Auf der Suche nach.... Junge Erwachsene, die in einer Pflegefamilie aufgewachsen sind - Empirische Erhebung anhand narrativer Interviews


Diplomarbeit, 2003

146 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

I Theoretischer Teil

2 Aktuelle Lage im Pflegekinderwesen
2.1 Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII

3 Warum ein Kind zum Pflegekind wird
3.1 Gefährdung des Kindeswohls nach § 1666 BGB

4 Bindungstheorie
4.1 Innere Arbeitsmodelle von Bindung
4.1.1 Das sichere Modell
4.1.2 Das unsicher- ambivalente Modell
4.1.3 Das unsicher- vermeidende Modell
4.1.4 Das unsicher- desorganisierte Modell
4.2 Deprivation

5 Die Integration des Kindes in die Pflegefamilie
5.1 Bedingung für eine Förderung von Integration
5.1.1 Die Pflegeeltern
5.1.2 Die Geschwisterkonstellation
5.1.3 Die Herkunftseltern
5.1.4 Pflegekind
5.2 Phasen der Integration
5.2.1 Die Anpassungsphase
5.2.2 Die Übertragungsphase
5.2.3 Die Regressionsphase

6 Die Sozialpädagogische Arbeit im Pflegekinderwesen
6.1 Die Arbeit mit dem Kind
6.2 Die Arbeit mit der Herkunftsfamilie
6.3 Die Arbeit mit den Pflegeeltern

II Empirischer Teil

7 Die Methode des narrativen Interviews
7.1 Die Erhebung des Datenmaterials
7.2 Die Analyse
7.3 Forschungsfragen

8 Vollständige Fallrekonstruktion der Interviews mit Elke und Bastian
8.1 Vorfeldanalyse: Kontaktaufnahme und Interviewsituation mit Elke
8.2 Struktur der erzählte Lebensgeschichte
8.3 Struktur der erlebten Lebensgeschichte
8.4 Kontrastierung: „Auf der Suche nach einer Mutter“
8.5 Vorfeldanalyse: Kontaktaufnahme und Interviewsituation mit Bastian
8.6 Struktur der erzählten Lebensgeschichte
8.7 Struktur der erlebten Lebensgeschichte
8.8 Kontrastierung: „Auf der Suche nach einer Familie“

9 Globalanalyse der Interviews mit Melda und Janina
9.1 Vorfeldanalyse: Kontaktaufnahme und Interviewsituation mit Melda
9.2 Struktur der erzählten Lebensgeschichte
9.3 Struktur der erlebten Lebensgeschichte
9.4 Vorfeldanalyse: Kontaktaufnahme und Interviewsituation mit Janina
9.5 Struktur der erzählten Lebensgeschichte
9.6 Struktur der erlebten Lebensgeschichte

10 Die Ergebnisse unserer Biographieforschung in einer Gegenüberstellung

III Schlussbetrachtung

11 Die Bedeutung unserer Biographieforschung für die Soziale Arbeit

12 Die Bedeutung der allgemeinen Biographieforschung für die Soziale Arbeit

13 Literaturverzeichnis

14 Anhang

Transkriptionszeichen

1 Einleitung

Zur Einführung in den Bereich des Pflegekinderwesens werden wir, unsere Arbeit mit einem kurzen Überblick über aktuelle Zahlen und Fakten zu Pflegekindern beginnen.

Anschließend beschreiben wir die Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII. Wir beschränken uns nur auf diesen einen Paragraphen, da er für unsere empirische Arbeit relevant ist.

In der heutigen Gesellschaft gibt es eine große Anzahl von Gründen für die Inpflegegabe eines Kindes. Festzuhalten ist jedoch, dass ein Grossteil der betroffenen Kinder aus einem unsicheren Lebensmilieu kommt und kaum Beziehungsstabilitäten und darum auch keine ausreichende Zuwendung erfahren konnte. Oft gilt die kindlich Entwicklung als gefährdet, da auch keine adäquate Förderung in der Herkunftsfamilie sichergestellt werden kann.[1] Auf die Details gehen wir in Kapitel 3 ausführlicher ein.

Im weiteren Verlauf unserer Arbeit beschäftigen wir uns mit der Bindungstheorie nach John Bowlby.[2] Zu Beginn skizzieren wir die Entstehungsgeschichte der Bindungstheorie. Sie geht davon aus, dass Kinder schon im frühen Säuglingsalter eine Bindung zu einer ihnen nahestehenden Bezugperson aufbauen. Die Kinder verinnerlichen bei dem Aufbau der Bindung innere Bindungsmuster, auf die wir in Kapitel 4.1 ausführlicher eingehen werden.

Pflegekinder haben in ihrer Herkunftsfamilie Trennungen von ihrer Mutter oder anderen ihnen nahestehenden Personen erlebt, Bowlby und Ainsworth sprechen hier von der „Deprivation“, die wir im Kapitel 4.2 näher erläutern werden.

Jedes Kind ist ein Individuum/einzigartig und bringt andere Erlebnisse und Erfahrungen aus der Vergangenheit mit, die auch in seiner Entwicklung sichtbar werden. Somit werden besondere Anforderungen an die Pflegefamilie gestellt. Oftmals sind diese Kinder in ihrem Verhalten auffällig und bringen traumatische Erfahrungen mit in die Ersatzfamilie. Damit eine Integration des Pflegekindes in die Ersatzfamilie gelingt, bedarf es bestimmter Bedingungen, auf die wir in Kapitel 5.1 eingehen werden.

Hat ein Kind in den ersten Lebensjahren feste Bindungsmuster zu einer Bindungsperson aufgebaut, werden diese im weiteren Leben manifestiert. Einen wesentlichen Einfluss nehmen sie auch auf die Integration von Kindern in Ersatzfamilien. Oftmals übertragen Kinder auf die neue Familie ihre früheren Bindungsmuster und somit auch ihr erlerntes Verhalten, diese Verhaltensmuster sind jedoch wesentlicher Bestandteil der Integration.[3]

Der völligen Integration geht ein langer Prozess voraus, in welchem ein Kind mehrere Phasen durchläuft. In Kapitel 5.2 gehen auf die verschiedenen Phasen ein, die ein Kind während der Eingliederung in die neue Familie durchläuft.

Vor, während und nach dem Prozess der Integration ist es unverzichtbar sowohl Kindern als auch leiblichen Eltern und Pflegeeltern mit professioneller Unterstützung zur Seite zu stehen, denn die bevorstehende Lebensveränderung bringt hohe Anforderungen mit sich. Wie der professionell Tätige die Arbeit mit allen Beteiligten gestalten sollte, zeigen wir im darauffolgenden Kapitel auf.

Im Wintersemester 2002/03 besuchten wir die Interviewschulung von Hanna Beneker. Dort wurden uns Techniken zur Durchführung und Analyse des narrativen Interviews vermittelt.

Das weckte unser Interesse an der Biographieforschung und wir beschlossen, diese Methode im Rahmen unserer Diplomarbeit für uns (erstmals) anzuwenden.

Aus diesem Seminarangebot resultierte eine Forschungswerkstatt, insbesondere für Prüfungsabsolventen und Diplomanten, an der wir bis zum Ende unserer Diplomarbeit teilnahmen. Hauptbestandteil dieser Gruppe war die gemeinsame Analyse der Interviews.

Die Methode des narrativen Interviews entwickelte Mitte der 70er Jahre der Bielefelder Soziologe Fritz Schütze.[4] Sie gehört heute zu einer etablierten Methode im Bereich der qualitativen Sozialforschung. Auf die Grundlagen dieser Methode gehen wir ausführlicher in Kapitel 7 ein.

Im Verlauf des Studiums arbeiteten wir unter anderem in einem Institut für angewandte Heilpädagogik und in einer vom Jugendamt angeordneten Einzelbetreuung. Die Gemeinsamkeit dieser zu betreuenden Kinder lag darin, dass sie Trennungen eines oder beider Elternteile erlebt haben oder aus ihrer Herkunftsfamilie herausgenommen wurden.

Während unserer Tätigkeit galt unser Hauptinteresse der Frage, was diese Kinder erleben und erfahren, wenn sie nicht in ihrer Herkunftsfamilie aufwachsen können. Deshalb basiert unsere Forschung im Rahmen unserer Diplomarbeit auf Lebens- und Familiengeschichten von ehemaligen Pflegekindern. Weitere Forschungsfragen, mit denen wir uns auseinander setzen, werden ebenfalls unter Kapitel 7.3 aufgeführt.

