Gleichheit im Vollzug - Aktuelle Fragen des Verfassungsrechts


Studienarbeit, 2009

48 Seiten, Note: 12 Punkte


Leseprobe


Gliederung

A. Einleitung

B. Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 I GG

C. Das Zinsurteil
I. Die Ausgangssituation
II. Der Verfahrensgang bis zur Urteilsverkündung des BVerfG
III. Das Urteil des BVerfG
1. Das Institut des strukturellen Vollzugsdefizits
2. Weitere allgemeine Feststellungen des BVerfG insoweit
3. Folgen dieser Vorgaben für das vorliegende Urteil
4. Zwei weitere Hinweise
IV. Die Reaktion des Gesetzgebers
V. Die Reaktionen in der juristischen Literatur
VI. Zwischenergebnis

D. Das Spekulationsurteil
I. Die Ausgangssituation
II. Der Verfahrensgang bis zur Urteilsverkündung des BVerfG
III. Das Urteil des BVerfG
1. Vorliegen eines strukturellen Vollzugsdefizits
2. Zur Entscheidung im Einzelnen
IV. Die weitere Entwicklung
V. Die Reaktionen in der juristischen Literatur
VI. Kurz zur Abgeltungsteuer

E. Allgemein zu strukturellen Vollzugsdefiziten
I. Strukturelle Vollzugsdefizite im Steuerrecht und grundsätzliche Probleme in der Rechtsprechung

II. Strukturelle Vollzugsdefizite im Allgemeinen
III. Ergebnis und Überleitung

F. Zur Wehrgerechtigkeit
I. Die Ausgangssituation
II. Entwicklungen ab 2003/2004 – auch in der Rechtsprechung
III. Die Ansichten in der juristischen Literatur
IV. Fazit und Stellungnahme

G. Schlusswort

A. Einleitung

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit dem Thema „Gleichheit im Vollzug“. Dahinter steckt die Frage, ob eine Norm, die materiell-rechtlich verfassungskonform ist, aufgrund eines defizitären Vollzugs letztlich doch verfassungswidrig sein oder werden kann. Ob also eine mangelhafte gesetzliche Ausgestaltung des Vollzugs oder gar rein tatsächliche Probleme hierbei derart auf eine Ausgangsnorm zurückwirken können, dass diese selbst verfassungswidrig wird, obwohl sie für sich gesehen den Anforderungen des Grundgesetzes genügt. Im Zentrum solcher Überlegungen steht dabei der Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 I GG, der auch in dieser Arbeit den Prüfungsmaßstab bilden soll[1].

Die zugrunde liegende Thematik ist insbesondere durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Besteuerung von Kapitalerträgen (sog. Zinsurteil[2], 1991) in den Fokus gerückt. Hier hat das BVerfG erstmals die Möglichkeit deklariert, eine Norm aufgrund mangelhaften Vollzugs – unter bestimmten Voraussetzungen – für nichtig zu erklären. Während das Gericht allerdings in diesem Urteil, auch aufgrund der Neuartigkeit dieser Rechtsprechung, dem Gesetzgeber noch eine Frist zur eigenhändigen Bereinigung der verfassungswidrigen Situation eingeräumt hatte, erklärte es im Jahre 2004 zum ersten Mal eine steuerrechtliche Norm wegen Vollzugsmängeln für nichtig (sog. Spekulationsurteil[3]).

Die genannten Urteile bilden auch den Hauptanknüpfungspunkt dieser Studienarbeit[4]. Nach einigen kurzen Bemerkungen zum Gleichheitsgrundsatz selbst (B.), soll zunächst das Zinsurteil ausführlich dargestellt werden (C.). Sodann wird das Spekulationsurteil näher zu beleuchten sein (D.). In einem nächsten Punkt wird dann die bisher dargestellte Entwicklung in der Rechtsprechung abstrahiert und verallgemeinert (E.). Zum Abschluss wird auf mögliche Vollzugsmängel im Rahmen der Einberufung von Wehrpflichtigen einzugehen sein (F.). Hier wird diskutiert, ob nicht die Rechtsprechung des BVerfG zu den Vollzugsdefiziten im Steuerrecht (tatsächliche Gleichheit im Belastungserfolg) auf die Frage der Wehrgerechtigkeit anzuwenden ist. Hier hat insbesondere das VG Köln durch mehrere Entscheidungen in diesem Sinne auf sich aufmerksam gemacht[5].

