Wege ins Nichts: Über die Isolation in Klaus Manns Werk


Magisterarbeit, 2008

78 Seiten, Note: 2,2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

0 Einleitung

1 Der fromme Tanz
1.1 Künstlerische Isolation
1.2 Tanz und Körperlichkeit
1.3 Eins-Werdung

2 Treffpunkt im Unendlichen
2.1 Do
2.2 Froschele
2.3 Dr. Massis
2.4 Richard
2.5 Sylvester und Sebastian
2.6 Greta
2.7 Sebastian und Sonja

3 Flucht in den Norden
3.1 Johanna und Ragnar
3.2 Karin

4 Symphonie Pathétique
4.1 Melancholie und Unrast
4.2 Homosexualität
4.2.1 Apuchtin
4.2.2 Wladimir
4.3 Tschaikowskys Verhältnis zu Frauen
4.3.1 Antonina
4.3.2 Nadeshda
4.4 Künstlerische Isolation

5 Der Vulkan
5.1 Der Schachspieler
5.2 Anna
5.3 Martin und Kikjou
5.4 Marcel
5.5 David
5.6 Benjamin
5.7 Tilly
5.8 Marion
5.9 Marie-Luise
5.10 Tilla
5.11 Friederike

6 Die Erzählungen aus dem Exil
6.1 Letztes Gespräch
6.2 Vergittertes Fenster
6.3 Speed
6.4 Afrikanische Romanze

7 Schlussbetrachtung

8 Siglenverzeichnis

9 Literaturverzeichnis

0 Einleitung

Die Isolation zählt zu den zentralen Motiven im Werk Klaus Manns. Sowohl in seinem Früh- als auch in seinem von der Literaturwissenschaft stärker beachteten Exilwerk wird auf der Ebene des Oberflächen- und Tiefendiskurses vermittelt, dass die Charaktere spezifischen Isolationsformen ausgesetzt sind, die durch unterschiedliche Ursachen hervorgerufen werden und unterschiedliche Lebensbereiche betreffen.

In dieser Arbeit definiere ich Isolation als Ausgrenzung eines Individuums aus der Gesellschaft seiner Mitmenschen, die durch äußere und manchmal auch innere Umstände herbeigeführt wird. Demnach beziehe ich in den Isolationsbegriff auch die Selbstisolation mit ein (die beispielsweise durch Melancholie hervorgerufen wird). Selbstisolierung tritt im Werk Klaus Manns allerdings vornehmlich in Verbindung mit einer durch äußere Umstände herbeigeführten Isolation in Erscheinung.

Um ein „Motiv“ handelt es sich bei der Isolation in Klaus Manns Werk insofern, als sie ein Situationsmuster darstellt, das in der Art eines Schemas immer wieder in seinem ganzen Werk begegnet und nicht von einem spezifischen Raum-Zeit-Personen-Kontext bestimmt wird (als Abgrenzung zum „Stoff“-Begriff). Zudem treten spezifische Formen der Isolation in Erscheinung, bedingt beispielsweise durch die Faktoren Homosexualität, Melancholie oder Politik, die eher eine Betrachtung als Motiv denn als Thema nahelegen.

Zu den Werken, die ich bei einer Untersuchung auf Isolationsmotive für besonders geeignet halte, zählen Der fromme Tanz, Treffpunkt im Unendlichen, Flucht in den Norden, Symphonie Pathétique, Der Vulkan sowie eine Reihe an Exilerzählungen, darunter auch Vergittertes Fenster.

In den meisten Romanen erwächst aus dem Spannungsverhältnis zwischen Homosexualität und gesellschaftlichen Normen die Tendenz, sich von der umgebenden Gesellschaft zu distanzieren – am deutlichsten in Symphonie Pathétique.

Zudem führt in sämtlichen hier untersuchten Romanen sowie in der Erzählung Vergittertes Fenster der homosexuelle Eros nicht zur Erfüllung des Liebesbedürfnisses. Resultierend daraus flüchten sich die meisten der betreffenden Charaktere entweder direkt in den Tod oder zunächst in den Drogenkonsum, der jedoch teilweise ebenfalls zum Tod führt.

Neben dem zentralen Motiv der Homosexualität wird die Isolation auch durch künstlerische bzw. politische Einstellungen der Charaktere herbeigeführt. So fühlt sich die literarische Figur Tschaikowsky nicht nur aufgrund ihrer Homosexualität in nahezu jedem gesellschaftlichen Umfeld fremd, sie fühlt sich darüber hinaus auch künstlerisch von Teilen ihres Publikums missverstanden. Weitere Werke, in denen eine künstlerische Isolation in Erscheinung tritt, sind Der fromme Tanz sowie Der Vulkan. Politische Motivationen lassen sich als Grund hingegen besonders deutlich in Flucht in den Norden, Der Vulkan und Treffpunkt im Unendlichen aufzeigen. Zudem spielt die jüdische Herkunft einiger Charaktere in Der Vulkan eine bedeutende Rolle. Hier ist es die Emigration, die einen deutlichen Teil zur Isolation zahlreicher Charaktere beiträgt, in Treffpunkt im Unendlichen ist es hingegen der Alltag in einer mehr und mehr faschistisch durchdrungenen Gesellschaft. In Flucht in den Norden sowie der Kurzgeschichte Letztes Gespräch wiederum spielt der Konflikt zwischen Privatleben und politischem Kampf eine Schlüsselrolle. Eine sinnliche, auf Körperlichkeit basierende Lebenseinstellung treibt den Protagonisten in Der fromme Tanz in die Isolation. Drogenkonsum und Drogenabhängigkeit spielen in erster Linie in Treffpunkt im Unendlichen, Der Vulkan sowie den Erzählungen Speed und Afrikanische Romanze eine prägnante Rolle. Zudem tritt das Isolationsmotiv in vielen Werken Klaus Manns – besonders explizit in Treffpunkt im Unendlichen – in Verbindung mit der Individuationstheorie in Erscheinung.