Für unsere Forschungsarbeit führten wir vier biographisch narrative Interviews durch. In unserer Diplomarbeit erscheinen die Interviews in chronologischer Reihenfolge, so, wie sie stattgefunden haben. Aus Rücksichtnahme auf die Biographen und aus Datenschutzgründen haben wir alle Namen und Daten maskiert.

Unsere erste Biographin ist die 21 jährige Elke, ihr folgt der 22 jährige Bastian. Die Analyse dieser beiden Interviews führten wir anhand einer vollständigen Fallrekonstruktion durch. Im Vordergrund stand dabei, was unsere Biographen in ihrer Vergangenheit erlebt haben, „Erlebtes Leben“, und in welcher Weise dieses Erleben ihre Präsentation; „Erzähltes Leben“ bestimmt. Die Gegenüberstellung von beidem ist die Kontrastierung.

Diese einzelnen Analyseschritte übernehmen wir von Hanna Beneker (2002) und ihre Auswertung führen wir in Kapitel 8 auf.

In den nächsten Kapiteln behandeln wir zwei weitere Interviews, die wir unabhängig voneinander mit zwei Pflegeschwestern durchgeführt haben, welche gemeinsam in einer Ersatzfamilie aufgewachsen sind. Janina ist zum Zeitpunkt des Interviews 29 Jahre alt und Melda 31 Jahre. Die Auswertung erfolgt anhand einer Globalanalyse,[5] sie wird unter Kapitel 9 erläutert.

Das narrative Interview ermöglichte uns einen umfassenden Einblick in die Lebensläufe unserer Biographen und deren Zusammenhänge der Lebensläufe. In Kapitel 10 gehen wir mit den Ergebnissen der einzelnen Fälle kontrastiv um und stellen alle durchgeführten Interviews einander gegenüber, um Gemeinsamkeiten oder auch Unterschiede transparent zu machen.

In der Schlussbetrachtung nähern wir uns zunächst der Aufgabe, allen aus unserer Biographieforschung gewonnenen Ergebnissen eine Bedeutung für die soziale Arbeit zuzusprechen. Die Forderungen, die wir dabei an die soziale Arbeit stellen, werden in Kapitel 11 näher darlegen.

Das letzte Kapitel unserer Diplomarbeit beschäftigt sich mit der allgemeinen Bedeutung der Biographieforschung für die soziale Arbeit. Zudem werden von uns Möglichkeiten und Grenzen des narrativen Interviews in Bezug auf die soziale Praxis dargestellt. Dabei lassen wir auch unsere eigenen Erfahrungen mit einfließen.

Wenn in dieser Forschungsarbeit von „Biograph“/ „Erzähler“/ „Sozialpädagoge“ die Rede ist, sprechen wir selbstverständlich das weibliche Geschlecht ebenso an.

I Theoretischer Teil

2 Aktuelle Lage im Pflegekinderwesen

Die Erziehung von Kindern in Pflegefamilien gehört, neben der Heimerziehung, zur bewehrten Unterbringungsmöglichkeit eines Kindes beim Scheitern der Elterlichen Sorge. So lebten im Jahr 2000 insgesamt 49.000 junge Menschen bis zum Alter von 26 Jahren in einer Pflegefamilie.[6]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Nach dieser Erhebung vom Statistischen Bundesamt (2000) schwankt die Zahl der in Pflegefamilien lebenden Kinder zwischen 48.014 in 1991 (niedrigster Stand) und 56.076 in 1994 (höchster Stand).

Im Jahr 1998 lebten in Deutschland 54.020 Kinder und Jugendliche in einer Pflegefamilie. Ein Jahr zuvor, 1997 war der Anteil der Kinder, die nicht bei ihren leiblichen Eltern lebten niedriger, er lag bei 52.134 Kindern.

Das Friedrich-Stift-Institut untersuchte das Einstiegsalter von 73 Kindern die in Obhut einer Pflegefamilie kamen. Diese Ergebnisse verglichen sie mit denen vom statistischen Bundesamt (2000).[7]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Der Statistik kann entnommen werden, dass Kinder im Alter zwischen 6-12 Jahren sowohl laut des Statistischen Bundesamtes, als auch des Friedrich-Stifts-Instituts am häufigsten (mit knapp 30%) in eine Pflegefamilie aufgenommen werden. Kinder im ersten Lebensjahr sind dagegen nur mit einem Anteil von 11% in Pflegefamilien vertreten.

2.1 Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII

Die Vollzeitpflege zählt zu den stationären Hilfen zur Erziehung. Sie beinhaltet die Unterbringung, Betreuung und Erziehung eines Kindes in einer anderen Familie. Vollzeitpflege bedeutet, die private Betreuung und Erziehung des Kindes oder des Jugendlichen außerhalb der leiblichen Familie.[8]

Die Hilfe zur Erziehung soll Kindern und Jugendlichen eine zeitlich befristete oder eine auf Dauer angelegte Lebensform in einer Pflegefamilie bieten. Dabei soll individuell auf das Kind und seinen Entwicklungsstand eingegangen werden. Nach Möglichkeit sollen neue, tragfähige Eltern-Kind-Bindungen in der Pflegefamilie aufgebaut werden. Außerdem sollen die Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie verbessert werden, da die Rückführung des Kindes angestrebt wird.[9]

Der Paragraph, der über die Herausnahme des Kindes aus seiner Herkunftsfamilie verfügt, tritt dann in Kraft, wenn die leiblichen Eltern die zentralen Versorgungs- und Erziehungsfunktionen nicht wahrnehmen können und dadurch der Verbleib des Kindes in der Ursprungsfamilie nicht möglich ist.[10]

Bei Kindern und Jugendlichem mit besonderen Entwicklungsbeeinträchtigungen gilt es, ihnen geeignete Formen der Familienpflege zukommen zu lassen.[11] Es tritt eine Bestimmung in Kraft, die eine Sonderform der Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII mit Verbindung des § 35a SGBVIII „Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche“ ermöglicht. Dies Eingliederungshilfe wird durch Pflegeeltern mit besonderen Qualifikationen gewährleistet, die dem Bedürfnis des Kindes gerecht werden können. Da die Anforderungen an die Pflegeeltern häufig sehr hoch sind, wird auf Pflegefamilien zurückgegriffen, bei denen ein Pflegeelternteil über entsprechende Qualifikationen verfügt, wie z.B. eine psychologische oder pädagogische Ausbildung.[12]

3 Warum ein Kind zum Pflegekind wird

Nun wollen wir einen kurzen Überblick über verschiedene Gründe geben, die dazu führen, dass ein Kind in die Obhut einer Pflegefamilie kommt. Wenn Eltern nicht in der Lage sind ihr Kind adäquat zu versorgen, kann wie unter Punkt 2.1 erklärt der § 33 SGB VIII in Kraft treten.

Wir beschränken uns in diesem Kapitel auf die häufigsten Gründe einer Inpflegegabe. Zudem wollen wir uns auf Gründe konzentrieren, die in Zusammenhang mit den Biographen unserer Forschungsarbeit stehen.

Ein sehr bekannter Grund für die Inpflegegabe eines Kindes, stellt der Tod eines oder beider Elternteile dar. Ist im familiären Umfeld niemand zu finden, der das Kind oder die Kinder bei sich aufnehmen kann und will, wird häufig statt einer Heim-Aufnahme, die Aufnahme in eine Pflegefamilie in Betracht gezogen. Auch wenn ein oder beide Elternteile unter einer Krankheit, wie z.B. Aids leiden und der voraussichtliche Tod in naher Zukunft ist, stellt die Möglichkeit, das Kind in eine Pflegefamilie zu geben, für die Eltern oft eine gute Lösung dar. Weitere Gründe für die Inpflegegabe stellen auch psychische Krankheiten, wie z.B. die Schizophrenie dar. Oder das Leiden unter einer Suchterkrankung, z.B. Drogen, Alkohol, Heroin, etc.. Hier ist die Erziehungskompetenz meist stark beeinträchtigt oder kann gar nicht ausgeführt werden.

Auch eine Scheidung oder Trennung stellt einen vorübergehenden oder ganz in Erwägung gezogenen Grund dar, ein Kind fortan in einer Pflegefamilie aufwachsen zu lassen. Denn oft entstehen durch eine Trennung oder Scheidung, finanzielle und soziale Notlagen, wie z.B. kein geregeltes Einkommen oder sogar Obdachlosigkeit.

