die Einförmigkeit der Jahreszeiten bestimmt wird, einem „bösen blinden Zufall“ (W: 15) ausgesetzt zu sein.

Dieser Zustand soll durch die Begegnungen mit Manfred und dem Lehrer Schwarzenbach nachhaltige Veränderung erfahren.

2.2 „Schauplatz zukünftiger Abenteuer“: Manfred, Schwarzenbach und „die Stadt“

2.2.1 Manfred

Rita begegnet Manfred zum ersten Mal auf dem Weg zur Arbeit bei „blaue[m] Himmel“ und „klare[m] Morgenlicht“ (W: 11) – der Himmel über den beiden ist also harm- und wolkenlos, die Atmosphäre ungetrübt – auf dem Heimweg, „[w]o der Pfad in ihr eigenes Dorf abzweigte“, „an der einzigen windzerrupften Weide weit und breit“ (W: 11). Symbolisch ist an dieser Stelle nicht nur, dass Rita die zuvor befahrene „schnurgerade Straße“ aus der Kleinstadt kommend verlässt, um auf Manfred zu treffen (ein Vorausgriff auf Ritas Neuorientierung für ihren zukünftigen Lebensweg aufgrund ihres Partners), sondern auch, dass dieses Treffen durch eine gemeinsame Sehnsucht an diesem Ort stattfindet, die sich jedoch auf unterschiedliche Ziele richtet: „Die gleiche Sehnsucht trieb sie in ihr Dorf und ihn an diese Chaussee, die zur Autobahn und, wenn man will, zu allen Straßen der Welt führte“ (W: 11). Rita hat der Leser bereits als dörflichen Menschen kennengelernt; nun wird auch deutlich, dass ihr zukünftiger Partner für ein Leben fernab dieses Dorfes steht. Dass sie Manfred dort trifft, wo der der Weg sich in verschiedene Richtungen hin teilt, könnte nach Ansicht Klassons andeuten, dass „die gleiche Sehnsucht“ die beiden zwar an einen gemeinsamen Punkt führen kann, dass aber von hier aus auch ein Auseinandergehen möglich ist.[8] Nach einem gemeinsamen Tanzabend werden Rita und Manfred ein Paar. Das anfängliche Glück und harmonische Beisammensein der beiden spiegelt sich zur Weihnachtszeit wiederum in den Bildern der Natur wider; alles ist zu dieser Zeit, wie es sein soll:

Wenn Rita heute daran denkt: Weihnachten in dem verschneiten Dörfchen – denn zu Heiligabend war Schnee gefallen, wie es sein muß – und sie gingen ganz still, Arm in Arm, die einsame Dorfstraße hinunter, dann fragt sie sich: Wann war das noch mal so? […] Die beiden Hälften der Erde paßten ganz genau ineinander, und auf der Nahtstelle spazierten sie, als wäre es nichts. (W: 16)

Diese lyrischen Beschreibungen der Natur, in der sich Himmel, Erde, Flora, Wetterlage und Lichtverhältnisse als Träger von menschlichen Emotionen darstellen, ziehen sich durch die gesamte Erzählung. Die Autorin greift auf Natursymbole und -abläufe zurück, um innere Bewegungen der Figuren wiederzugeben[9], dabei wirken die gleichnishaft verwendeten Naturbilder wie gemalte Stimmungen sinnlicher Wahrnehmungen.[10] Eine Gratwanderung, wie Schlenstedt feststellt: „Die Lust an der Entdeckung [der Symbolisierung, d. Verf.] und ihre äußerst bewußte Gestaltung trieben Christa Wolf wohl dazu, die Methode zu überfordern, den Symbolen zuviel zuzumuten […].“[11] Hilzinger hält dagegen, es sei positiv zu bewerten, dass es der Autorin überhaupt gelang, die Methode der Stilisierung und Symbolisierung gegen einen allzu engen Begriff von sozialistischem Realismus zu verteidigen zugunsten der Rehabilitierung von Anspielung und Andeutung.[12]