Die Arbeit soll damit – im Sinne einer bestmöglichen Veranschaulichung – zunächst induktiv, dann deduktiv vorgehen, um die Problematik der Gewährleistung von Gleichheit im Gesetzesvollzug darzustellen.

B. Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 I GG

Das Grundgesetz gewährt in Art. 3 I, dem allgemeinen Gleichheitssatz, sowohl Rechtsanwendungsgleichheit, also die Gleichheit vor dem Gesetz, als auch Rechtsetzungsgleichheit, also die Gleichheit bei der Gesetzgebung. Letzteres ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus Art. 3 I GG, folgt jedoch aus der Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte (Art. 1 III GG). Der Gleichheitssatz verbietet nicht die Ungleichbehandlung schlechthin, sondern nur die grundlose Ungleichbehandlung. Eine festgestellte Ungleichbehandlung kann also gerechtfertigt sein.[6]

Im Rahmen einer Prüfung des allgemeinen Gleichheitssatzes ist zunächst eine verfassungsrechtlich relevante Ungleichbehandlung festzustellen; es ist dabei zu fragen, ob „wesentlich Gleiches“ ungleich behandelt wird. Bezugspunkt hierfür ist ein gemeinsamer Oberbegriff.[7]

In einem zweiten Schritt ist dann zu prüfen, ob die festgestellte Ungleichbehandlung verfassungsrechtlich zu rechtfertigen ist. Bei Ungleichbehandlungen geringerer Intensität beschränkt sich das BVerfG auf eine Evidenzkontrolle. Solange und soweit irgendein sachlicher Grund nachzuweisen ist, liegt eine Rechtfertigung i.S.d. des Willkürverbotes vor. Bei Ungleichbehandlungen größerer Intensität verlangt das BVerfG dagegen einen gewichtigen sachlichen Grund und stellt insoweit eine volle Verhältnismäßigkeitsprüfung an (sog. Neue Formel).[8]Danach ist Art. 3 I GG gerade dann verletzt, „wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die Ungleichbehandlung rechtfertigen könnten“[9].

Die Besonderheit der Heranziehung des allgemeinen Gleichheitssatzes auf einen defizitären Gesetzesvollzug liegt nun darin, dass jeweils von einer materiell verfassungskonformen Norm ausgegangen wird – einer Norm, die auch dem Gleichheitssatz für sich betrachtet genügt, also entweder schon gar keine Ungleichbehandlung enthält, jedenfalls aber doch insoweit verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist.

C. Das Zinsurteil

Im sog. Zinsurteil von 1991[10]hat das BVerfG erstmals das Vorliegen eines strukturellen Vollzugsdefizits erkannt und insoweit dessen Voraussetzungen dargelegt.

I. Die Ausgangssituation

Nach der im Veranlagungszeitraum 1981 (auf den sich die zugrunde liegende Klage bezog) geltenden Fassung des Einkommensteuergesetzes (EStG 1979[11]) waren gem. §§ 2 I Nr. 5, 20 EStG 1979 neben anderen Kapitalerträgen auch „Zinsen aus sonstigen Kapitalforderungen jeder Art, z.B. aus Einlagen und Guthaben bei Kreditinstituten, aus Darlehen und Anleihen“ der Besteuerung unterworfen. Im Gegensatz zu anderen Kapitalerträgen (§§ 43 ff. EStG 1979) und etwa der Lohnsteuer (§§ 38 ff. EStG 1979) wurden die Zinserträge jedoch nicht an der Quelle besteuert, d.h. im Sinne einer Vorauszahlung unmittelbar vom Schuldner der Kapitalerträge (etwa einer Bank) entrichtet[12], das Finanzamt war vielmehr auf die richtige Deklaration in der Steuererklärung angewiesen. Dies machte die Zinsbesteuerung anfällig für Steuerhinterziehung.[13]

Als besonders problemsteigernd erwies sich diesem Zusammenhang der sog. Bankenerlass von 1979. Schon vor dem zweiten Weltkrieg waren verschiedene Maßnahmen getätigt worden, um die Offenbarungspflichten von Kreditinstituten gegenüber den Steuerbehörden einzuschränken, in einem ersten Bankenerlass (1920)[14]. Danach sollte die bestehende Auskunftspflicht der Banken in Bezug auf ihre Kunden nicht mehr zur Aufdeckung unbekannter Steuerfälle benutzt werden. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden die Ermittlungsmöglichkeiten der Finanzämter noch weiter eingeschränkt, im Erlass von 1949[15].