Die Unterbringungsform der Pflegefamilie wird häufig auch gewählt bei vorübergehender Abwesenheit der Hauptbezugsperson, etwa durch einen längeren Krankenhausaufenthalt.[13]

F. Güthoff (1996)[14] nennt verschiedene Gründe für die Herausnahme des Kindes aus der Herkunftsfamilie:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In der Tabelle ist deutlich zu erkennen, dass der häufigste Grund (ca. 41,0%) einer Inpflegegabe, die mangelnde Versorgung und Erziehung eines Kindes darstellt. Aber auch Misshandlungen, die oft mit traumatischen Erlebnissen der betroffenen Kinder verbunden ist, stellen einen Anteil von knapp 10 % dar. Da in solchen Fällen die leiblichen Eltern oft nicht freiwillig ihr Kind in die Obhut einer Pflegefamilie geben, gibt es einen Paragraphen der die Herausnahme dieser Kinder zwangsweise erlaubt. Wir stellen nun den § 1666 BGB dar, der differenzierte Angaben gibt, unter welchen Voraussetzungen ein Kind zwangsweise aus seiner Familie genommen werden kann.

3.1 Gefährdung des Kindeswohls nach § 1666 BGB

Der § 1666 BGB greift, wenn eine Gefährdung des Kindeswohles gegeben ist. Nach

§ 1666 BGB ist eine Gefährdung des Kindeswohls dann gegeben, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder seines Vermögens durch missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge vorhanden ist.

Das Ausnutzen der elterlichen Sorge zum Schaden des Kindes, kann im einzelnen bedeuten:[15]

- bewiesener sexueller Missbrauch
- körperliche Misshandlung
- übermäßige Züchtigung
- Abhalten von Impfungen
- Abhalten vom Schulbesuch

Das Kindeswohl ist ebenfalls durch Vernachlässigung Seitens der Eltern gefährdet. Dazu gehören unter anderem:[16]

- unzumutbare Wohnverhältnisse
- ungenügende Ernährung und/oder Körperpflege
- Gefahr der Bindungsschwäche beim Kind z.B. infolge verschiedener Aufenthaltswechsel einer drogensüchtigen Mutter

Ebenfalls beinhaltet der Paragraph das unverschuldete Versagen der Eltern. Dieser Aspekt wird als zusätzliches Kriterium eingeführt um den Umstand Rechnung zu tragen, dass es auch Fälle gibt, in denen Kindeswohlgefährdung nicht auf ein Verschulden der Eltern zurückzuführen ist. Die Gefährdung des Wohles des Kindes kann auch durch Gefährdung eines Dritten eintreten; z.B.:[17]

- durch Zuhälterei
- durch Anwesenheit Rauschgiftsüchtiger

Wenn die Eltern nicht gewillt oder in der Lage sind, die zur Abwendung der Gefahr notwendigen Maßnahmen zu treffen, kann den Eltern durch das Vormundschaftsgericht die elterliche Sorge entzogen werden.[18]

4 Bindungstheorie

„ Bindungsverhalten begleitet den Menschen von der Geburt bis zum Tod“.[19]

John Bowlby stellt schon Ende der 40er Jahre fest, dass eine Trennung von Mutter und Kind Folgen für die weitere Persönlichkeitsentwicklung des betroffenen Kindes hat. Da die Psychoanalytische Theorie weder Bindung noch Reaktion auf Trennung erklären kann, entwickelte Bowlby, eine neue Theorie. Die Anfänge der Theorie entstanden schon Ende der 40er Jahre unter Einbezug der Psychoanalyse und Aspekten der Ethnologie. 1948 begrenzte Bowlby allerdings seinen Forschungsbereich allein auf die Trennung von Mutter und Kind. Durch Beobachtungen an Kindern im Heim und im Krankenhaus gelang es dem Sozialpädagogen und Psychoanalytiker Robertson, erste neue Hypothesen aufzustellen. Diese beinhalten unter anderem, dass getrennte Kinder und Säuglinge Aggressivität und Zurückweisung gegenüber anderen zeigen, bevor sie eine neue Bindung zulassen.[20]

In Zusammenarbeit mit Mary Ainsworth entstanden, unter Verwendung verschiedener von ihr durchgeführter empirischer Untersuchungen, Bindungsklassifikationen. Die wichtigste Forschung ist dabei die „Fremde Situation“, die wir im Kapitel 4.1 beschreiben. Mary Ainsworth war beeinflusst von der Sicherheitstheorie;[21] sie besagt, dass Säuglinge und Kleinkinder Vertrauen zu ihren Eltern entwickeln müssen, bevor sie bereit sind, sich in unbekannte Situationen zu begeben, in denen sie allein zurecht kommen. Diese Sicherheit bietet eine Basis für den Erwerb von Fähigkeit und Wissen, die es den heranwachsenden Menschen ermöglicht, sich auf sich selber zu verlassen und sich von den Eltern abzulösen.[22]

Die Bindungstheorie nach Bowlby hat großen Einfluss auf das Pflegekinderwesen. Mit ihrer Hilfe ist es möglich, einzuschätzen, inwieweit ein Kind z.B. tragfähige oder angstbesetzte Bindungen entweder zu seiner Herkunftsfamilie oder auch zu seiner Pflegefamilie aufgebaut hat. Sie bietet einen Rahmen für beobachtbare Auswirkungen bisheriger Beziehungserfahrungen auf die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes.

Ebenfalls bietet die Bindungstheorie eine Orientierung, in welchem Alter die Trennung von der Herkunfts-/Pflegefamilie mit den wenigsten Schäden für das Kind verbunden ist. Die Fragestellung, ob das Gefährdungsrisiko mit dem Alter zu- oder abnimmt, ist in der Fachwelt viel diskutiert.

Da die Erkenntnisse der Bindungstheorie Einschätzungen des Risikos für die weitere Entwicklung des Kindes in Pflegefamilie oder Herkunftsfamilie zulassen, kann sie als Entscheidungshilfe genutzt werden.

Im Folgenden werden wesentliche Kernaussagen der Bindungstheorie dargestellt.[23]

Nach der Bindungstheorie ist jedes Kind nach der Geburt mit einem Verhaltensrepertoire ausgestattet, dass dazu dient, die Nähe zu einer (Haupt-) Bezugsperson zu erreichen und zu sichern. Der Sinn solcher Verhaltenssysteme ist offensichtlich, bietet Nähe doch Schutz, Hilfe und Befriedigung der existentiellen Bedürfnisse, für die ein Säugling eigenständig keine Sorge tragen kann. Das nähesuchende Verhalten des Säuglings/Kindes, das Bindungsverhalten, äußert sich in Signalverhaltensweisen, wie z.B. weinen, anklammern, hinkrabbeln, oder auch anschmiegen. Das Pflegeverhalten der Bezugsperson auch Fürsorgeverhalten genannt, ist das Komplement zum Bindungsverhalten des Kindes. Aus dem Zusammenspiel von kindlichen Signalverhalten und dem darauffolgenden Fürsorgeverhalten der Bezugsperson entstehen Bindungen. Die beiden Verhaltensweisen sind fein aufeinander abgestimmt. Das Kleinkind ist somit auf die Präsenz seiner Bindungsfigur angewiesen, um den wichtigen Entwicklungsschritt, die Erreichung einer sicheren Bindung, zu bewältigen.[24] Bestimmend für die Qualität des Bindungsmusters ist dabei besonders die Feinfühligkeit der Bindungsperson, sowie ihre Fähigkeit und Bereitschaft zur prompten und zuverlässigen Erfüllung der kindlichen Bedürfnisse.