2.2.2 Schwarzenbach

Fast zur selben Zeit, da Rita auf Manfred trifft, wird durch einen Zufall der „Bevollmächtigte für Lehrerwerbung“ Erwin Schwarzenbach in ihrem Büro einquartiert. Er gewinnt Rita für die Aufnahme eines Studiums am „Lehrerbildungsinstitut“, wo er doziert. Dem Mädchen gelingt es „in Blitzesschnelle, den Zufall dieser Lebenswende für sich in Notwendigkeit zu verwandeln. Hatte sie nicht lange genug darauf gewartet?“ (W: 21). Gleichzeitig ist sie sich bewusst: Ohne Manfred hätte sie „nie – niemals! – den Mut zum einem solchen Entschluß gefunden“ (W: 21). Der Eintritt Schwarzenbachs, des „Abgesandten einer neuen Zeit“,[13] und Manfreds in Ritas Leben legt den Grundstein für ihre weitere Entwicklung, ist nach Ansicht Pareigis’ aber auch als die „Ursache ihrer späteren Lebenskrise“ zu betrachten.[14] Nachdem sie beschlossen hat, für das Studium zu Manfred in „die Stadt“ (die dem Leser namentlich nicht bekannt gemacht wird; aus ihren Beschreibungen lässt sich jedoch schließen, dass es sich um Halle handelt) zu ziehen, erlebt sie die letzte Zeit in ihrer ländlichen Heimat noch intensiver: Abermals ist die Rede von der schnurgeraden Straße, die sie entlang fährt. Klasson verdeutlicht hierzu: „Ritas Entschluß ist gefaßt, sie geht jetzt ‚schnurgerade‘ auf das Ziel zu“[15] ; die Interpretation Schulers geht noch etwas darüber hinaus: „Diese Straße ist permanenter Anreiz für Rita, ihre Situation zu ändern, und gleichzeitig wird sie nach der beschlossenen Veränderung zum Sinnbild für den Lebensweg, den sie einschlagen möchte.“[16]

Vor ihr zieht sich „das allerletzte Märzlicht langsam hinter den Wald zurück. Wie oft sie noch auf dieser Straße fahren würde – heute nahm sie Abschied“ (W: 21). Kurz vor der Dunkelheit bekommt das Land für sie „noch einmal eine eigentümliche Klarheit“ (W: 21). Schuler geht von einer „Faszination des Zwielichtes“ aus, von der die Autorin ergriffen ist und die sie dazu veranlasst, „auch den Kausalzusammenhang zu sprengen, so daß schlechtes Licht plötzlich genaueres Sehen ermöglicht“.[17] Als sie zu Hause eintrifft, um ihrer Mutter den Entschluss mitzuteilen, ist sie „von innen her durchleuchtet“ (W: 22). Doch ebenso wenig wie Mutter und Tante kann sich Manfred für Ritas Pläne erwärmen, da er bereits darum fürchtet, ihre volle Aufmerksamkeit zu verlieren: „Wieso denn, dachte er. Jetzt? Ohne mich zu fragen? […] Eine eifersüchtige Regung kam auf: Sie wird nicht für mich allein leben. […] Er mußte dafür sorgen, daß sie in seiner Nähe blieb“ (W: 23). An dieser Stelle zeichnet sich bereits das Hauptproblem der gesamten Erzählung ab: Ritas Konflikt in der Entscheidung für den individuellen Rückzug in ein privates, bürgerliches Liebesglück oder die bewusste Annahme von gesellschaftlicher Verantwortung, das pessimistisch-zynische Infragestellen der Möglichkeiten des modernen Lebens (wie Manfred es für sich gewählt hat) oder das tätige Aufgehen in einem sozialitischen Staat, dessen Mitglieder bereit sind, unter Opfern ihr Los zu verbessern.[18] Diese Bredouille (mit letztlich klarem Ausgang) wird Ritas weiteren Werdegang maßgeblich beeinflussen.