Im Jahre 1979 wurde nach etlichen Diskussionen der Bankenerlass neu gefasst. Dabei wurde insbesondere das Vertrauensverhältnis zwischen Kreditinstituten und Kunden als besonders schützenswert herausgestellt. Für den Regelfall sollte im Übrigen in den Behörden davon ausgegangen werden, dass die Angaben des Steuerpflichtigen in seiner Erklärung vollständig und richtig sind. Weiterhin wurde u.a. festgelegt, dass die Finanzämter keine einmaligen oder periodischen Mitteilungen zur allgemeinen Überwachung von Konten verlangen dürfen. Auch anlässlich einer sog. Außenprüfung (siehe dazu §§ 193 ff. AO) bei einem Kreditinstitut durfte keine Überprüfung von Kundenkonten stattfinden; Kontrollmitteilungen sollten bzw. durften insoweit ebenfalls nicht eingeholt werden.[16]

Der Bankenerlass wurde im Zuge der Steuerreform 1990[17]weitgehend in die Abgabenordnung aufgenommen, als § 30a[18].

Die Situation war also folgende: Kapitalerträge aus Bankeinlagen waren im Jahre 1981 weder wie andere Kapitalerträge einer Quellensteuer unterworfen, noch konnten sie durch Kontrollmitteilungen auf einfachem Wege überprüft werden. Die Finanzämter waren damit im Wesentlichen von der Steuerehrlichkeit abhängig. Dies stellte eine Ausnahme im europäischen Vergleich dar.[19]

II. Der Verfahrensgang bis zur Urteilsverkündung des BVerfG

Diesem Missstand setzte sich ein Bürger „vom Fach“, ein Leiter einer Straf- und Bußgeldsachenstelle bei einem Finanzamt, zusammen mit seiner Ehefrau, auf privatem Wege entgegen. Er klagte gegen die Besteuerung seiner von ihm in der Einkommenserklärung offengelegten, nicht der Quellensteuer unterliegenden Kapitaleinkünfte. Die Besteuerung verstoße insoweit gegen den Gleichheitsgrundsatz.[20]

Das Finanzgericht Baden-Württemberg stützte sich auf Zahlen der Deutschen Bundesbank, die die Fehlquote der steuerpflichtigen, aber nicht erklärten Zinseinnahmen mit etwa 40 % angaben, wies aber letztlich ebenso wie der Bundesfinanzhof als Revisionsgericht die Klage als unbegründet ab, da es (auch insoweit) keine Gleichheit im Unrecht geben könne.[21]

Hiergegen legten die Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde ein. Insbesondere verwiesen sie darauf, dass die Behörden aufgrund der gesetzlichen Lage gar nicht die Möglichkeit hätten, die zu erwartenden häufigen Steuerhinterziehungen hinsichtlich § 20 I Nr. 8 EStG 1979 zu verhindern. Damit sei also nichtsdestotrotz der Gleichhandlungsgrundsatz verletzt.[22]

Im Zuge der Äußerungen staatlicher und privater Stellen, verwies die Bundesregierung darauf, dass die geltende Rechtslage und insbesondere der Bankenerlass der Ersparnisbildung diene und dem Abfluss inländischen Sparkapitals ins Ausland entgegenwirke. Im Übrige seien Nachforschungen nicht grundsätzlich ausgeschlossen. In ihren Stellungnahmen wiesen hingegen verschiedene Bundesländer darauf hin, dass eine Kontrolle nur stattfinden könne, wenn die Angaben des Erklärenden unschlüssig oder widersprüchlich seien. Damit entbehre die derzeitige Lage jeglicher Präventivwirkung; wem es gelänge, seine Steuererklärung widerspruchsfrei darzulegen, der müsse keine Kontrollen befürchten.[23]

Der Bundesrechnungshof erklärte, dass die Zinseinkünfte letztlich nur beim Tod eines Kunden durch Mitteilung der Banken an die Erbschaftssteuerstelle (§ 33 ErbStG) oder im Wege der Steuerfahndung (§§ 208 ff. AO) zu ermitteln seien. Letztlich legt er dar, dass aus seiner Sicht mehr als die Hälfte der privaten Zinseinkünfte nicht erklärt würden.[24]Diese Zahl wurde letztlich in der mündlichen Verhandlung von keinem Beteiligten zurückgewiesen[25].