In der Mitte des ersten Lebensjahres formt sich das Kind ein inneres Bild von seiner hauptsächlichen Bindungsperson. Zu diesem Zeitpunkt lässt sich der Aufbau von Bindungen feststellen. Das Kind hat nun gelernt, zwischen „fremd“ und „bekannt“ zu unterscheiden. Diese Fähigkeit kommt eindrücklich in der Phase des so genannten „Fremdelns“[25] zum Ausdruck. Seine Bezugspersonen sind somit nicht mehr beliebig austauschbar, die Vorraussetzung für einen tragfähigen Aufbau einer Bindung ist erreicht. Das Kind hat die Fähigkeit entwickelt, auch dann seine Bindungsperson zu suchen, wenn diese nicht anwesend ist. So zeigt das Kind nun auch deutliche Trennungsängste und

heftige affektive und körperliche Reaktionen bei einer Trennung von seiner Bindungsperson.[26]

4.1 Innere Arbeitsmodelle von Bindung

Mit zunehmender Entwicklung des Kindes, mit Erweiterung seiner sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten erwirbt das Kind eine innere Repräsentation von Erfahrungen und Wissen über das bindungsrelevante Verhalten seiner Bindungsperson. Im Kind entsteht ein inneres Abbild seiner erlebten Erfahrungen bezüglich seiner Bindungsfigur, die so genannten „Inneren Arbeitsmodelle“ („Inner working Models“).[27]

Wird das Kind im Laufe des Erkundens der Umwelt verunsichert, etwa durch zu lange Abwesenheit der Bindungsfigur, oder durch fremde Reize, so sorgt die Aktivierung des Bindungssystems und das damit verbundene Verhalten für Nähe und Schutz durch die Bindungsfigur. Die Aktivierung des Bindungssystems dient als sichere Basis, von der aus das Kind, nachdem die Erregung des Bindungssystems abgeklungen ist, von Neuem erkunden kann. So ist das Kind in der Lage, sich auch ohne Präsenz der Bindungsperson sich ihre Reaktionen vorzustellen und sein eigenes Verhalten daraufhin zu planen. Nach Bowlby ist ungefähr im fünften Lebensjahr ein inneres differenziertes Arbeitsmodell ausgebildet.[28]

Im Folgenden beschreiben wir die Entstehung der fremden Situation. Es ist eine von Ainsworth und Wittig 1969 entwickelte Laborbeobachtungsmethode, um das Zusammenspiel zwischen dem Bindungs- und Erkundungsverhaltenssystems von Kindern unter verschiedenen Belastungsbedingungen zu untersuchen. Ausgehend davon, dass sich Wechselwirkung von Bindungs- und Erkundungsverhalten leichter in einer nicht vertrauten Umgebung beobachten lassen, entwickelten Ainsworth und Wittig eine Laborsituation, an der Kinder und Mütter teilnahmen, als die Kinder ein Jahr alt waren. Ainsworth und Wittig waren hauptsächlich interessiert an Unterschieden im Erkundungsverhalten der Kinder bei Anwesenheit und Abwesenheit der Bindungsperson bzw. in Anwesenheit einer fremden Person. Aus den Ergebnissen dieser Forschung resultierten verschiedene Bindungsmodelle.[29]

Nach dem jetzigen Stand der Forschung lassen sich vier unterschiedliche Bindungsmodelle darstellen:

1.) das sichere Modell
2.) das unsicher- ambivalente Modell und
3.) das unsicher- vermeidende Modell
4.) das desorganisierte Modell

Diese Bindungsmodelle werden im folgenden näher beschrieben.

4.1.1 Das sichere Modell

Bei einem sicheren Modell bringt das Kind Vertrauen in die Verfügbarkeit der Bindungsfigur, z.B. in der Fremden Situation, mit. Das Kind kann, ausgehend von seinem Modell, die Bindungsfigur als sichere Basis benutzen, um die fremde Umgebung zu erkunden. Verlässt z.B. die Bindungsfigur den Raum, in dem sich das Kind aufhält, ist sie also nicht mehr in Sichtweite, empfindet das Kind mit einem sicheren Modell seine Bindungsfigur dennoch als verfügbar. Es beginnt sich nur zu sorgen, wenn die Bindungsperson länger nicht zurückkommt. Kehrt die Bindungsfigur zurück, wird das Kind in seinem Glauben an ihre Zuverlässigkeit bestärkt. Demzufolge sucht das sicher gebundene Kind sofort und eindeutig Trost bei seiner Bindungsfigur. Die Bindungsperson ist in der Lage, das Kind schnell und wirksam zu beruhigen, so kann das Kind in seinem Erkundungsverhalten fortfahren.[30]

Die negativen Gefühle, die die Trennung von der Bindungsfigur bei dem Kind auslöst, führen zu einem Bindungsverhalten des Kindes, das nach einer positiven Lösung strebt, nämlich Trost zu suchen um damit eine Beendigung des Leids zu erreichen. So wandelt das Kind mit Hilfe des sicheren Modells negative Gefühle in positive um; es hat eine insgesamt positive gefühlsmäßige Erwartung über einen guten Ausgang.

Beispiel bei einem sechsjährigen Kind:[31]

Bei einem 6-jährigen sicher gebundenen Kind zeigt sich nach einer einstündigen Trennung von der Bindungsperson, die Fähigkeit dieser mit einer entspannten Offenheit gegenüber zu treten. Das Kind beginnt von sich aus einen freien und flüssigen Dialog zu seiner Bindungsfigur. Es zeigt seine Zuversicht durch freundliche Zugewandtheit und sein Aktionsradius im Spiel ist nicht eingeschränkt.

Das sichere Arbeitsmodell bei Erwachsenen wird als autonom bezeichnet. Es entsteht nach Fremmer-Bombik,[32] entweder aus einer zuverlässigen sicheren frühen Bindung oder aus einer tiefgreifenden Verarbeitung negativer Kindheitserlebnisse. Bindungen haben für diese Menschen einen hohen Stellenwert. Sie betrachten die Erfahrungen, die sie mit der Bindungsfigur gesammelt haben, als wesentlich für ihre Entwicklung. Dadurch haben sie einen guten Zugang zu ihren Gefühlen. Durch das autonome Arbeitsmodell wird es ihnen ermöglicht, negative Erfahrungen in eine positive Grundhaltung zu integrieren.[33]

4.1.2 Das unsicher- ambivalente Modell

In diesem Modell wird die Bindungsfigur als nicht berechenbar erlebt. Es entsteht, wenn eine Bindungsperson auf die Signale des Kindes mal zugewandt, mal abweisend reagiert. Die dadurch gewonnene innere Einstellung des Kindes lässt sie in der fremden Situation sofort unruhig werden. Das Bindungssystem wird aktiviert, allein schon wegen der fremden Umgebung und Person. Sein unsicheres inneres Arbeitsmodell, über ihre Erwartungen an die Bindungsfigur aufgrund bisheriger ambivalenter Erfahrungen mit ihr, lässt es die Nähe der Bindungsfigur schon vor der Trennung suchen. Durch die chronische Aktivierung seines Bindungssystems ist sein Erkundungsverhalten stark eingeschränkt. Wenn die Bindungsperson den Raum des Kindes verlässt, so ist das Kind in seiner Erwartung bekräftigt, das die Bindungsperson nicht mehr für es verfügbar ist. Das Kind erlebt diese Trennung als sehr belastend und so zeigt es diskrepantes Verhalten bei Rückkehr der Bindungsperson. Einerseits sucht es ihre Nähe, ist aber zugleich ärgerlich und wütend auf sie. Das Kind hat keine positive Erwartungshaltung aufgebaut; deshalb kann es seine negativen Gefühle nicht auf ein positives Ziel hin integrieren.

Beispiel bei einem sechsjährigen Kind:[34]

Ein Kind mit diesem unsicher- ambivalenten Modell im Alter von sechs Jahren wirkt noch sehr anhänglich und kleinkindhaft Die schlechte Vorausschaubarkeit bezüglich der Reaktionen seiner Bindungsfigur lässt das Kind lange unreif erscheinen. Auf Grund des inneren Arbeitsmodells hat das Kind keine Zuversicht in die Hervorsagbarkeit und Verfügbarkeit der Bindungsfigur entwickelt. Deshalb bedeutet eine einstündige Trennung von seiner Bindungsperson bereits eine starke Bedrohung für das Kind.

Analog zum ambivalenten Verhalten in der fremden Situation, das die niedrige Schwelle für Bindungsverhalten bei diesen Kindern verdeutlicht, gibt es auch Erwachsene, die so tief in das Thema eintauchen, dass sie nicht mehr kohärent darüber berichten können. Das innere Arbeitsmodell eines Erwachsenen ist geprägt durch Verstricktheit in frühe Beziehungen. Die Erwachsenen mit diesem Modell sind besonders wenig objektiv, wenn sie über ihre Beziehungen und deren Einflüsse berichten. Sie sind in ihren frühen Bindungserfahrungen gefangen, dabei aber passiv, ängstlich oder auch ärgerlich gegenüber der damaligen Bindungsperson. Die Erwachsenen sind besonders schlecht in der Lage, unterschiedliche Gefühle zu integrieren und sind sich der Inkohärenzen in ihren Aufgaben nicht bewusst.[35]

4.1.3 Das unsicher- vermeidende Modell

Kinder, die ein unsicher vermeidendes Modell entwickelt haben, zeigen in der fremden Situation keine Beunruhigung. Zu ihrer Bindungsperson meiden sie sogar Nähe. Das Bindungsverhalten entsteht dadurch, dass die Kinder ihre Bindungsfigur in vielen, vor allem kummervollen Situationen, als zurückweisend erlebt haben. Um die Wahrscheinlichkeit der doch sehr schmerzvollen Zurückweisung zu verringern, haben sie eine Strategie der Vermeidung entwickelt. Die Kinder zeigen weder ihre Verunsicherung noch suchen sie die Zuwendung durch Trost und körperliche Nähe der Bindungsperson. Sie erwarten von ihr keine Auflösung der Verunsicherung mehr. Diesen Kindern gelingt es nicht negative Gefühle zu integrieren, sie können sie also nicht in eine positive Erwartungshaltung umwandeln. Im Unterschied zu dem unsicher- ambivalenten Modell können sie keine negativen Gefühle gegenüber der Bindungsfigur äußern.

