Autodidaktik als Motiv in Moritz’ "Anton Reiser"


Seminararbeit, 2011

17 Seiten


Leseprobe


Inhalt:

Vorwort

1. Der Roman

2. Funktion der Vorbilder in Antons Entwicklung

3. Autodidaktik vs. Schulbildung

4. Narzissmus

Literaturverzeichnis

Vorwort.

Im Roman von Karl Philipp Moritz erfahren wir anfangs die Entwicklung von Anton Reiser durch Selbstlernen einerseits und Schulgang andererseits, oft mit jeweils negativen Ergebnissen. Anton fängt mit acht Jahren an selbst zu lernen, anfangs unter Anleitung seines Vaters, die jedoch kaum um etwas Buchstabieren hinausgeht, bald aber macht Anton allein weiter. Wegen der armen, pietistischen Herkunft seiner Familie war es nicht einfach eine Schule zu besuchen. Diese Umstände erschwerte weiter eine seltsame Krankheit, die ihm in den darauf folgenden vier Jahren das Gehen und damit den Besuch einer Schule fast unmöglich machte. Außer Buchstabieren zu lernen, liest Anton pietistische und viele religiöse Texte. Er entwickelt schon als Kind das Phänomen der „Vielleserei“[1] und „seine Begierde zu lesen wird unersättlich“. Er versucht alles, was in den moralischen Schriften steht, gleich auszuüben. Schließlich erhält er doch Gelegenheit zum Besuch einer Schule, später auch der Universität. Außer den Kenntnissen, die er als Schüler und Student erwirbt, lernt er weiterhin allein zuhause, übt das Predigen nach der Kirche, trifft sich in der Essigbrauerei und in befreundeten Wohnungen mit Freunden und führt gelehrte Diskussionen mit diesen. Anton wird in seinem Leben vielen Personen begegnen, die wie er Autodidakten sind. Er trifft dichtende und philosophierende Handwerker (Schuster, Schneider, Essigbrauer), die seine spätere Entwicklung stark beeinflussen werden.

In der vorliegenden Arbeit wird der Versuch unternommen, die Unterschiede zwischen Schulbildung und Autodidaktik zu erklären und die beiden Methoden mit Bezug auf Antons Entwicklung zu interpretieren.