Somit werden folgende zwei Thesen Ausgangspunkt dieser Arbeit sein:

1. Sowohl auf der Ebene des Oberflächen- als auch des Tiefendiskurses treten in den hier genannten Werken Klaus Manns Isolationsmotive in Erscheinung. Diese entstehen durch Faktoren wie politische und künstlerische Einstellung, jüdische Herkunft, Melancholie, Rastlosigkeit, Körperlichkeit, Homosexualität und – daraus resultierend – Drogenkonsum. Zudem stellt sich die Isolation in seinen Werken auch als Resultat einer grundsätzlichen Körpertrennung dar, die Bestandteil der Individuationstheorie ist.
2. In diesen Werken ist das Resultat der Isolation die Einsamkeit, die die Charaktere durch Liebe zu überwinden versuchen. Hat dieser Versuch jedoch nicht den gewünschten Erfolg, so isolieren sie sich weiter (beispielsweise durch Flucht in den Drogenkonsum), bis sie nur noch den Tod als letzten Ausweg sehen.

Auch in Klaus Manns Autobiografie Der Wendepunkt findet sich eine Vielzahl der aufgelisteten Motive wieder. Da die Parallelen zwischen Autobiografie und seinen weiteren Werken schnell zu einer Fokussierung auf die Person Klaus Mann führen, diese Arbeit jedoch eine Untersuchung der Werke zum Ziel hat, werden meine Bezugnahmen auf den Wendepunkt nur sporadischer Art sein. Ich halte es jedoch auch in einer Werkanalyse für wenig sinnvoll, diese Autobiografie zu ignorieren, da sie eines der wichtigsten literarischen Werke im Schaffen Klaus Manns darstellt. Ich werde mich dem Wendepunkt also eher unter literarischen und weniger biografischen Gesichtspunkten zuwenden. Allerdings werde ich diesem Werk aufgrund der Tatsache, dass es in dieser Arbeit nur eine kontrastive Funktion gegenüber den anderen literarischen Werken besitzt, keinen eigenen Abschnitt widmen, sondern lediglich in den Roman- und Erzählungskapiteln ergänzend darauf Bezug nehmen.

1 Der fromme Tanz

Das 1925 entstandene Werk Der fromme Tanz ist der erste Roman des damals 19-jährigen Klaus Mann. Bereits hier zeichnen sich die Motive ab, die im Verlauf seiner Schriftstellerkarriere zu einem festen Bestandteil seines künstlerischen Schaffens wurden: Einsamkeit, Isolation und Homosexualität. Da der Roman jedoch in der Literaturwissenschaft eher den Stellenwert eines nur bedingt geglückten Frühwerks besitzt, fällt die Anzahl wissenschaftlicher Annäherungen bislang vergleichsweise überschaubar aus. Zudem hat auch der im Vergleich zum Exilwerk weniger politische Charakter der Frühwerke Klaus Manns zu einem geringeren Interesse der Literaturwissenschaft geführt (Schaenzler 1995, S. 10).

Trotz der teilweisen künstlerischen Mängel halte ich es für sinnvoll, den frommen Tanz in dieser Arbeit zu untersuchen, da die bereits erwähnten Motive den Roman im Rahmen von Klaus Manns Gesamtwerk zu einem durchaus bedeutsamen Bestandteil meiner Forschungsfrage werden lassen.

1.1 Künstlerische Isolation

Bereits hier findet ein Motiv Verwendung, das auch in Klaus Manns späteren Romanen Treffpunkt im Unendlichen, Symphonie Pathétique und Der Vulkan verarbeitet wird: das Motiv der künstlerischen Isolation, also einer auf künstlerischen Faktoren beruhenden mangelnden Bindung zu den Mitmenschen. Der Jüngling Andreas hat es sich zur Aufgabe gemacht, ein vollendetes Bild zu malen, mit dem er einen Ausdruck seiner Zeit schafft. Die Reaktionen seines sozialen Umfeldes ernüchtern ihn jedoch. So zeigen sich weder sein Vater noch seine potentielle Verlobte Ursula angetan von seiner Arbeit. Letztere unterstellt ihm gar die Aussichtslosigkeit seines Unterfanges:

Ach, Andreas, Gestaltung gibt es nur da, wo dadurch, daß man das eigene Leid, das eigene Pathos zum Gebilde formt, das Pathos und Leiden der ganzen Zeit, der ganzen Generation mitgebildet, mitgeformt werden kann. Unsere Jugend hat gar kein Pathos, unsere Jugend verleugnet feige ihr Leid und will nichts von ihm wissen. Was willst du formen, Andreas? Nur immer deine eine, vereinzelte Seele wird aus deinen Bildern und Versuchen sprechen, und niemand wird dir danken dafür, daß du sie klagen läßt – von den Alten keiner und keiner von den Jungen. (DfT, S. 37)

Aus Kritiken wie dieser erwachsen in Andreas starke künstlerische Selbstzweifel: „Und wenn nun auch diese Bemühung mißlang? Wenn auch in dieser Komposition das wieder nicht atmete und lebte, was er sich seit Wochen in sie zu legen und durch sie zu formen sehnte?“ (DfT, S. 27) Er fühlt sich nicht imstande, seine jugendliche Orientierungslosigkeit, die sich aus der politischen Situation der zwanziger Jahre ergibt, in der Malerei zu verarbeiten:

So war also einer zu schwach gewesen, um aus der Verwirrung die Form zu bannen, die Form des Lebens und die Form des Werkes. So war also einer zu müde gewesen, um aus der Not der Zeit und der eigenen, einmaligen Not, die sich unlösbar ineinander verschlangen, das erlösende Gebild zu schaffen. So hatte einer die Unschuld der Nacht mehr geliebt als diese böse Unruhe der Zeit und welche Zeit wäre unruhiger, gefährlicher, weniger unschuldig gewesen als die unsere? (DfT, S. 40)