Da die betroffenen Kinder nach ihren Erfahrungen die zurückweisenden Reaktionen der Bindungsperson auf negative Gefühlsäußerungen recht zuverlässig vorhersagen können, hilft ihnen die Strategie der Vermeidung, das Risiko von Zurückweisung zu vermindern um so die Nähe zur Bindungsperson optimal zu regulieren.

Beispiel bei einem sechsjährigen Kind:[36]

Bei einem 6-jährigen Kind wird das Modell in angespannter Vorsicht erkennbar. Es spricht höflich, aber distanziert, seine Antworten sind kurz und auf das Nötigste beschränkt. Es entsteht kein flüssiger Dialog mit seiner Bindungsperson. Je mehr/weniger sich das Kind offenbart, desto höher/geringer ist die Wahrscheinlichkeit einer abwertende Reaktion der Bindungsperson.

Bei Erwachsenen zeigt sich das unsicher-vermeidende Modell, indem sie sich sehr distanziert zu Beziehungsthemen äußern. Sie erinnern sich kaum an Ereignisse aus der Kindheit, vor allem aber können sie dabei nicht wirklich nachempfinden, was sie in den Episoden, an die sie sich erinnern können, gefühlt haben. Fast immer haben sie ein idealisiertes Bild von ihren Eltern. Widersprüche zwischen dem idealisierten Bild der Eltern und Episoden, an die sie sich in ihrer Kindheit erinnern und in denen Zurückweisung und mangelnde Nähe transparent werden, werden von ihnen nicht wahrgenommen. Sie halten sich für starke unabhängige Menschen, Nähe zu anderen Personen und Bindungen haben wenig Bedeutung für sie.

Ainsworth vermutet das sie zwei Tendenzen in sich tragen, die zum Konflikt führen:

Ein dominierendes, in dem die Eltern idealisiert werden und ein unbewusstes, das auf den realen Erfahrungen von Zurückweisung und Mangel an sicherheitsspendender Nähe basiert.

4.1.4 Das unsicher- desorganisierte Modell

Über dieses Modell gibt es wenige konkrete Aussagen. Es ist jedoch anzunehmen, dass unverarbeitete, traumatische Ereignisse im Leben der Eltern bewirken, dass diese selber mit der Gestaltung ihrer Bindungsmuster absorbiert sind. Sie sind daher nur unzureichend tauglich für eine Bindung oder weisen gar kein Bindungsverhalten auf. Vor allem bindungsrelevante Aspekte, wie Feinfühligkeit gegenüber ihrem Kind sind nur eingeschränkt ausgebildet.[37]

Die Kinder entwickeln keine klare Bindungsstrategie; sie sind nicht in der Lage ihre Erwartungen an die Bindungsperson in einem Arbeitsmodell abzubilden. Häufig lässt sich eine Rollenumkehr beobachten.

Beispiel bei einem sechsjährigen Kind:[38]

Die angesprochene Rollenumkehr äußert sich bei einem sechsjährigen Kind durch ein fürsorgliches Verhalten des Kindes der Bindungsperson gegenüber. Das Kind fühlt sich entweder für das Wohlergehen der Bindungsfigur verantwortlich oder übt Kontrolle aus durch bestrafendes Verhalten nach der einstündigen Trennung (Beschimpfung, Tätlichkeiten).

Bei einem Erwachsenen zeigt sich das desorganisierte Arbeitsmodell in verbalen und gedanklichen Inkohärenzen und Irrationalität bei bestimmten Themen wie Tod, Trennung oder der Beschreibung des eigenen Missbrauchs. Die Kindheitserinnerungen und die Art darüber zu berichten, sind, abgesehen vom Bericht des traumatischen Ereignisses, immer auch einem der anderen zuvor beschriebenen Modelle zuzuordnen. Das nicht verarbeitete Trauma hängt eng mit der desorganisierten Bindung zum eigenen Kind zusammen.

4.2 Deprivation

Nachdem im vorherigen Kapitel innere Arbeitsmodelle von Bindungen, insbesondere zur Mutter dargestellt wurden, gehen wir nun darauf ein, welche Folgen eine Trennung von Mutter und Kind hat. In Fachkreisen wird eine Mutter-Kind-Trennung als Deprivation tituliert, dies bedeutet:

„Beraubung, Mangel, Verlust, Entzug von etwas Erwünschtem z.B. fehlende Zuwendung der Mutter, Liebesentzug“.[39]

Die Deprivation beschreibt einen Zustand in dem das Kind keine Mutter- Beziehung besitzt. Dies trifft z.B. zu, wenn die Mutter entweder die notwendige mütterliche Zuwendung und Nähe nicht bietet, bzw. nicht bieten kann oder dem Kind aus irgendeinem Grund die Zuwendung komplett entzogen wird.

Von einer relativ leichten Mutterentbehrung wird gesprochen, wenn das Kind von einer Ersatzmutter, in den meisten Fällen einer Pflegemutter, betreut wird. Die Ersatzmutter bietet dem Kind zwar eine liebevolle Zuwendung, bleibt jedoch in aller Regel zunächst fremd.

Es gilt in der Fachliteratur und in Expertenkreisen als bewiesen, dass die Entwicklung eines Kindes fast immer verzögert verläuft, wenn es die Betreuung der Mutter, besonders in den ersten Lebensjahren, in denen eine Bindung entsteht, entbehren muss. Das Kind kann mit physischen, intellektuellen, sozialen oder psychischen Symptomen oder auch ausgebildeten Krankheiten reagieren. Längere Unterbrechungen der Mutter-Kind-Beziehung während der ersten drei Lebensjahre prägen die kindliche Persönlichkeit in charakteristischer Weise. Diese Störungen können wenigstens teilweise vermieden werden, wenn das Kind von einer Mutter-Ersatzperson betreut wird. Diese Pflege durch eine Ersatz- Mutter kann zwar niemals die der leiblichen Mutter voll und ganz ersetzen, sollte aber bei einer Trennung von der leiblichen Mutter auf jeden Fall gegeben sein um schwerwiegende Folgen einer Deprivation vorzubeugen.

Es können zwei verschiedene Arten von Deprivation festgestellt werden:

1.) Zum einen die partielle Deprivation: Sie tritt auf, wenn, wie oben schon erwähnt, ein Kind bei einer Mutter- Ersatz Person lebt (Pflegemutter), diese aber nicht in der Lage ist, dem Kind die nötige Zuwendung zu geben (bzw. die neue Mutter fremd ist und bleibt). Die Folgen partieller Deprivation können sein:[40]

- Angst
- Exzessive Liebesansprüche
- Kraftvolle Hassgefühle, Schuldgefühle, Depressionen
- Charakterliche Labilität, nervöse Störungen (gestörte Beziehungen)

2.) Die totale Deprivation entsteht, wenn die Mutterfigur ganz fehlt, das Kind z.B. seit der Geburt in Institutionen lebt, und es deshalb in den ersten drei Lebensjahren einen völligen Mangel an Gelegenheiten zur Bildung einer Mutter- Kind- Bindung erfahren hat. Oder wenn das Kind nur eine begrenzte Zeit der Mutter- Entbehrung erlitten hat, länger als drei Monate, in den ersten drei Lebensjahren. Und wenn es zudem in diesem Zeitraum einen häufigen Wechsel der Mutterfigur erfuhr. Die totale Deprivation hat auf die charakterliche Entwicklung einen noch tieferen Einfluss, als die partielle Deprivation. Sie kann den Aufbau eines Kontaktes zu anderen Menschen ganz verhindern. Kinder die unter einer totalen Deprivation leiden, zeigen unter anderem Merkmale auf, wie z.B.:[41]

- Oberflächlichkeit der menschlichen Beziehung
- Kein echtes Gefühl, keine Fähigkeit, sich um andere zu kümmern oder echte Freundschaften zu schließen (eine Unzulänglichkeit, die alle zur Verzweiflung bringt, die ihm helfen wollen); keine gefühlsmäßige Reaktion in Situationen, wo sie normal wären
- Ein seltsamer Mangel an Mitgefühl
- Hinterhältiges und ausweichendes Verhalten
- Teilnahmslosigkeit
- Stehlen
- Konzentrationsschwäche in der Schule

Eine Studie an 102 jugendlichen Delinquenten im Alter von fünfzehn bis achtzehn Jahren zeigte deutlich, dass sie aus unbefriedigten frühkindlichen Beziehungen Ängste entwickelten, die sie später in antisozialer Weise auf Anforderungen reagieren lässt. Die meisten der frühkindlichen Ängste waren typische Folgen der erfahrenen Mutter- Entbehrung.[42]

Es gibt zahlreiche Untersuchungen, bei denen sich noch weitere Folgen der Deprivation herausgestellt haben. Diese alle in unserer Diplom- Arbeit vorzustellen, würde allerdings den Rahmen dieser Arbeit sprengen.