2.2.3 Die Stadt

Um Rita weiterhin nahe bei sich zu haben, richtet Manfred es ein, dass sie im Haus seiner Eltern in der Stadt sein Zimmer beziehen kann, das auch er selbst während seines Chemiestudiums bewohnt. Er stellt ihr sein Haus vor als seinen „Lebenssarg“, eingeteilt in „Wohnsarg, Eßsarg, Schlafsarg, Kochsarg“ (W: 24). Doch abermals treten die Lichtverhältnisse für Rita in dieser unkomfortablen Umgebung positiv hervor: „Aber dein Zimmer ist hell“ (W: 24). Die „unaufgeräumte Kammer“, in der Rita und Manfred nun zusammen wohnen, erhält einen eigenen Symbolwert, in dem sich zahlreiche Sinnbilder vereinen: In ihrer ersten Liebesnacht wird Manfreds Zimmer zur „Gondel einer riesigen Schaukel“, die „irgendwo in der blauschwarzen Himmelskuppel [Symbol Himmel ] festgemacht“ (W: 24) war. Passenderweise hält in dieser Nacht auch „der Frühling […] Einzug“ (W: 24) (Symbol Jahreszeiten), vom Fluss her ist der „schrille Pfiff einer Lokomotive“ (W: 24) (Symbol Eisenbahn, wird im Folgenden näher betrachtet) zu hören, und im Schwung ihrer Gondel streifen sie „fast die Lichter der Stadt“ (W: 25), durch die Sterne werden es „noch mehr Lichter“ (W: 25) (Symbol Licht) und am Morgen bläst der Wind herein, „[s]ie sahen Bäume und einen Streifen Fluß“ (W: 25) (Symbol Natur). Eine derart von positiv konnotierten Symbolen durchsetzte Passage kann nur mit folgendem Satz enden: „Sie sahen sich an und lächelten“ (W: 25). Es besteht demzufolge kein Zweifel, dass der Leser an der Hochphase der Beziehung Ritas und Manfreds teilhat, die keinen Platz für böse Vorzeichen lässt. Hilzinger sieht in solchen Elementen von Trivialliteratur die Gefahr des „sentimentale[n] Abgleiten[s]“[19] der Erzählung, indem auf die Verwendung „sprachlicher Fertigteile“, Klischees und veralteter Bildmomente zurückgegriffen werde. Auch Hörnigk bezeichnet das Bild der Zimmergondel als „sprachlich unbeholfen“,[20] gleichzeitig ist sie jedoch der Ansicht, dass in ihrer einfühlsamen, über weite Strecken lyrisch und emotional wirkenden Sprache eine „wesentliche Wirkungspotenz“ der Erzählung liegt[21] – der Übergang von Kunst (im Sinne eines gelungen eingesetzten Stilmittels) zu Kitsch ist offensichtlich fließend. Auch in der in der Geschichte folgenden Beschreibung der Stadt hält Schuler den Vorwurf des Klischees für möglich, setzt dem jedoch sogleich ein Zitat des Textes entgegen: „Auch heutzutage noch kommt ein Mädchen zum erstenmal im Leben in die große Stadt.“ (W: 27). Die erste Erkundung ihrer neuen städtischen Umgebung wird für Rita zu einem trotz ihrer anfänglichen Angst zu einem echten Erlebnis: Sie ist „erstaunt“ (W: 26), „neugierig auf alles und jedes“ (W: 26), hat „Herzklopfen, als sie den Schauplatz ihrer zukünftigen Abenteuer“ (W: 26) besichtigt, will „ausdauernd, unerschrocken und gründlich“ (W: 26) sein und „überwand in Stunden mühelos Jahrhunderte“ (W: 26), indem sie die „Straßenringe“ abschreitet. Sie hatte zuvor entdeckt, dass die Stadt in Ringen umeinander gewachsen zu sein schien wie ein alter Baum (Stephan macht an dieser Stelle darauf aufmerksam, dass Rita, da sie weder auf eine überdurchschnittliche Bildung noch auf ausreichende Lebenserfahrung zurückgreifen kann, zunächst nicht durch die wissenschaftlich fundierten Gesellschaftsanalysen des Marxismus versucht, in ihre Beobachtungen Ordnung zu bringen, sondern mit Hilfe der ihr seit der Jugend vertrauten Naturbilder[22]). Wie Schlenstedt feststellt, ist die Seite von Ritas Charakter, der sie für eine Entwicklung hin zu dem prädestiniert, was sie am Ende der Erzählung sein wird, aus ihrer idyllisch anmutenden Herkunft begründet: ihre „ungebrochene Natürlichkeit, die Naivität in der Verarbeitung der modernen Welt, die unbegrenzte Möglichkeit, sich zu wundern.