Die lähmenden Selbstzweifel rufen in Andreas eine Todessehnsucht hervor, die in einem Suizidversuch resultieren. Bevor er sich jedoch in den Fluss stürzen kann, vernimmt er aus seiner „dunklen Heimat“ (DfT, S. 41), dem Jenseits, eine befehlende Stimme, aufgrund derer er sich dazu entschließt, einen Neuanfang im Leben zu wagen und auf Entdeckungsreise zu gehen:

Und ganz fest, ganz ohne zu zittern schaute sein Blick, der sich also vom Dunkel getrennt hatte, in eine andere Ferne, die irgendwo, hinter der Nacht, zu liegen schien. Voll Abenteuer war diese, voll Lust und Not und Gefahr. (DfT. S. 41)

Er verlässt sein Zuhause und fährt nach Berlin, wo sich in ihm ein Bewusstseinswandel vollzieht. So wendet er sich von seinem rationalen, intellektuell orientierten Lebensstil ab und einem sinnlicheren und freieren Lebensstil zu. Dadurch, dass er den Gedanken an die Erschaffung eines formvollendeten Kunstwerkes aufgibt, bekämpft er die Leiden seiner künstlerischen Isolation:

„Jetzt muß es noch bunt werden“, sagte Andreas und lächelte über der Kohlenskizze. „Es ist nicht viel, ehemals wollte ich den lieben Gott abkonterfeien mit wissensstarren Augen. Das sind nur Marie Therése und Peterchen, die mit Niels spielen. […]“ (DfT, S. 131)

Allerdings setzt er sich durch diesen Lebenswandel einer neuen Form der Isolation aus, die ich im kommenden Abschnitt näher untersuche.

1.2 Tanz und Körperlichkeit

Wie der Titel bereits suggeriert, nimmt der Tanz einen zentralen Platz im Roman ein und tritt dabei mit Isolation und Homosexualität in Erscheinung. Der Tanz als künstlerische Bewegungsform stellt sich hier als Ausdruck des sinnlichen, von rationalen Zwängen losgelösten Lebens dar (Wolfram 1986, S. 28). Andreas, der in Berlin mit dem Tänzer-Milieu in Berührung kommt, fühlt sich in dieser Stadt als Vertreter einer orientierungslosen Nachkriegsjugend zu diesem auf Körperlichkeit, Sinnlichkeit und Bewegungsfreiheit basierenden Lebensstil hingezogen:

Das weiß ich heute, daß ein atmender Mund mehr ist vorm Herrn als ein sprechender. Und daß ein liebender Körper mehr ist als ein wissender Kopf. Und daß ein Tänzer mehr ist vorm Herrn als einer der schreibt oder malt. (DfT, S. 118)

Der Drang nach Bewegungsfreiheit impliziert jedoch auch zwangsläufig die Schwierigkeit im Umgang mit festen, geformten Menschengruppen. So entpuppt sich laut Wolfram der Tanz aufgrund seiner Schwerelosigkeit als „Metapher für Andreas’ Heimatlosigkeit in allen Bereichen, auch bezüglich des Umgangs mit seinen Mitmenschen […].“ (Wolfram 1986, S. 29) Ein gutes Beispiel hierfür liefert die Begegnung zwischen Andreas und dem Gründer eines homosexuellen Bourgeoisie-feindlichen Vereins: Letzterer bittet Andreas um seinen Beitritt, dieser sagt ihm jedoch instinktiv ab, ohne selbst den Grund hierfür zu wissen (DfT, S. 87). Die Reaktion legt den Schluss nahe, Andreas sei aufgrund seiner Vorliebe für Bewegungsfreiheit unfähig, Anschluss an Menschengruppen zu finden, die ihn sozial determinieren. Wolfram hierzu:

Seine Einstellung verhindert im Guten den Eintritt in Organisationen, denen faschistisches Gedankengut nicht fremd ist. Sie legt aber auch den Grundstock für den Ausschluß aus jeglicher Gemeinschaft; Andreas bleibt ein Einzelgänger und Außenseiter […]. (Wolfram 1986, S. 29)

Somit wird Andreas durch seine Hinwendung zum sinnlichen, „freien“ Leben zumindest teilweise gesellschaftlich isoliert. Dass diese Einstellung nicht lebensbindend ist, wird insbesondere durch Paulchen unterstrichen, der als Vollbluttänzer den Prototypen für den nach Sinnlichkeit und Freiheit gierenden Menschen verkörpert:

Er glitt wie vergehend zur Erde, hob sich wieder, reckte sich, spannte sich ganz aus, verzückt, selbst hingerissen von der Bewegung, mit der er die Arme hob, ausstreckte, dehnte, auf den Zehenspitzen hoch oben, wippend, zitternd, vibrierend, als wolle er abfliegen in den Raum, sich steigend lösen ins Nichts […]. (DfT, S. 126)

Durch diese Vorausdeutung wird Paulchens späterer Suizid bereits vorweggenommen, der wiederum die Instabilität und Todesnähe verdeutlicht, die der „tänzerische“ Lebensstil in sich trägt. Allerdings erscheint die „tänzerische“ Lebenseinstellung Andreas’ unumgänglich, da sie als erzwungenes Produkt der Zeitumstände dargestellt wird. So erklärt die in derselben Pension wie Andreas lebende Franziska, dass sie aufgrund ihrer zeitspezifischen Lebensumstände keine Dichterin werden konnte und stattdessen in eine Tanzschule ging:

Aber ich glaube nicht, daß unsere Zeit Dichterinnen am meisten benötigt. […] Niemand kann mir verdenken, daß mir die Fabrikarbeit zu blödsinnig vorkam […] und daß ich dem ergrauten Baron nachfolgte, der mir Avancen machte. Der alte Herr brachte mich, um meiner schönen Beine willen, und weil ich so schwarze Augen hatte, in eine Tanzschule und später ans Kabarett. […] Erst ging ich nur immer umher und hatte meine Verwirrung im Sinn und den einen Gedanken, daß ich ausgesetzt sei und ohne Halt. – Aber später lernte ich die Körper lieben --. (DfT, S. 130)

Dieser eingeschobene Rückschritt macht deutlich, dass die Abkehr vom rationalen Leben zugunsten des sinnlichen bei Franziska durchaus als zwangsläufiges Ergebnis politischer Zeitumstände betrachtet werden muss. Dass Gleiches auch für Andreas gilt, suggerieren Franziskas Worte: „Ich weiß, Andreas, daß es dir ähnlich ergangen ist. Und alleine bist du doch auch. […] Und allen geht es doch ähnlich, wenn sie nur reden wollten […] hier in der Pension – und überall --.“ (DfT, S. 130 f.) Aus diesen Worten geht deutlich hervor, dass die Isolation des nach Sinnlichkeit strebenden Andreas hier kein Einzelschicksal, sondern Ausdruck eines gesellschaftlichen Problems ist.