Abschließend ist festzuhalten, dass sogar ernsthafte Schäden bei einem Kind bis zu einem gewissen Grad gebessert werden können, wenn der Zustand der Deprivation beseitigt wird. Die Betonung liegt auf „bis zu einem gewissen Grad“, denn die auf den verschiedenen Gebieten auftretenden Störungen sind auch nur verschieden gut zu heilen. Einige Schäden sind augenfälliger und leichter zu beobachten als andere, die sich nicht so deutlich zeigen, aber schwerer gebessert werden können. Störungen der Sprache, des Abstraktionsvermögen und den Verlust der Fähigkeit, starke und dauerhafte Beziehungen einzugehen sind oftmals nicht vollständig zu heilen. Voraussichtlich zeigen sich einige anhaltende Spätfolgen nur unter bestimmten Voraussetzungen, unter Umständen erst im späteren Leben, wenn krankhafte Entwicklungsstörungen reaktiviert und offenkundig werden, die durch eine frühzeitige Deprivation entstanden sind, aber bis zu diesem Zeitpunkt verborgen blieben. So sind mögliche spätere Folgen einer Deprivation unter anderem:[43]

- Depressionen
- Hysterie
- Angst
- Unangepasste Persönlichkeitsstruktur
- Keine Gewissens- Bildung
- Fehlen der Fähigkeit zur Selbstkontrolle
- Verhalten impulsiv

Resümierend lässt sich sagen, dass die geschilderten Folgen einer Deprivation nicht zwingend bei jedem Kind auftreten. In der Forschung wird diskutiert, ob Erbfaktoren eine Rolle spielen. Ausschlaggebend für eine Deprivation sind allerdings das Alter des Kindes während der Deprivation, sowie die Dauer und der Grad der Deprivation.[44]

5 Die Integration des Kindes in die Pflegefamilie

Das Ziel der Integrationen eines Kindes in eine Ersatzfamilie ist, neue tragfähige Eltern-Kind-Beziehungen zu entwickeln, denn diese Beziehungen sind die Grundlage für die individuelle Entwicklung des Kindes. Wie aber gelingt eine Integrationen bei Kindern, die in ihrer Vergangenheit viele Abbrüche und Enttäuschungen im Hinblick auf Beziehungen und Bindungen erlebt haben?

Allgemein verläuft die Integration eines Kindes in die Ersatzfamilie leichter, je jünger ein Kind ist. Ausgehend von der Bindungstheorie nach Bowlby kann gesagt werden, dass ein Kind, das im Säuglingsalter in eine Pflegefamilie aufgenommen wird, ohne weitere Hindernisse eine neue Bindung aufbauen kann. Wie steht es aber mit der Entstehung und dem Aufbau von Bindungen bei den Kindern, die im bereits bindungsfähigen Alter (also ab der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres) aus der Herkunftsfamilie herausgenommen und in eine Pflegefamilie gegeben werden? Denn besonders ältere Pflegekinder haben unter Umständen mehrere Beziehungsabbrüche erlebt und sind neuen Bindungen gegenüber misstrauisch.

Eine Chance für diese älteren Kinder sind ihre kindlichen Bedürfnisse nach Sicherheit, Versorgung, Schutz und Zugehörigkeit, die sie in die Lage versetzen, neue persönliche Beziehungen einzugehen. Wie aber bringen sie diese Bedürfnisse zum Ausdruck? Da sie oft in ihrer Herkunftsfamilie die Erfahrung gemacht haben, dass ihre Bedürfnisse nicht anerkannt, akzeptiert oder befriedigt werden konnten, werden sie diese in der Ersatzfamilie zunächst nicht äußern. Diese Kinder werden in ihrer neuen Familie laut Nienstedt und Westermann (1992) zunächst sehr in ihrer Aktivität eingeschränkt sein, solange sie nicht genügend Sicherheit erfahren haben, dass sie eine Befriedigung ihrer Bedürfnisse erwarten können.

5.1 Bedingung für eine Förderung von Integration

Wird ein Kind in einer Pflegefamilie aufgenommen, so bedarf es bestimmter Umstände, damit das Gelingen der Inpflegegabe nicht gefährdet wird. Wichtig ist z.B. die Persönlichkeit, das Bindungsniveau und die wirtschaftliche Situation der zukünftigen Pflegeeltern. Aber auch das Pflegekind selbst, seine Persönlichkeit und seine bisherigen Erfahrungen in seiner Herkunftsfamilie bzw. eventuelle Heimerfahrungen, denn nicht jedes Kind passt in jede Pflegefamilie.

Auch andere Details sollten bei einer Aufnahme eines Pflegekindes beachtet werden, wie z.B. die „neuen“ Geschwister.

Es gibt viele Bedingungen, die eine Aufnahme eines Kindes in eine Ersatzfamilie positiv oder negativ beeinflussen können. Im Folgenden stellen wir einige Bedingungen vor. Wir beginnen mit der Auswahl der Pflegeeltern, anschließend befassen wir uns mit der Geschwisterkonstellation; es folgt der wichtige und notwendige Kontakt zwischen Kind und Herkunftsfamilie und zum Schluss beschäftigen wir uns mit dem Pflegekind selber.

5.1.1 Die Pflegeeltern

Ist vorgesehen ein Kind in die Obhut einer Pflegefamilie zu geben, muss das Vorhandensein bestimmter Vorraussetzungen bei den zukünftigen Pflegeeltern überprüft werden.

Als erstes gilt es, die Motivation der Pflegeeltern aufzuspüren. Aus welchem Grund wünschen sie sich die Aufnahme eines Pflegekindes? Ungünstige Gründe wären z.B., wenn die Pflegeeltern das Kind als Ersatz für ein eigenes verlorenes Kind wünschen oder wenn sie lediglich einen „Spielkameraden“ für ihr eigenes Kind wollen.[45]

Viele künftige Pflegeeltern wünschen sich ein Pflegekind um ihm zu helfen und seine Lebenssituation zu verbessern. R. Plinke/ I. Sell und H. Sell (1979)[46] bezeichnen diese Pflegeeltern mit einem „Helfer- Konzept“. Allerdings, so betont sie, seien diese Pflegeeltern oft besser in der Lage auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen, als die oben erwähnten:

Pflegeeltern mit einem ’Helfer- Konzept’ sehen sich einer mehr professionellen Erzieherrolle dem Kind gegenüber. Ihre Motivation, ein Pflegekind aufzunehmen, geschieht nicht so sehr aus einem Leidensdruck heraus, als aus dem Bedürfnis zu helfen. Dementsprechend orientiert sich die Erziehung des Kindes nicht in erster Linie an den eigenen Erwartungen, sonder an den Notwendigkeiten des Kindes.“ [47]

Der Wunsch, zu helfen, kann seinen Ursprung auch im christlichen Glauben der Pflegeeltern haben.