1. Der Roman.

Anton Reiser ist in einer problematischen Umgebung aufgewachsen, da die Ehe seiner Eltern zerrüttet ist. Schon im frühesten Kindesalter zeigt er Interesse für Philosophie und Literatur. Er liest und lernt allein, was zu Missverständnissen und Fehlinterpretationen führt; „…und da ihm nie eigentlich gesagt worden war, dass jenes wahr, und dieses falsch sei, so fand er sich gar nicht ungeneigt, die heidnische Göttergeschichte mit allem, was da hineinschlug, wirklich zu glauben… Er suchte also, welches ihm allein übrig blieb, die verschiedenen Systeme, so gut er konnte, in seinem Kopfe zu vereinigen, und auf die Weise der Bibel mit dem Telemach, das Leben der Altväter mit der Acerra philologica, und die heidnische Welt mit der christlichen zusammenzuschmelzen“ (S. 27). Seine ersten Vorbilder stammen aus der Bibel, der griechischen Mythologie und den quietistischen Schriften. Einerseits ist der Wissensdurst bewundernswert, der ihn in so jungem Alter zu so schwierigen Texten hinzieht und ihn dazu motiviert, seine Selbstbildung mit großem Interesse und Neugier weiter auszubauen. Andrerseits aber verleitet ihn dieses Selbstlernen ohne Hilfe und Anleitung einer erfahrenen Person zu vielen falschen Ideen und Gedanken, die sein Verhalten und Schulgänge in Zukunft negativ beeinflussen. Später wird ihm erlaubt, die Schule zu besuchen und Latein zu lernen. Dort ist er zunächst ein herausragender Schüler und bald zeigen sich seine besonderen Fähigkeiten. Nach kurzer Zeit muss er jedoch die Schule wieder verlassen, da seine Eltern beschlossen haben, ihn zu einem Hutmacher in die Lehre zu schicken. Der Hutmacher nimmt Anton bald unter seinen besonderen Schutz, später aber entfremden sie sich, da der Lehrling dem Hutmacher zu aufmüpfig wird – er kann keinen Untergebenen gebrauchen, der selbständig denkt. Während seiner Lehrzeit beim Hutmacher beeindrucken ihn an den freien Sonntagen die Predigten von Pastor Paulmann, die er sich aus dem Gedächtnis aufschreibt. Mit vierzehn ist Anton wieder zurück in Hannover und besucht ein Institut für Dorfschulmeister; von seinen Lehrern fühlt er sich auch hier vernachlässigt und kämpft daher um deren Aufmerksamkeit. Die Entwicklung des begabten, aber aus ärmlichem Milieu stammenden Anton ist durchgehend vom Kampf um gesellschaftliche Anerkennung begleitet. Sein Narzissmus verleitet ihn oft genug zu Selbstüberschätzung, da er bestrebt ist, um jeden Preis im Mittelpunkt zu stehen. Sein Wunsch, weiter zu studieren, wird ihm vom Vater verweigert. Er findet jedoch Unterstützung bei einem Pastor, der ihn mit seinem Sohn am Privatunterricht teilhaben lässt mit dem Ziel, später die höhere Schule besuchen zu dürfen. Anton verlässt das Elternhaus, wohnt zur Untermiete am Schulort und nimmt verschiedene Mittagstische in Anspruch. All dies bringt ihn in Verlegenheit, er fühlt sich durch seine jeweiligen Gastgeber eingeengt und bevormundet. Dann erfolgt endlich die Einschulung in der zweiten Klasse, wo er Theologie, Geschichte, Latein, Geographie usw. lernt und auch im Chor mitsingt. Sein psychologischer Zustand ist sehr labil und wechselt ständig zwischen Freude (über anerkennendes Lob) und Beschämung (wenn ihm Tadel zuteil wird). Er lernt einen jungen Mann kennen, der ebenfalls Reiser heißt und sie freunden sich an. Nachdem er sich mit Singen und Dichten beschäftigt hat, wird er von Drama und Schauspiel fasziniert. Der nächste, der Anton mit seinem Studium hilft, ist der Rektor. Erneut gerät Anton jedoch auf Abwege, wegen seiner inneren Problematisierungen und weil er sich lächerlich fühlt distanziert er sich von seinen Mitschülern, igelt sich ein und widmet sich ausschließlich der Lektüre. Statt zu versuchen, mit seiner Umgebung ins Klare zu kommen, entwickelt er ein lebhaftes Interesse für das Theater. „Die Ausbildung aber trägt nicht zur Entwicklung einer selbständigen Persönlichkeit bei, sie bringt einen Protagonisten hervor, der ohne eigene Identität fortwährend andere imitiert und am Ende, wenn die Handlung abbricht, unglücklich als Schauspieler zurückbleibt“[2].