Laut Schaenzler stellt sich die Isolation der portraitierten Jugend als Abkehr von ihrer Elterngeneration und der Hinwendung zu ablenkendem Zeitvertreib dar:

Statt einer offenen Konfrontation mit der vom Machtstreben und Profitdenken geleiteten Elterngeneration vollzieht sich die Opposition der Jugend im wesentlichen allerdings jenseits der allgemeinen Öffentlichkeit; in Kabaretts, Nachtbars, Homosexuellen- bzw. Transvestitenlokalen sucht sie nach Zerstreuung und Ablenkung, um so ihre Orientierungslosigkeit und dem Bewußtsein, die gültigen Werte und Normen nicht verändern zu können, zu kompensieren. […] Was bleibt, ist das Krisen- und Außenseiterbewußtsein der Heranwachsenden als das integrierende Moment für das Wir-Gefühl der Jugend. (Schaenzler 1995, S. 34)

Diese Form der passiven Unangepasstheit isoliert die Jugend einerseits von der Elterngeneration, schafft andererseits aber auch – wie Schaenzler ausführt – ein spezifisches Gemeinschaftsgefühl der Jugend. Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Charaktere wie Andreas letztlich einsame Menschen sind, da sie zwar einer jugendlichen Gruppierung angehören, die sich jedoch durch Orientierungslosigkeit und mangelndes Bindungsvermögen kennzeichnet. Dies führt zu der paradox anmutenden Erkenntnis, dass Andreas einer Gemeinschaft der Isolierten angehört.

1.3 Eins-Werdung

Als sich Andreas in Niels verliebt und auf diese Weise mit seinen homosexuellen Neigungen konfrontiert wird, sehnt er die Vereinigung mit dessen Körper herbei. Da ihm Niels jedoch trotz seiner Liebe fremd bleibt, ist Andreas die „Eins-Werdung“ mit dem Objekt seiner Liebe nicht vergönnt. Stattdessen fühlt er sich auch dem Leben fremd:

Man liebte das Leben in seiner schimmernden Rätselherrlichkeit, und in der Liebe zu des Menschen Leib verdichtete sich alle Liebe zum Leben. Die aber niemals völlig eins werden durften mit dem geliebten Leib, die mußten auch immer Fremdlinge bleiben im großen Leben, in welchem aufzugehen ihre Sehnsucht war. (DfT, S. 152)

Die Textstelle verdeutlicht jedoch zugleich, dass eine Liebes-Vereinigung zweier Menschen prinzipiell möglich ist und hebt sich damit auf interessante Weise von vielen späteren Werken Klaus Manns ab. In diesen (besonders explizit in Treffpunkt im Unendlichen) führt er die These vom „Fluch der Individuation“ aus, der grundsätzlichen Unmöglichkeit, zueinander zu finden (Wolfram 1986, S. 37).

Die in Der fromme Tanz enthaltene Implikation einer möglichen Liebes-Vereinigung kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Klaus Mann bereits in diesem Frühwerk den Schwerpunkt auf die menschliche Isolation legt. So ist Andreas von seinem Liebesobjekt Niels isoliert, wobei zwei Faktoren dazu führen: Zum einen die Tatsache, dass Andreas aufgrund seines Einzelgängerdaseins ein befremdliches Gefühl ihm gegenüber entwickelt und somit distanziert bleibt, zum anderen, weil sich auch Niels ihm entzieht: „[…] dieses fremde, geliebte Antlitz wich zurück und war unfaßlich in seiner Stille.“ (DfT, S. 152) Resultierend aus der Isolation zu Niels, schlussfolgert Andreas, dass eine Liebes-Vereinigung grundsätzlich unmöglich sei und erklärt stattdessen die besitzlose Liebe zu seinem Ziel:

Vereinigung mit dem geliebten Körper ist uns niemals gegeben, des Menschen Körper ist alleine für alle Ewigkeit. Blieb aber diese Liebe, die also auf des Geliebten Besitz verzichtet hatte, groß genug, so konnte sie vielleicht dem geliebten Körper helfen in seiner Einsamkeit. […]

So galt es, einen zu finden, dem man alles gab, ohne ihn zu besitzen, dem man helfend treu blieb bis zum Tod, ohne ihn zu besitzen. Das war das Wunschbild seiner trunkenen Zärtlichkeit, das war seiner mißverstandenen Liebe Sinn und große Lösung: dem ewig fremden Geliebten helfend, erziehend nahe bleiben bis zum Tod. Dann konnte man in Freuden die letzte, geheimnisvolle Stunde begrüßen.“ (DfT, S. 153)

Die Konsequenz aus Andreas’ Fremdheit im Leben ist seine Überzeugung, dem Geliebten trotz nicht geglückter Vereinigung zu dienen, wobei der letzte Satz des Zitats veranschaulicht, dass diese Überzeugung einhergeht mit einer Todessehnsucht des Protagonisten. Je mehr sich Andreas seine Unfähigkeit, mit dem Geliebten zu verschmelzen, vor Augen führt, desto mehr begrüßt er den Tod. Damit werden seine empfundene Einsamkeit und die damit einhergehende Liebesisolation deutlich untermauert. Noch deutlicher wird diese Isolation durch die Geste im Anschluss an seine Überlegungen:

Aber, als habe er mit einem Male alles vergessen, nichts im Grunde verstanden, legte er plötzlich sein Gesicht gegen das kühle Glas der Photographie, so, als wäre dieser Kuß für alles andere köstlicher Ersatz. (DfT, S. 153)

Wie sehr seine Isolation vom homosexuellen Eros bestimmt wird, lässt sich an der Tatsache ablesen, dass einerseits der homosexuelle und in seiner Liebe zu Andreas unerwiderte Tänzer Paulchen den Freitod wählt, andererseits Andreas seiner Homosexualität mit der geplanten Heirat einer Frau (Ursula) abschwört und letztlich das Ende des Romans überlebt. Aus dieser Konstellation ergibt sich die Schlussfolgerung, dass der homosexuelle Eros auf mangelnde gesellschaftliche Akzeptanz stößt und nicht lebensbindend ist.