Zu den Bedingungen, die an die zukünftigen Pflegeeltern gestellt werden, gehört z.B., dass der Altersunterschied zwischen Pflegekind und Pflegeeltern dem natürlichen Eltern- Kind- Verhältnis entsprechen sollte. Die Volljährigkeit der Eltern wird vorausgesetzt, günstig ist, auch wenn mindestens ein Elternteil das fünfundzwanzigste Lebensjahr vollendet hat und der Partner mindestens das einundzwanzigste Lebensjahr. Das Höchstalter der Pflegeeltern liegt bei dreiundsechzig Jahren.[48]

Neben der Motivation der Pflegeeltern gibt es noch eine Reihe weiterer Gründe, denen Beachtung geschenkt werden sollte. Das eine Pflegeelternschaft oft zeitlich begrenzt ist, muss den Pflegeeltern eindeutig vermittelt werden. Außerdem muss den Pflegeeltern klar sein, dass in den meisten Fällen Kontakte zwischen Kind und Herkunftsfamilie bestehen bleiben. Bestehende Bindungen des Kindes müssen also gefördert und akzeptiert werden. Dazu gehört, dem Kontakt zu den leiblichen Eltern den notwendigen Stellenwert einzuräumen und jederzeit mit einer Rückführung des Kindes in seine Herkunftsfamilie zu rechnen. Besonders über diesen Fall müssen die Pflegeeltern aufgeklärt werden.

Zudem müssen die Pflegeeltern bestimmten Krisensituationen sowie belastenden Konfliktsituationen gewachsen sein. Das Erziehungsverhalten der Pflegeeltern sollte von Einfühlungsvermögen in die individuelle Lebensgeschichte des Pflegekindes geprägt sein. Bedürfnisse und eventuell vorhandene Entwicklungsregressionen sollten berücksichtigt werden können um darauf förderlich agieren zu können.

Die Pflegeeltern müssen bereit sein, mit dem zuständigen Sozialpädagogen zu kooperieren und auch zu kommunizieren. Es wäre von Vorteil, wenn die Pflegeeltern über eine Kompetenz verfügen, die es ihnen erleichtert, ihr eigenes Handeln in bezug auf das Pflegeverhältnis zu reflektieren. Die Pflegeeltern sollten darüber hinaus auch das Handeln anderer beteiligter Familienangehöriger (falls gegeben) reflexiv betrachten können, um offen und ehrlich die gesamte Familiensituation zu beleuchten und damit gegebenenfalls auch Veränderungen innerhalb der Familie anzustreben. Des Weiteren sollten sie aktiv mit dem zuständigen Fachdienst des Jugendamtes zusammenarbeiten. Insbesondere ihre Mitarbeit an der Gestaltung des Hilfeplans nach § 36 SGB VIII zur Erarbeitung von Perspektiven für das Pflegekind ist gefordert.[49]

Die Pflegeeltern sollten anderen sozialen Schichten Toleranz entgegenbringen. Nach Bowlby (2001) stellen zu große Unterschiede im Lebensstandard und im sozialen Status eine zu hohe Belastung für das Pflegekind dar und bei den leiblichen Eltern führen sie zu Ressentiments und Eifersucht.

Soweit es möglich ist, sollten Pflegeeltern auch aus einer ähnlichen Kultur oder Nationalität wie die des Pflegekindes stammen. Ist das nicht so, sollten die Pflegeeltern die Kultur und Religion des Kindes akzeptieren und ihm auch Freiraum in deren Gestaltung lassen.[50]

Die finanzielle Situation der Pflegeeltern sollte angemessen sein um die Bedürfnisse des Pflegekindes erfüllen zu können. Ebenso sollte auch berufliche Beschäftigung gegeben sein. Regelmäßige Arbeitszeiten z.B., wirken sich positiv auf die Gestaltung des Alltages mit dem Pflegekind aus.

Die Partnerschaft der zukünftigen Pflegeeltern muss möglichst stabil und belastbar sein.

Die künftigen Pflegeeltern müssen flexibel in ihrer Zeiteinteilung und verkehrstechnisch mobil sein. Oft sind mit den Pflegekindern Termine wahrzunehmen, wie etwa Arztbesuche, Therapiestunden oder Besuchskontakte zur leiblichen Familie.

Die gesundheitliche Situation der Pflegeeltern muss so stabil sein, dass sie die Arbeit mit einem Pflegekind nicht beeinträchtigt.

5.1.2 Die Geschwisterkonstellation

Die Geschwisterkonstellation spielt eine erhebliche Rolle bei der Integration und der Entwicklung eines Pflegekindes. Eine Reihe von Untersuchungen beweist, dass die Geschwisterkonstellation einen gravierenden Einfluss auf das Ge- oder Misslingen der Integration eines Pflegekindes in eine Pflegefamilie hat. Dennoch finden sich in der Literatur kaum differenzierte Aussagen zu dieser Problematik, daher orientieren wir uns zum größten Teil in den nachstehenden Ausführungen an Nienstedt und Westermann (1992).

Zunächst muss betont werden, dass Geschwisterbeziehungen zweifellos einen prägenden Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes darstellen. Sie sind allerdings nicht die Grundlage für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung- und Strukturierung. Diese wird in der Eltern- Kind- Beziehung gelegt und ist somit der Geschwisterbeziehung vorgeordnet.[51]

Zunächst gilt es als positiv, Geschwisterkinder in eine Pflegefamilie aufzunehmen. Zu Anfang des Pflegeverhältnisses können Geschwister eine entlastende Funktion übernehmen. Sie schaffen gerade, wenn die Kinder negative, angsterzeugende und frustrierende Erfahrungen mit ihren leiblichen Eltern gemacht haben, Schutz vor zu dichten Beziehungen zu den Pflegeeltern. Denn sie haben die Möglichkeit, sich in ihre sichere Geschwisterbeziehung zu flüchten. Dies birgt jedoch auch den Nachteil, dass dadurch Beziehungen zu den Pflegeeltern verhindert werden können und sich das Pflegekind in eine zu hohe Konkurrenz zu den Geschwistern begibt. Das Pflegekind kann sich so nicht auf eine Beziehung zu den Pflegeeltern einlassen, und eine Integration wäre somit unmöglich.

In der Regel sind Pflegeeltern mit der Aufnahme von zwei Pflegekinder zum gleichen Zeitpunkt überfordert, so dass die Aufnahme von Geschwisterkindern besser nacheinander erfolgen sollte.[52]

Blandow[53] betont, dass die Integration eines Pflegekindes am besten gelingt, wenn in der Pflegefamilie keine weiteren Kinder vorhanden sind. Das Pflegekind steht so einzig im Zentrum der Pflegeeltern und muss sich auch keiner Konkurrenz zu Geschwistern aussetzen.

Äußerst ungünstig erweist es sich, wenn ein leibliches Kind der Pflegeeltern noch sehr klein ist. Schon ein leibliches Kind erlebt die Geburt eines neuen Geschwisterkindes zunächst als belastend und irritierend, da es dadurch die sichere Beziehung zu den Eltern als gefährdet ansieht. Ähnlich ist das bei der Aufnahme eines sehr kleinen Pflegekindes. Es ist sogar in einer noch schwächeren Position, da es noch keinen Beziehungsaufbau zu seinen Pflegeeltern hat. Das Pflegekind erlebt so, das leibliche Kind ganz besonders als Rivale/in. Verschärft wird diese Problematik, wenn die Pflegekinder und leiblichen Kinder altersmäßig sehr dicht beieinander sind. Die Interessen- und Bedürfnislage der Kinder ist dann so gleich, dass sich dadurch vermehrt Rivalitätskonflikte bilden können. Daher sollte bei der Aufnahme eines Pflegekindes darauf geachtet werden, dass das Pflegekind in einer quasi „natürlichen“ Abfolge zu den leiblichen Kindern steht. Der Altersunterschied sollte hinreichend groß sein, als günstig erweist sich eine Abfolge von drei bis vier Jahren.[54]

Bis zur Aufnahme eines weiteren Pflegekindes sollten auch mindestens drei Jahre vergehen. Denn nach dieser Zeit ist der Integrationsprozess eines Pflegekindes abgeschlossen, so dass sich ein neues Pflegekind nicht negativ darauf auswirken kann.[55]

Eine Schwangerschaft und die Geburt eines leiblichen Kindes während der Integrationsphase eines Pflegekindes kann zu erheblichen Rückschritten in der Integration führen. Es führt in der Regel zu Krisen im Beziehungsaufbau zu den Pflegeeltern und es können sich starke Aggressionen, besonders gegenüber der Pflegemutter und dem erwarteten Kind, aufbauen.