“[23] Wenn dazu kritisch bemerkt wird, dass solche Dorfidylle und Naivität 1959, zu Beginn der Geschichte, unwahrscheinlich seien, so hält Schlenstedt dies mit Blick auf den „ein wenig konstruierte[n] Charakter des Dorf-Stadt-Gegensatzes“[24] für richtig, doch nähere sich eine solche Feststellung der Problematik der Idylle nur an. „Das Dorf steht für Sicherheit und Behütetsein, Harmonie des Menschen mit der Natur, für die Begrenztheit rückständiger Beziehungen, die sich ihre Durchschaubarkeit erhalten haben.“[25] Erst zu einem späteren Zeitpunkt in der Erzählung wird Rita, gereift durch Wissen und Erfahrungen, beobachten können, „wie Angst und Gier der Vergangenheit diese Dörfer unschön und regellos zusammengestellt hat“[26] und kann die Veränderung von Landschaft und Menschen unter dem Einfluss sozialistischer Umgestaltung erkennen und bejahen. Am Anfang ist sie hier zufrieden. So ist der Gang Ritas aus dem Dorf in die Stadt für Schlenstedt zunächst ein Kunstgriff, um der Entwicklung der Figur größere Steigerung und Möglichkeiten zur Entfaltung sowie eine weitere Anlage für Konflikte zu geben. „Die große Stadt“, von der die Erzählerin spricht, ist für Christa Wolf keinesfalls nur ein naturalistisches Bild und steht nicht etwa nur für die Stadt Halle. Rita kommt mit dem Übergang in „die Stadt“ in ein „Zentrum der ehemals kapitalistischen Entwicklung, in ein Zentrum der Zivilisation, in ein Zentrum der Arbeiterbewegung und des revolutionären Kampfes“[27] – weshalb es ihr auch gelingt „in Stunden mühelos Jahrhunderte“ nachzuholen. Gleichzeitig ängstigt sie Fremdheit unter den Menschen; sie fühlt sich abermals einsam: „Hier achtet keiner auf keinen, wie leicht kann einer hier verloren gehen…“ (W: 27). Schon sehnt sie sich, mit Blick aus einem Turm herunter auf die Menschen, nach dem Miteinander in ihrem Dorf: „Ich mach mir nichts aus Vorahnungen, aber daß mir manchmal schwer zumute sein würde, das hab ich gewußt, wie ich da auf dem Turm stand. Hunderttausend Gesichter, wenn ich wollte. Unter den hundert in meinem Dorf bin ich nicht so allein gewesen.“ (W: 27). Laut Schlenstedt war sich Christa Wolf der Tradition des Stadtsymbols bewusst, dass durch Ritas Empfindungen von „Rücksichtslosigkeit, Eile, Enge“ in stilisierter Gestalt auftaucht. Hier wird die Stadt berührt von „den Resten der Vergangenheit“.[28] Doch da Rita im Sozialismus lebt, wird die Kritik nicht zu einer allgemeinen Zivilisations- oder Stadtkritik erweitert. Denn schon ein Sonnenstrahl (Symbol Licht), der „für Sekunden gerade ihren Turm, gerade sie“ (W: 27) traf und der „Aprilwind“ (Symbol Jahreszeiten), der die Wolken schneller davonziehen lässt und sich beeilt, „den Himmel zu räumen“ (W: 28), gibt ihr neue Hoffnung: „Bald würde Sonne in die Straßen da unten fallen“ (W: 28). So kann sie ihren ersten Stadtbesuch beruhigt beenden und kehrt zurück in die nun „grünüberschleierte Villenstraße“ (W: 28), in der Manfreds Elternhaus steht. Als Manfred ihr die Stadt anschließend noch einmal aus seiner Sicht näherbringt, erhält sie wieder ein neues Gesicht: Er sieht Ritas Gesicht „vor grauen, zerlaufenen Häuserfassaden“ (W: 28), einen „dürftige[n] Park“ und „vorbeieilende Schatten vieler Menschen“ (W: 28), zeigt ihr im „Armeleuteviertel“ „zerbröckelnde Holztreppen, ineinandergeschachtelte lichtlose [!] Höfe“ (W: 28), „dumpfige, schwammzerfressene“ Hausflure (W: 28) und schließlich den Fluss: „[E]r führte watteweißen Schaum mit sich, der übel roch und vom Chemiewerk bis weit hinter die Stadt die Fische vergiftete“ (W: 28).