Andreas’ gesellschaftliche Isolation basiert somit auf gesellschaftlichen Zwängen, die ihm im Allgemeinen aufgrund seines Drangs nach Sinnlichkeit und Bewegungsfreiheit sowie im Speziellen aufgrund seiner Homosexualität Schmerzen bereiten.

2 Treffpunkt im Unendlichen

Klaus Manns 1932 erschienener Roman Treffpunkt im Unendlichen liefert ein düsteres Portrait von Charakteren am „Vorabend“ des Nationalsozialismus. Die Form des „Romans des Nebeneinanders“ ermöglicht es Klaus Mann, eine Vielzahl an Figuren und Handlungssträngen, die teilweise unabhängig voneinander existieren, zu einem einheitlichen Ganzen zu verdichten, um auf diese Weise gesamtgesellschaftliche Probleme offen zu legen (Wolff 1984, S. 84 f.). Eines der zentralen Motive, das die Gesellschaft in Treffpunkt im Unendlichen durchdringt, ist die Isolation, die hier auf den „Fluch der Individuation“ zurückgeführt wird. Vorwiegend wird diese Isolation im Umfeld von Künstlertum, Homosexualität und Drogenkonsum geschildert.

2.1 Do

Das Motiv der Individuation taucht in Treffpunkt im Unendlichen explizit auf und dient als Vorausdeutung für den erfolglosen Kampf zahlreicher Charaktere gegen ihre Isolation. So spricht beispielsweise Do in Gegenwart von Sebastian über die Theorien des Dr. Massis:

Er sagt, der Fluch, den Gott damals über uns verhängt hat – du weißt schon, beim Sündenfall -, bestände darin, daß die ursprüngliche Einheit des Lebens gespalten worden sei. Er nennt es den Fluch der Individuation oder so ähnlich. Einer findet den anderen nicht mehr. Massis behauptet, wir könnten uns überhaupt nicht vorstellen, daß der andere wirklich lebt, daß er seinerseits auch ein Ich ist. So gründlich sind wir voneinander getrennt. Ich finde, das wäre ja nicht so schlimm, wenn nicht gleichzeitig der eine so auf den anderen angewiesen wäre, zu dem er doch keinen Zugang hat, er kann ihn sich nicht einmal vorstellen, genaugenommen existiert er also gar nicht für ihn. Er braucht etwas, dass gar nicht für ihn existiert. So isoliert und dabei so hilfsbedürftig zu sein – das ist doch grässlich […] (TiU, S. 144)

Die Textpassage verdeutlicht, dass Do die Theorie der voneinander getrennten Individuen als ernüchternd empfindet, da sie sich auf ihre Mitmenschen angewiesen fühlt. Die Tragik der Isolation entfaltet sich für sie in dem Spannungsverhältnis aus Zugangslosigkeit zum einen und Hilfsbedürftigkeit gegenüber ihren Mitmenschen zum anderen. Diese Hilfsbedürftigkeit wird in ihrem Leben jedoch nur sehr bedingt gestillt. Durch die Trennung von ihrem Freund Sebastian ist sie seelisch niedergeschlagen, da er der wohl wichtigste Mensch in ihrem Leben war:

„Er war doch das Zentrum“, sagte sie und schnupfte die Tränen; Frau Grete und Richard nickten. Beide überlegten einen Augenblick, was oder wieviel sie eigentlich von Sebastian gehabt hatten, genau berechnet. Es war nicht sehr viel, sie hielten ihn, bei all seiner Liebenswürdigkeit und Weichheit, eher für eine kühle Natur. Trotzdem hatte er, so passiv und nachlässig er war, die geheime Kraft, Menschen zusammenzuhalten. Sie fühlten alle, daß nun, da er fort war, Dinge geschehen könnten, die seine Gegenwart nicht geduldet hätte. (TiU, S. 16)

Die hier beschriebene Fähigkeit Sebastians, Menschen zusammenzuhalten, greift angesichts seines Weggangs das Romangeschehen vorweg: wo bindende Kräfte fehlen, entsteht Isolation. Auf diese Weise werden die Schicksale vieler Romanfiguren bereits vorausgedeutet.

Do’s erstes Stadium der Isolation vollzieht sich also durch ihre Einsamkeit hervorrufende Trennung von Sebastian. Im Gegensatz zu ihrer gemeinsamen Zeit fühlt sie sich nun allein – ein Umstand, der sie in die Fänge des Dr. Massis begibt, deren Passion darin besteht, Menschen zu manipulieren. Dass dieser Kontakt nur eine Kompensation für ihre verlorene Beziehung bedeutet, zeigt folgende Äußerung Do’s gegenüber Sebastian: „Aber dich habe ich mehr geliebt – ganz gewiß habe ich dich viel mehr geliebt als ihn.“

Schließlich wird Do von Dr. Massis Morphium injiziert, was zum zweiten Stadium ihrer Isolation führt. War sie zuvor lediglich von Sebastian schmerzhaft getrennt, so wird sie nun zusätzlich durch ihre Abhängigkeit von Dr. Massis und dem Morphium isoliert. Besonders anschaulich wird dies, als sie Sebastian zur Einnahme des Morphium überredet: „Du mußt auch eine Spritze versuchen. Dann werden wir viel näher beisammen sein –“ (TiU, S. 142) Sie ist bereits so entfremdet vom wirklichen Leben, dass sie glaubt, Sebastian nur über den gemeinsamen Rausch nahe sein zu können. Auf diese Weise unternimmt sie den Versuch, den „Fluch der Individuation“ zu überwinden, was ihr jedoch nicht gelingen kann. Stattdessen bleibt sie alleine zurück und plant, Dr. Massis zu heiraten:

„Er will mich heiraten.“

„Ja“, sagte Sebastian.