Über diese Situation sollten die zukünftigen Pflegeeltern im Vorfeld aufgeklärt werden:

„Um diesen Risiken vorzubeugen, erscheint es uns wichtig, vor der Aufnahme eines älteren Dauerpflege- oder Adoptivkindes mit den Eltern zu besprechen, ob sie bereit sind, ihren Wunsch nach einem leiblichen Kind in Abhängigkeit von den Entwicklungsschritten des aufgenommenen Kindes aufzuschieben und aktive Schwangerschaftsverhütung zu betreiben(…)“.[56]

Wird ein Kind in eine Pflegefamilie aufgenommen, in der schon andere Kinder leben, kommt es zwangsläufig zu erhöhten Konflikten und Rivalitäten. Für die leiblichen Kinder bedeutet das in aller Regel, neben einem Gewinn (so haben sie z.B. einen neuen Spielkameraden), auch das Aufgeben von Besitzständen. Die Zeit der Eltern muss nun auf mehrere Kinder verteilt werden und die leiblichen Kinder sind sich, ähnlich wie bei einer Geburt eines neuen Kindes, unsicher über ihre Beziehung zu den Eltern.[57]

Auch Bowlby (2001) ist der Ansicht, dass sich junge Kinder unter zehn Jahren nicht besonders gut eignen für ältere Pflegeeltern, da der Generationsunterschied zu hoch ist.

Gibt es in der Pflegefamilie bereits ein leibliches Kind im gleichen Geschlecht und Alter des Pflegekindes, wirkt sich das ungünstig innerhalb der Familie aus, da sich Eifersucht und Rivalitäten entwickeln können.

5.1.3 Die Herkunftseltern

Ein Grundprinzip nach John Bowlby lautet:

„Eine völlige Trennung zwischen dem Kind und seiner Familie ist unmöglich“.[58]

Diesem Thema gehen wir nun nach. Dabei stellen wir kurz dar, unter welchen Umständen ein Kontakt zur Herkunftsfamilie für die Pflegekinder förderlich oder auch völlig ungeeignet sein kann.

Die Integration des Kindes in seine Pflegefamilie wird erleichtert, wenn sich die leiblichen Eltern und Pflegeeltern gegenseitig anerkennen und akzeptieren. Über die wesentlichen Erziehungsziele- und Strategien sollten sie sich einig sein, sowie abweichende Normen, Werte und Verhaltensweisen tolerieren. So kann vermieden werden, dass sich in dem Kind Loyalitätskonflikte ausbilden, die zur Verunsicherung seiner Zugehörigkeit führen.[59]

Bei Säuglingen und Kleinkindern, aber auch bei älteren Kindern mit traumatischen familialen Sozialisationserfahrungen sind Kontakte zur Ursprungsfamilie nicht immer angebracht. Wenn eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung des Kindes nicht gefährdet werden soll, sollten die leiblichen Eltern schrittweise den Anspruch ihre Elternrolle und somit ihre elterliche Funktion an die Pflegeeltern abgeben. Die leiblichen Eltern sollten in der Lage sein, zu tolerieren, dass ihr Kind nun allmählich eine Eltern- Kind– Beziehung zu den Pflegeeltern entwickelt und sie in den Hintergrund treten. Andererseits müssen die Pflegeeltern akzeptieren, dass das Kind seine alte Familienidentität bewahrt.

Unter bestimmten Bedingungen ist das Aufrechterhalten des Kontaktes des Pflegekindes zu seiner Herkunftsfamilie denkbar und verläuft zumeist unproblematisch. Das ist dann der Fall, wenn ein Kind in den ersten Jahren bei seinen leiblichen Eltern aufgewachsen ist und zu ihnen tragfähige Bindungen aufgebaut hat. Die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes sollte dabei ohne erwähnenswerte Störungen erfolgt sein und zu einem vorläufigen Abschluss gekommen sein. Die Eltern sollten dem Kind ein Vorbild sein, an dem sich das Kind in seiner Entwicklung orientieren kann:

Damit ist gemeint, dass das Kind die ödipale Phase erfolgreich bewältigt haben sollte, einen sicheren Ort im Familiensystem gefunden hat, auf der Basis einer positiven Identifikation mit den Eltern und deren Normen und Werte internalisiert hat und sich sein Ich- Ideal, d.h. die Vorstellung, wie es gerne sein möchte, am Vorbild der Eltern erreicht hat“.[60]

[...]


[1] vgl. dazu ausführlich Jordan,1996

[2] vgl. dazu ausführlich Spangler/Zimmermann, 1999

[3] vgl. dazu ausführlich Nienstedt/Westermann, 1992

[4] vgl. Loch/Rosenthal, 2002

[5] Beneker, 2003 MS, S. 23

[6] vlg. dazu ausführlich Statistisches Bundesamt 2002

[7] siehe Malter/Eberhard, 2001, S. 227

[8] vgl. dazu Münder, 2000

[9] vgl. Kindschafts- und Familienrecht Textsammlung, 1998 S. 223

[10] vgl. Münder, 2000 S. 121

[11] vgl. Kindschafts- und Familierecht Textsammlung, 1998 S. 223

[12] vgl. dazu ausführlich Salgo, 2001 S. 63

[13] siehe auch Jordan, 1996, S. 14 ff

[14] siehe S. 45

[15] vgl. Kindschafts- und Familienrecht, Textsammlung, 1998, S.45

[16] vgl. Kindschafts- und Familienrecht, Textsammlung, 1998 S.104

[17] vgl. Kindschafts- und Familienrecht, Textsammlung, S.104

[18] Kindschafts- und Familienrecht, Textsammlung, S.104

[19] Fremmer-Bombik, 1999 S. 109 zit. nach Bowlby 1979

[20] Bretherten, 1999 S. 31

[21] Bretherten, 1999 S. 31 zit. nach Baltz 1940

[22] vgl. dazu Bretherton, 1999 S. 30

[23] vgl. dazu Fremmer-Bombik, 1999

[24] siehe Fremmer- Bombik, 1999 S. 109

[25] http://www pflegekinder.ch/pdf/kindeswohl.pdf

[26] vgl. Fremmer- Bombik, 1999 S.109

[27] vgl Fremmer- Bombik, 1999 S.109

[28] siehe Fremmer-Bombik, 1999

[29] vgl. Bretherton, 1999, S.41

[30] vgl. Fremmer- Bombik, 1999, S.114

[31] vgl. dazu Fremmer-Bobik,1999 nach Main, 1985

[32] 1999, S. 114 nach Main, 1993

[33] siehe Fremmer- Bombik, 1999 S.114

[34] vgl. Fremmer-Bombik, 1999, S. 115

[35] siehe Fremmer- Bombik, 1999

[36] siehe Fremmer- Bombik, 1999, S. 116

[37] vgl. dazu Fremmer- Bombik, 1999 S.116

[38] vgl. Fremmer- Bombik, 1999 S. 116-117

[39] Dudenredaktion, 2001, S. 210

[40] Bowlby, 2001, S. 12

[41] Bowlby, 2001, S. 30

[42] vgl. dazu ausführlich Bowlby 2001 S. 12

[43] dazu ausführlich Bowlby, 2001, S. 46

[44] vgl. dazu Bowlby, 2001 S. 18

[45] vgl. dazu ausführlich I. Sell /H. Sell, 1979, S. 30

[46] zit. nach Blandow 1972

[47] vgl. Sell /Sell, 1979 S. 31-32

[48] http://www.pflegeelternschule.de

[49] http://www.pflegeelternschule.de

[50] http://www.pflegeelternschule.de

[51] vgl. dazu ausführlich Nienstedt / Westermann, 1992, S. 259

[52] vgl. dazu Nienstedt / Westermann, 1992 S. 260ff

[53] Nienstedt/Westermann, 1992, nach Blandow 1972, S. 262

[54] siehe Nienstedt/Westermann, 1992, S. 263

[55] vgl. dazu Nienstedt / Westermann, 1992, S. 261 ff

[56] Nienstedt / Westermann,1992, S.264

[57] vgl. dazu Nienstedt / Westermann, 1992, S. 264

[58] Bowlby, 2001, S. 113

[59] vgl. Nienstedt / Westermann, 1992, S.182

[60] Nienstedt/Westermann, 1992, S. 181

Ende der Leseprobe aus 146 Seiten

Details

Titel
Auf der Suche nach.... Junge Erwachsene, die in einer Pflegefamilie aufgewachsen sind - Empirische Erhebung anhand narrativer Interviews
Hochschule
Fachhochschule Bielefeld  (FB Sozialpädagogik)
Note
1,7
Autoren
Jahr
2003
Seiten
146
Katalognummer
V20470
ISBN (eBook)
9783638243346
Dateigröße
966 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Suche, Junge, Erwachsene, Pflegefamilie, Empirische, Erhebung, Interviews
Arbeit zitieren
Solveig Kloß (Autor:in)Daniela Haack (Autor:in), 2003, Auf der Suche nach.... Junge Erwachsene, die in einer Pflegefamilie aufgewachsen sind - Empirische Erhebung anhand narrativer Interviews, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/20470

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