Anton Reiser trägt den Untertitel „psychologischer Roman“. Ein solcher Roman schildert die psychischen Vorgänge im Innern einer Person und stellt psychische Ausnahmesituationen dar. Die Grenzen zum Bildungs- bzw. Entwicklungsroman sind fließend. Zur Zeit der Veröffentlichung des „Anton Reiser“ war das Publikum schockiert von der unverblümten Darstellung der psychischen Verzerrungen. Moritz beschreibt die komplexe, dunkle, innere Welt von Anton, wie er von seinen Vorbildern, seinen Büchern, seiner familiären Umgebung geprägt wird, wie er die äußere Welt interpretiert und sich dabei oft irrt. Ein Beispiel für Moritz’ Darstellung der psychischen Welt ist die Beschreibung des Gefühls des Unrechts S. 32-33: „Vielleicht wäre auch alles im Ehestande besser gegangen, wenn Antons Mutter nicht das Unglück gehabt hätte, sich oft für beleidigt, und gern für beleidigt zu halten, auch wo sie es wirklich nicht war, um nur Ursach zu haben, sich zu kränken und zu betrüben, und ein gewisses Mitleid mit sich selber zu empfinden, worin sie eine Art von Vergnügen fand. Leider scheint diese Krankheit auf ihren Sohn fortgeerbt zu haben… wenn alle etwas bekamen, und ihm sein Anteil hingelegt wurde, ohne dabei zu sagen, es sei der seinige, so ließ ihn lieber liegen, ob er gleich wusste, dass er für ihn bestimmt war, um nur die Süßigkeit des Unrechtleidens zu empfinden, und sagen zu können, alle andre haben etwas, und ich nichts bekommen!“. Zur „Süßigkeit des Unrechtleidens“ kommt noch ein widersprüchlicher Charakterzug Antons: „…. Er wollte sich nicht zudrängen, und war doch wieder nicht stark genug, es zu ertragen, wenn man ihn vernachlässigte“ (S. 348). An vielen Stellen des Romans wird Antons Neigung zur Selbstzerstörung deutlich. So auch als Lobenstein ihm das Leben schwer macht und Anton sehr harte Aufgaben erfüllen muss, fühlt er sich stolz und irgendwie zufrieden von seinen körperlichen Leiden: „Allein statt dass dieses ihn hätte niederschlagen sollen, erhob es vielmehr seinen Mut. Er blickte mit einer Art von Stolz auf seine Hände, und betrachtete die blutigen Merkmale daran, als so viel Ehrenzeichen von seiner Arbeit… zugleich gewährten sie ihm eine Art von süßem Freiheitsgefühl, das er bisher noch nicht gekannt hatte“ (S. 72-73).

Was noch die Klassifizierung des Romans betrifft: in der Literaturwissenschaft ist strittig, ob es sich bei Anton Reiser um einen Bildungs- oder Entwicklungsroman handelt. Weitin bezeichnet Anton Reiser als einen negativen Bildungsroman, da es hier um einen misslungenen Bildungsgang geht. Das Entwicklungsmotiv gibt es schon, diese wird jedoch als negativ eingeschätzt. Anton entwickelt schon sehr früh eine starke Phantasie und Einbildungskraft. Die Masse der aufgenommenen Literatur, die Neugier und der Ehrgeiz, sich in bestimmte Themen zu vertiefen, öffnen ihm den Weg zu einer weit gefächerten Bildung. Seine Denkkraft wird durch das systematische Erarbeiten von Wissen im wissenschaftlichen und philosophischen Bereich kontinuierlich trainiert. Die intensive Beschäftigung mit unterschiedlichen Werken innerhalb eines Genres schärft seine Urteilskraft. Theoretisch trägt er also viele ideale Eigenschaften in sich, mangels sozialer Erfahrung ist er aber nicht in der Lage, sie auszuleben. Moritz stellt anders als in seiner Zeit ein Zerrbild der überkommenen pädagogischen Konzepte dar.

[...]


[1] Weitin, Thomas: Tagebuch und Personalausweis. Zur Codierung von Individualität im Anton Reiser.

[2] Weitin, Thomas: Tagebuch und Personalausweis. Zur Codierung von Individualität im Anton Reiser.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Autodidaktik als Motiv in Moritz’ "Anton Reiser"
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Veranstaltung
Dilettantismus in 18 Jh.
Autor
Jahr
2011
Seiten
17
Katalognummer
V205147
ISBN (eBook)
9783656313779
ISBN (Buch)
9783656314523
Dateigröße
485 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
autodidaktik, motiv, moritz’, anton, reiser
Arbeit zitieren
Anastasia Mavridou (Autor:in), 2011, Autodidaktik als Motiv in Moritz’ "Anton Reiser", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/205147

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