Sie sprach langsam weiter: „Ich glaube wohl, ich werde es auch tun müssen. Er kann mit mir machen, was er will. Er hält mich so fest – so, so, so. Und dann ist da noch das Morphium.“ (TiU, S. 144 f.)

Wie der Textstelle zu entnehmen ist, weiß sie sehr wohl um ihre Abhängigkeit, nimmt sie jedoch ohne Gegenwehr hin. Die Gründe dafür sind die folgenden:

Zu ihrem ersten Gatten konnte sie schließlich nicht zurück, nach allem, was sie inzwischen erlebt hatte. Und zu Sebastian auch nicht. Sie hatte sich etwas zu weit hinausgewagt für ihre Verhältnisse. Sich zurückschwindeln war sie die Natur nicht. „Sie ist ein mutiges Kind“, dachte Sebastian. „Ein radikales Kind. Freilich – sie hätte ihre Entschlossenheit besser benutzen können - - Wieviel Energievergeudung in der Welt! Ein so schönes Leben – und wie schlecht verwendet! –“ (TiU, S. 142)

Sie ist von ihren ehemaligen Liebschaften isoliert und befindet sich deshalb in den Fängen des Dr. Massis und des Morphium. Theoretisch könnte sie sich gegen dieses Schicksal auflehnen, tut es jedoch nicht, da sie dazu einen Schritt zurückgehen müsste, was wiederum nicht ihrem Naturell entspricht. Dementsprechend gerät Do nicht nur durch äußere Umstände in ihre Isolation, sondern führt diese auch selbst herbei.

2.2 Froschele

Zum Kreise jener Figuren, die in den Bann des Dr. Massis gezogen werden, gehört auch die Morphium abhängige Froschele. Ebenso wie Do spritzt sie sich die Substanz aufgrund ihrer tiefen Einsamkeit, die sich unter anderem darin zeigt, dass ein Hund ihr wichtigster Wegbegleiter ist: „Er ist halt mein Liebstes. Ich brauch’ ihn.“ (TiU, S. 116)

Die Isolation zu ihren Mitmenschen versucht sie zu überwinden, indem sie sich Gregor Gregori hingibt. Als dieser jedoch ausgerechnet ihren geliebten Hund als Präsent verlangt und sie nicht einwilligt, distanziert er sich von ihr. Daraufhin verliert Froschele endgültig die Bodenhaftung und betäubt ihr einsames Leben mit Morphium:

Froschele konnte kaum essen und schlafen, seitdem sie Gregori nicht mehr sehen durfte. Die Spritze wurde ihr einziger Trost. Einmal die Woche gestattete sie sich, bei Gregori anzurufen, um das alte Dienstmädchen zu fragen, wie es ihm ginge.

„Wie geht es dem Herrn?“ fragte sie.

Die schwerhörige Magd verstand zunächst nicht. Dann antwortete sie: „Danke Fräulein Froschele. Er ist den ganzen Tag nicht zu Haus.“

Diese Augenblicke, während deren sie mit Gregoris Wohnung verbunden war, wurden die einzig glücklichen in Froscheles Dasein, für Wochen. (TiU, S. 136)

Ihre Isolation resultiert somit zum einen aus ihren mangelnden sozialen Kontakten und zum anderen aus ihrer dadurch entstehenden Morphiumabhängigkeit, die sie zusätzlich von der Welt entfremdet.

2.3 Dr. Massis

Im Gegensatz zu den meisten anderen Figuren, nähert sich Dr. Massis keinem seiner Mitmenschen auf emotionaler Ebene. Er bleibt distanziert und gibt nur wenige Informationen über seine wahren Beweggründe preis:

Sein Ehrgeiz war, vieldeutig zu erscheinen, was ihm bei seiner talmudistischen Verschlagenheit nicht übel gelang. Wozu er sich auch bekannte, immer ließ er noch geheime Hintergründe ahnen, niemals war im letzten festzustellen, wo sein Standort war. Was er preisgegeben hatte, nahm er durch ein ironisches Wort wieder zurück, und hatte er sich zu weit hervorgewagt, verhüllte er sich nachher um so gründlicher. (TiU, S. 31)

Mit diesem Verhalten vermeidet er engere emotionale Bindungen zu seinen Mitmenschen und isoliert sich somit von ihnen. Diese Selbstisolation scheint wiederum die Folgereaktion auf eine tiefe Einsamkeit zu sein, die sich unter anderem in seinen Gedanken zur Individuation zeigt. Auch er vertritt die These, Menschen könnten nicht zueinander finden, und ist im Gegensatz zu vielen anderen Figuren gar nicht erst bemüht, den „Fluch der Individuation“ durch die Liebe zu überwinden. Stattdessen versucht er mit Hilfe von Machtausübung seine Isolation zu kompensieren, was auch Wolff anmerkt:

Wie Alexanders Durst nach Macht ist auch seiner durch die Einsamkeit bedingt. Er setzt seinen Willen bei anderen durch, ohne zu erkennen, daß er sich mit der Seele eines anderen nicht verschmelzen kann, indem er von ihr Besitz ergreift – er kann sie dadurch nur zerstören. (Wolff 1984, S. 89 f.)