[...]


[1] Siehe Ausführung bei Stephan: „In der DDR, weil dort nach dem Mauerbau ein neues politisches Selbstbewusstsein bestimmte Formen der systemimmanenten Kritik zuzulassen begann; in der BRD, weil man dort jeden einigermaßen objektiven Beitrag zur deutschen Teilung, besonders, wenn er sich noch dazu formal der westlichen Literatur anzunähern schien, als Aufweichungserscheinung oder gar als verkappten Widerstand gegen den SED-Staat auslegte.“ – vgl. Alexander Stephan:Christa Wolf. Münche 991, S. 56.

[2] Sonja Hilzinger: Christa Wolf. Leben, Werk, Wirkung.Frankfurt a. M.2007, S. 21.

[3] Stephan (1991), S. 53.

[4] Die Seitenangabe zu den Zitaten der Primärliteratur erfolgt nicht über Fußnoten, sondern stets direkt hinter dem Zitat nach dem Schema „Autorin: Seitenzahl“.

[5] Dieter Schlenstedt: Motive und Symbole in Christa Wolfs Erzählung „Der geteilte Himmel“. Halle 1965, S. 191.

[6] Birgitta Schuler: Phantastische Authentizität.Wirklichkeit im Werk Christa Wolfs.Frankfurt a. M. [u.a.]1988, S. 52.

[7] Schuler (1988), S. 52.

[8] Vera Klasson: Bewußtheit, Emanzipation und Frauenproblematik in „Der geteilte Himmel“ und drei weiteren Texten von Christa Wolf. Götebor 991, S. 44.

[9] Hilzinger (2007), S. 21.

[10] Therese Hörnigk: Christa Wolf.Berli 990, S. 87.

[11] Schlenstedt (1965), S. 195.

[12] Hilzinger (2007), S. 21.

[13] Gottfried Pareigis: Kritische Analyse der Realitätsdarstellung in ausgewählten Werken des „Bitterfelder Weges“.K.-H. Jakobs: Beschreibung des Sommers, E. Neutsch: Spur der Steine, H. Kant: Die Aula, Christa Wolf: Der geteilte Himmel.Kronberg/Ts.1974, S. 258.

[14] ebd.

[15] Klasson (1991), S. 45.

[16] Schuler (1988), S. 70.

[17] ebd., S. 72.

[18] Stephan (1991), S. 39.

[19] Hilzinger (2007), S. 21, zitiert an dieser Stelle Schlenstedt (1965), S. 198: „[…] mitunter auch bedingt der idyllische Einschlag ein sentimentales Abgleiten der Erzählung.“

[20] Hörnigk (1987), S. 82.

[21] ebd., S. 87.

[22] Stephan (1991), S. 40.

[23] Schlenstedt (1965), S. 194.

[24] ebd.

[25] ebd.

[26] Schlenstedt (1965), S. 194.

[27] ebd., S. 195.

[28] ebd.

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Die Korrelation zwischen Symbolik und der Entwicklung der Hauptfiguren in Christa Wolfs „Der geteilte Himmel"
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Deutsche und Niederländische Philologie)
Veranstaltung
DDR-Literatur der 60er und 70er Jahre
Note
1,0
Autor
Jahr
2011
Seiten
27
Katalognummer
V205719
ISBN (eBook)
9783656323624
ISBN (Buch)
9783656325925
Dateigröße
647 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
DDR, Ostdeutschland, Symbol, Christa Wolf
Arbeit zitieren
Wiebke Hugen (Autor:in), 2011, Die Korrelation zwischen Symbolik und der Entwicklung der Hauptfiguren in Christa Wolfs „Der geteilte Himmel", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/205719

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