III. Das Urteil des BVerfG

Das BVerfG stellte in seinen Urteil fest, dass die Verfassungsbeschwerde nicht begründet ist. Entscheidend ist jedoch, dass die Richter eine Verletzung der Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 3 I GG zwar „noch“ nicht erkennen konnten – grundsätzlich aber schon. Das resultierte daraus, dass das Gericht dem Gesetzgeber noch eine Frist zur Korrektur gewähren wollte.[26]

1. Das Institut des strukturellen Vollzugsdefizits

Zunächst beschäftigte sich das BVerfG mit der Anwendung von Art. 3 I GG. Der Gleichheitssatz ist nach seiner ständigen Rechtssprechung bereichsspezifisch anzuwenden. Die Steuer als Gemeinlast für alle Inländer zur Finanzierung der allgemeinen Staatsaufgaben, also ohne konkrete individuelle Gegenleitung, erlangt danach ihre Rechtfertigung gerade aus der Gleichheit der Lastenzuteilung (Lastengleichheit).[27]

Folglich sei eine einmal getroffene Belastungsentscheidung, also durch Einführung einer bestimmten Steuer, dann auch „folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit“[28]umzusetzen. Ein materielles Steuergesetz muss also nach der Ansicht des BVerfG „in ein normatives Umfeld eingebettet sein [...], welches die Gleichheit der Belastung auch hinsichtlich des tatsächlichen Erfolgs prinzipiell gewährleisten kann“[29]. Dabei soll das materielle Steuergesetz „die Gewähr seiner regelmäßigen Durchsetzbarkeit so weit wie möglich in sich selbst tragen“[30].

An dieser Stelle bezog das Verfassungsgericht erstmalig die Vollzugsebene einer Norm in die Gleichheitsprüfung mit ein. Es schränkte diese Möglichkeit jedoch sogleich wieder ein, soweit es sich nur um Vollzugsmängel handelte, „wie sie immer wieder vorkommen können und sich auch tatsächlich ereignen“[31], also um rein tatsächlich-empirische Vollzugsmängel. Sodann stellte es aber fest: „Wirkt sich [...] eine Erhebungsregel gegenüber einem Besteuerungstatbestand in der Weise strukturell gegenläufig aus, daß der Besteuerungstatbestand weitgehend nicht durchgesetzt werden kann, und ist dieses Ergebnis dem Gesetzgeber zuzurechnen, so führt die dadurch bewirkte Gleichheitswidrigkeit zur Verfassungswidrigkeit auch der materiellen Norm.“[32]Hiermit legte das BVerfG die Voraussetzungen eines strukturellen, verfassungsrechtlich beachtlichen Vollzugsdefizits fest, das zur Verfassungswidrigkeit einer an sich verfassungskonformen Norm führen kann.

Die Zurechenbarkeit solle dabei auch schon dann zu bejahen sein, wenn Vorschriften des Erhebungsverfahrens auf Verwaltungsvorschriften gründen, die der Gesetzgeber gebilligt („bewusst und gewollt hingenommen“[33]) hat. Eine Zurechnung solle insgesamt dann erfolgen, wenn sich dem Gesetzgeber „die Erkenntnis aufdrängen mußte, daß [...] das von Verfassungs wegen vorgegebene Ziel der Gleichheit im Belastungserfolg prinzipiell nicht zu erreichen ist und er sich dieser Erkenntnis daher nicht verschließen durfte“[34]. Ein nachträglich erkannter Mangel sei in angemessener Frist zu beheben[35].

2. Weitere allgemeine Feststellungen des BVerfG insoweit

Weiterhin stellte das BVerfG in seinem Urteil fest, dass eine Steuerbelastung, die quasi ausschließlich darauf beruht, dass der Erklärungspflichtige seine Angaben redlich tätigt, also ohne steuerpflichtige Einkünfte gänzlich zu verschweigen oder zumindest zu verkürzen, die steuerliche Lastengleichheit verfehlt. Entscheide sich der Gesetzgeber – legitimerweise – gegen eine Quellensteuer in einem bestimmten Bereich und verlasse er sich vielmehr allein auf die Erklärungsbereitschaft der Steuerpflichtigen (werden also „erhöhte Anforderungen an die Steuerehrlichkeit gestellt“[36]), dann müsse er aber zumindest Sorge dafür tragen, dass ein effektives Kontrollsystem besteht.[37]Die Richter drückten das so aus: „Im Veranlagungsverfahren bedarf das Deklarationsprinzip der Ergänzung durch das Verifikationsprinzip“[38].