Indem er seine Mitmenschen manipuliert und von ihm abhängig macht, glaubt er den „Fluch der Individuation“ überwinden zu können. Anstatt jedoch eins mit ihnen zu werden, bleibt er ihnen seelisch fern, da seine Manipulationen ausschließlich zerstörerischen Charakter haben. Deshalb führt die aufgrund seiner Isolation ausgeübte Macht wiederum zur Selbstisolation, da seine Experimente an Menschen einhergehen mit emotionaler Distanzierung. Dr. Massis verabreicht sich mit seinen Machtspielen in etwa die gleiche Droge wie seinen Mitmenschen in Form des Morphium: Auch die Machtspiele trösten ihn über die Einsamkeit hinweg und verschaffen ihm die Illusion, anderen Menschen nahe zu sein. Tatsächlich isolieren sie ihn jedoch nur noch mehr. Dass auch er selbst zumindest unterbewusst zu dieser traurigen Erkenntnis gelangt ist, suggeriert das George Clemenceau-Zitat, welches er Richard Darmstädter aufschreibt: „Das Paradies wäre eine Verbesserung. Aber das Nichts ist die Vollendung.“ (TiU, S. 176) Die zitierten Worte legen nahe, dass Dr. Massis ausschließlich dem Tod die Möglichkeit zuschreibt, den „Fluch der Individuation“ zu überwinden. Damit ist auch er einer zumindest unterschwelligen Todessehnsucht verfallen, der er allerdings nicht restlos erliegt. Im Gegensatz zu einigen Figuren, die mit Hilfe des Eros zueinander gelangen wollen, überlebt Dr. Massis. So kann seine Abkehr von der Liebe – bei aller Isolation, die sie nach sich zieht – auch als lebensbindend interpretiert werden, da sie im Vergleich zum aussichtslosen Versuch, mit Hilfe der Liebe die Individuation zu überwinden, eine noch schmerzhaftere Empfindung von Einsamkeit verhindert.

2.4 Richard

Richard Darmstädters Leben verläuft vor allem aus zwei Gründen tragisch: zum einen aufgrund seiner jüdischen Herkunft, zum anderen aufgrund seiner Homosexualität. Seiner jüdischen Abstammung tritt er sehr zwiespältig gegenüber, indem er durch sie sowohl Stolz als auch Schmerzen empfindet:

Früher als die meisten machte er sich mit einer übertriebenen und masochistischen Schärfe klar, was dies bedeute, und er sagte sich, daß es vor allem ein Fluch war, dann freilich auch eine Auszeichnung. Mit vierzehn Jahren notierte er in sein Tagebuch: „Ich gehöre einer verdammten und auserwählten Rasse an.“ Er war stolz auf allen Geistesglanz der jüdischen Geschichte, aber er litt furchtbar unter ihrer Schmachbedecktheit, unter ihrem Schmerzensreichtum. Alles, was „seinem Volk“ in Jahrtausenden widerfahren war, glaubte er wie Narben am eigenen Leib zu erkennen. Er schämte sich seines semitischen Typs. „Ich bin es nicht wert, blonde Freunde zu haben“, schrieb der Fünfzehnjährige in gefährlicher Zerknirschtheit. Aber andere als blonde mochte er nicht. Mit jungen Leuten seiner Geistes- und Körperart verbanden ihn „höchstens geistige Interessen“; das genügte ihm nicht. (TiU, S. 173)

In diesem eingeschobenen Rückschritt zeigt sich explizit, wie sehr die Verbindung aus jüdischer Herkunft und Homosexualität Richard Darmstädter bereits frühzeitig isoliert. Sein vornehmliches Interesse an blonden Jungen ist homosexuell motiviert, da es im Gegensatz zum Verhältnis zu „jungen Leuten seiner Geistes- und Körperart“ nicht nur auf geistigen Bindungen beruht, sondern auf körperlicher Anziehung. Dieses Interesse wird jedoch durch seine jüdische Herkunft getrübt, da er sich ihrer schämt und deshalb glaubt, blonde Freunde nicht verdient zu haben. Mit fünfzehn unternimmt er schließlich seinen ersten Selbstmordversuch aufgrund eines blonden Klassenkameraden. Auch wenn der Vorfall nicht weiter ausgeführt wird, so wird doch suggeriert, dass sowohl seine jüdische Herkunft als auch seine Homosexualität eine Isolation gegenüber dem blonden Jungen nach sich gezogen haben, die letztlich zum Suizidversuch führte.

Als erwachsener Mensch verliebt er sich in Tom, mit dem er auf Dr. Massis´ Anraten eine Reise unternimmt. Auch hier führt der Versuch einer homosexuellen Bindung ins Leere, da sich Tom lieber mit Frauen vergnügt und jeglichen sexuellen Kontakt mit ihm ablehnt. Wolfram sieht in Tom gar einen „Vertreter der Gesellschaft […], deren Auffassung, die Homosexualität sei eine unmoralische Perversion, er teilt.“ (Wolfram 1986, S. 85) Diese These erscheint mir jedoch etwas voreilig, da es keine konkreten Anhaltspunkte für eine solche Einstellung Toms gibt. Zwar entgegnet Tom auf Richards Frage nach Sex mit den Worten „Nee, du, mit so was fangen wir erst gar nicht an. Wenn du darauf hinaus wolltest, fahr´ ich gleich zurück nach Berlin.“ (TiU, S. 206), ob es sich bei dieser Aussage jedoch um eine grundsätzliche Abneigung gegenüber Homosexualität oder schlichtweg eine persönliche Abneigung gegenüber Richard als Sexualpartner handelt, lässt sich nur schwer beurteilen.

Richard will sich seine Isolation vorerst nicht eingestehen und schreibt aus diesem Grund einen Brief an Dr. Massis:

Ich liebe ihn grenzenlos - und ich danke Gott, daß ich diesem Menschenkind begegnen durfte. Solange uns Begegnungen von solcher Tiefe und so lebensförderndem Reiz vergönnt sind, ist es herrlich, auf dieser Erde zu sein, und der Tod ist mir ferner, unvorstellbarer, ja absurder als jemals. (TiU, S. 201 f.)

Wie wenig diese Zeilen seinem tatsächlichen Gemütszustand gerecht werden, zeigt die Tatsache, dass er unmittelbar auf diesen Brief eine Arbeit über das Einsamkeitsproblem beginnt, mit der er unbewusst sein Isolationsproblem zu verarbeiten versucht. In dieser Arbeit setzt er sich mit Hegels Theorien zur Individuation sowie der Frage auseinander, inwiefern der Sozialismus die Fähigkeit besitzt, menschliche Isolationen zu durchbrechen:

Zusammenhang zwischen dem individuellen Einsamkeitsproblem und der sozialen Frage. Im klassenlosen Staate des goldenen Zeitalters, das der Sozialismus verheißt, müssten die unendlich gespaltenen Teile des Ur-Ichs wieder zueinander gefunden haben; erst dann Gütergemeinschaft, erst dann überhaupt Gemeinschaft möglich. Bis dahin: die Liebe der einzige wesentliche Versuch, das tragische Phänomen der Isolierung zu überwinden. Wie jeder andere Versuch zum Scheitern verurteilt (Einsamkeit unser Teil); aber das einzige Surrogat, das wenigstens auf Minuten über die sonst unerträgliche Wahrheit hinwegtäuscht. (TiU, S. 202 f.)

Somit betrachtet er den Staat, in dem er momentan ansässig ist, als unfähig, eine Gemeinschaft zu erzeugen und erkennt einzig in der Liebe einen vorübergehenden Ausweg aus seiner Isolation, der ihn jedoch auch nicht zu retten vermag. Die Brücke zwischen den theoretischen Abhandlungen seiner Arbeit und seiner persönlichen Lebenssituation schlägt er mit seinem letzten Satz: „[…] ’Und Tom will nicht einmal mit mir schlafen –’ (Der letzte Satz mit Bleistift und in einer plötzlich fassungslos entgleitenden Schrift unter das Manuskript geschrieben.)“ (TiU, S. 203) In diesem Moment offenbart sich Richard ganz bewusst die Trostlosigkeit seiner Beziehung zu Tom. Er ist weder dazu in der Lage, durch Sex seine Individuation zu überwinden, noch den Sexualtrieb auf seine Arbeit als Schriftsteller zu sublimieren, da er diese Arbeit nicht länger schätzt: „Unsinn. Ich will überhaupt keine Betrachtungen mehr schreiben. Nicht mehr eitel mich selbst bespiegeln und durch Selbstanalyse heimlichen Selbstkult treiben. Sich stumm aufopfern. Sterben. –“ (TiU, S. 208) Also entschließt er sich für den Suizid, um auf diese Weise jene Körpergrenzen einzureißen, die die Individuation ausmachen:

Ist die Freiheit Schwindel? Bin ich fester gebunden denn je? Solange die Atome meines Leibes aneinanderhalten, werden sie dir zustreben. Aber ich löse den Bann, der sie hält, ich löse ihn eigenmächtig. Ich löse, ich steige. Mag sein, daß ich wieder gebunden werde, aber nie wieder in diese Form. (TiU, S. 212)

Seine Individuation hat Richard mit dem gewählten Freitod, der körperliche Grenzen auflöst, überwunden, die im Leben empfundene Isolation gegenüber seinen Mitmenschen jedoch folglich nicht.

2.5 Sylvester und Sebastian

Die Figur des Sylvester Marschalk schreibt in Treffpunkt im Unendlichen ein Märchen, das sowohl über ihn als auch seinen Freund Sebastian interessante Anhaltspunkte zum Isolationsmotiv liefert:

Und in diesem Märchen liebt ein Knabe ein Mädchen, das er nicht kennt und von dem er nicht einmal weiß, ob sie lebt; und er liebt sie mit seiner ganzen Seele; und er fühlt sich ihr zugehörig ganz und gar; und sie ist seine Mutter, seine Schwester, seine Geliebte, seine Frau. Wirklich und wahrhaftig: seine Frau. Er lebt nur in ihr, seine Einsamkeit ist aufgehoben, aufgehoben im Traum […] (TiU, S. 66)

Der Tenor des Märchens, eine die Einsamkeit überwindende Liebe sei nur im Traum zu verwirklichen, bietet nur trostlose Aussichten für das gemeinschaftliche Leben in der Realität. Analog hierzu verläuft auch Sylvesters Leben ernüchternd einsam. Die Abenteuer mit Frauen, die er eigenen Angaben zufolge hatte, erfüllen ihn nicht: „Ich habe diese Frauen alle so satt, sie sind ekelhaft leicht zu haben. Ach ich sehne mich nach anderen Abenteuern […]“ (TiU, S. 65) Zudem fühlt sich Sylvester in der Demokratie isoliert:

Nur Mißerfolge, nichts als Mißerfolge. In dieser verrotteten demokratischen Welt ist kein Platz mehr für einen wie mich. Die Ausstattungsrevue und der Unterhaltungsroman triumphieren. Die Bühnen schicken mir meine klassischen Komödien zurück, die Verleger meine Sonette und Oden, meine historischen Erzählungen – die Zeitschriften meine Essays über altfranzösische, orientalische und antike Literatur. Soll ich über Maurice Dekobra schreiben? Was ich wissenschaftlich leiste, wird von den verknöcherten Professoren nicht ernst genommen, meine Musik erklärt man als unsinnlich und abstrakt. (TiU, S. 240)

[...]

Ende der Leseprobe aus 78 Seiten

Details

Titel
Wege ins Nichts: Über die Isolation in Klaus Manns Werk
Hochschule
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald
Note
2,2
Autor
Jahr
2008
Seiten
78
Katalognummer
V204480
ISBN (eBook)
9783656313908
ISBN (Buch)
9783656314707
Dateigröße
748 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
isolationsmotiv, werk, klaus mann, der fromme tanz, treffpunkt im unendlichen, flucht in den norden, symphony pathétique, der vulkan, vergittertes fenster, isolation, exilliteratur
Arbeit zitieren
Sebastian Schult (Autor:in), 2008, Wege ins Nichts: Über die Isolation in Klaus Manns Werk, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/204480

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