Hierzu machte das Gericht weiterhin deutlich, dass gesamtwirtschaftliche Gründe (wie von der Bundesregierung angeführt – etwa vermehrte Kapitalflucht ins Ausland) einen Verzicht auf ein ausreichend effektives Kontrollsystem nicht rechtfertigen könnten. Es sei also nicht zulässig, eine materielle Steuernorm quasi als lex imperfecta[39]anzulegen.[40]

3. Folgen dieser Vorgaben für das vorliegende Urteil

Anknüpfend an diese Vorgaben, erkannte das Gericht (schon für das Jahr 1981) den Vollzug der Besteuerung der privaten Zinseinkünfte als strukturell mangelhaft[41].

Die §§ 2 I Nr. 5, 20 I Nr. 8 EStG 1979 hätten zwar einen an sich nicht zu beanstandenden Steuererhebungstatbestand geschaffen, die Durchsetzung dieses Steueranspruchs sei jedoch mangelhaft. Da kein Quellenabzug erfolge, könne ein Steuerhinterzieher davon ausgehen, nur in einem Ausnahmefall überführt zu werden; das Gericht ging dabei von einer Fehlquote[42]von jedenfalls 50 % aus, was nicht erklärte, aber eigentlich zu erklärende Zinseinkünfte betraf.[43]

Als Ursache, Vollzugshindernis, sah das BVerfG dabei den Bankenerlass von 1979. Insbesondere das Verbot der Einholung von Kontrollmitteilungen führe zu einer Erschwerung der Sachverhaltsermittlung, insoweit könnten keinerlei Erkenntnisse über die Bezieher von Zinseinkünften gewonnen werden. Die Ergebnisse der Stellungnahmen und der mündlichen Verhandlung wertete das BVerfG dahingehend, dass auch trotz der Möglichkeit, Auskünfte nach §§ 93 ff. AO einzuholen, ein „Klima der Zurückhaltung und des Zögerns“ vorherrsche. In diesem Zusammenhang wies das Gericht auch ausdrücklich darauf hin, dass die Regelungen des Bankenerlasses (etwa aus Datenschutzgründen) keineswegs verfassungsrechtlich erforderlich seien – und selbst wenn dies (hypothetisch) doch der Fall wäre, dann müsste etwa auf eine Quellensteuer ausgewichen werden.[44]

Den Bankenerlass habe der Gesetzgeber außerdem bewusst und gewollt hingenommen und es in der Folgezeit auch unterlassen, seine negativen Auswirkungen zu beseitigen. Die insoweit angeführten gesamtwirtschaftlichen Gründe könnten keine Rechtfertigung darstellen. Unbedenklich wäre allerdings, aus solchen Gründen die besondere Inflationsanfälligkeit von Kapitalvermögen allgemein zu berücksichtigen. Das Gericht wies in diesem Zusammenhang auch (erneut) auf die Möglichkeit einer Quellenbesteuerung auf alle Kapitaleinkünfte hin, ggf. auch ausgestaltet als Definitivsteuer[45]. Jedenfalls könne aus der Sicht des BVerfG dem Gesetzgeber das Vollzugsdefizit grundsätzlich auch zugerechnet werden.[46]

Allerdings verzichtete es im nächsten Schritt auf die Prüfung, ob sich dem Gesetzgeber ein solches Defizit im Jahre 1981 bereits hätte aufdrängen müssen (auch wenn wohl einiges dafür gesprochen hätte). Es stellte hierbei selbst die Außergewöhnlichkeit seiner getroffenen Entscheidung fest und entschied sich folgerichtig dafür, dem Gesetzgeber die Möglichkeit zu geben, auf die neue, hiermit klar gestellte Rechtslage zu reagieren. Dies geschah durch das Setzen einer Frist bis zum 01. Januar 1993. Sollte der Gesetzgeber seinen Nachbesserungsauftrag bis dahin nicht erfüllen haben, so würde die an sich materiell verfassungskonforme Norm des § 20 I Nr. 8 EStG 1979 selbst verfassungswidrig. So ist dann auch die eingangs erwähnte „noch“ nicht bestehende Verletzung des Art. 3 I GG zu verstehen. Das BVerfG rechtfertigte die Hinnahme dieser eigentlich (wohl) verfassungswidrigen Lage mit dem rechtsstaatlichen Kontinuitätsgebot in einem Falle gewandelter Verfassungsauslegung.[47]

[...]


[1] Hierzu kritisch:Meyer, S. 555, 558 f, der das Rechtsstaatsprinzip als Maßstab heranziehen will.

[2] BVerfGE 84, 239.

[3] BVerfGE 110, 94.

[4] Vgl.Papier, S. 975.

[5] Siehe dazu insbesondere die Entscheidung des BVerwG, BVerwGE 122, 331.

[6] Pieroth/Schlink, Rn. 428.

[7] Pieroth/Schlink, Rn. 431, 433.

[8] Pieroth/Schlink, Rn. 438-441.

[9] So erstmals BVerfGE 55, 72 (88); vgl. auchStarck, MKS, Art. 3 Abs. 1 Rn. 11.

[10] BVerfGE 84, 239.

[11] BGBl. I, 1545.

[12] Vgl. BVerfGE 84, 239 (244).

[13] Vgl. BVerfGE 84, 239 (241-245).

[14] Vgl. BVerfGE 84, 239 (246).

[15] Vgl. BVerfGE 84, 239 (247).

[16] Vgl. BVerfGE 84, 239 (248 f.), BStBl. I 1979, 590.

[17] Steuerreformgesetz 1990, Juli 1988, BGBl. I, 1093.

[18] Vgl. BVerfGE 84, 239 (249), im Urteilsjahr galt er also bereits, im Veranlagungsjahr 1981 wurde noch der Bankenerlass von 1979 herangezogen.

[19] Vgl. BVerfGE 84, 239 (251-253).

[20] BVerfGE 84, 239 (254); Schlagwort: „Der Ehrliche ist der Dumme“.

[21] BVerfGE 84, 239 (254-256).

[22] Sinngemäß, vgl. BVerfGE 84, 239 (257).

[23] BVerfGE 84, 239 (258 f.).

[24] Siehe dazu BVerfGE 84, 239 (261-264).

[25] BVerfGE 84, 239 (265).

[26] BVerfGE 84, 239 (268, 283-285).

[27] BVerfGE 84, 239 (269), auch unter Verweis auf BVerfGE 75, 108 (157); 76, 256 (329); 78, 249 (287).

[28] BVerfGE 84, 239 (271); vgl. dazu auchRodi, NJW 1991, S. 2866: „Der Gesetzgeber muß auf horizontaler Ebene die gleichmäßige Auswirkung seiner vertikalen Differenzierung gewährleisten.“

[29] BVerfGE 84, 239 (271).

[30] BVerfGE 84, 239 (271).

[31] BVerfGE 84, 239 (272).

[32] BVerfGE 84, 239 (272); nur so konnte auch eine Beschwerdebefugnis der Kläger konstruiert werden, als Erfinder dieser Rechtsprechung gilt PaulKirchhof; vgl.Kühn, S. 508; vgl. auch:Kirchhof, HbStR V, § 125, Rn. 81-83.

[33] BVerfGE 84, 239 (272).

[34] BVerfGE 84, 239 (272).

[35] BVerfGE 84, 239 (272).

[36] BVerfGE 84, 239 (273).

[37] BVerfGE 84, 239 (273).

[38] BVerfGE 84, 239 (273).

[39] Also als eine Regelung ohne Rechtsfolge.

[40] BVerfGE 84, 239 (273 f.).

[41] BVerfGE 84, 239 (275).

[42] Vgl. schon oben hinsichtlich der mündlichen Verhandlung; dazu erneut: BVerfGE 84, 239 (276-278).

[43] BVerfGE 84, 239 (275 f.).

[44] BVerfGE 84, 239 (278-281).

[45] Das BVerfG bringt also hier auch eine Art Abgeltungsteuer (also eine Quellensteuer mit einem grundsätzlich fixen Steuersatz ohne Rück- oder Nachzahlungen) ins Spiel. Zur Abgeltungsteuer ab 2009 später.

[46] BVerfGE 84, 239 (282 f.).

[47] BVerfGE 84, 239 (283-285); auch unter Verweis auf BVerfGE 58, 257 (280), mit weiteren Nachweisen.

Ende der Leseprobe aus 48 Seiten

Details

Titel
Gleichheit im Vollzug - Aktuelle Fragen des Verfassungsrechts
Hochschule
Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Note
12 Punkte
Autor
Jahr
2009
Seiten
48
Katalognummer
V203957
ISBN (eBook)
9783656308010
ISBN (Buch)
9783656308256
Dateigröße
623 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
gleichheit, vollzug, aktuelle, fragen, verfassungsrechts
Arbeit zitieren
Ass. iur. Johannes Hilpert (Autor:in), 2009, Gleichheit im Vollzug - Aktuelle Fragen des Verfassungsrechts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/203957

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