Faszination und Langeweile.

Ein Notizbuch über rhetorische Wirkung


Essay, 2012

101 Seiten


Leseprobe


Vor-Wort

Dies ist kein Lehrbuch der Rhetorik, nicht einmal ein Buch. Es ist ein Notizbuch, eine Materialsammlung aus Aphorismen, Anekdoten und Lesefunden. Keine glattgefügte Mauer, sondern eine Sammlung von unbehauenen Natursteinen. Der Leser möge selbst entscheiden, was ihn interessiert und anregt – und was nicht.

Der Stoff wird in kleiner Form dargeboten, der Text so weit gestrafft wie eben möglich. Meine Vorbilder waren die Sudelbücher Lichtenbergs, die Aphorismen des Novalis und die Notizbücher von Johannes Gross.

5. Januar 2012

Aus der guten alten Zeit. Der Unionspolitiker Rainer Barzel hatte für seine Wahlkampfreden auf öffentlichen Plätzen einen abwaschbaren Gummimantel.

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„Ich freue mich, dass Sie so zahlreich erschienen sind.“

Niemand kann „zahlreich“ erscheinen. Allerdings kommen manchmal viele.

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Warum hat Jesus nur gesprochen und nichts geschrieben?

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Im WDR berichtet man über Leserzuschriften. Die Musik ist in manchen Kriminalfilmen zu laut. Außerdem sollten die Schauspieler deutlicher sprechen.

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Eine brillante Rede. Alle waren geblendet und sahen nichts mehr.

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Rhetorische Ermattungsstrategie. Man spricht so lange, bis aller Widerspruch erlahmt. Die mehrstündigen Reden Hitlers. Auch an manche Verkäufer wird man sich erinnern.

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Herrenabend. Hier darf auch der reden, der nicht reden kann.

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Ohne Ghostwriter. Konrad Adenauer hat einmal so begonnen: „Meine Herren haben mir da eine Rede aufgeschrieben, die will ich mal weglegen.“

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Dem Kommunistenführer Ernst Thälmann hat einmal ein Witzbold die Seiten seines Redemanuskripts vertauscht. Er hat es zu spät bemerkt.

6. Januar 2012

Ich fand einmal auf dem Grabstein eines Ehepaars den Spruch: „Niemand verstand uns.“ Die Tragödie von Menschen, die sich nicht auszudrücken wissen.

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Eine regionale Tageszeitung berichtet über einen evangelischen Gottesdienst in der Hauptkirche des Ortes. Die Predigt mit viel Politik und schlechter Laune. Von froher Botschaft kein Wort.

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Verschwindende Redewendungen. „Ich bin so frei“, sagte man früher und nahm das angebotene Stück Torte. Der Mensch von heute greift einfach zu.

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Betrug mit Worten. Angeblich „unterfinanziert“ ist eine Institution (z. B. der Staat), wenn sie schlichtweg zu viel ausgibt. Es wird ganz dreist von „Sparen“ gesprochen, wenn man etwas weniger neue Schulden macht als im letzten Jahr.

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Als Rhetoriktrainer oder Bundesminister braucht man keine spezielle Vorbildung.

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Adorno hatte die einzigartige Gabe, sexuelle Ausdrücke auch in unbekannten Sprachen zu verstehen. Ich verstehe oft nicht einmal, was er deutsch schreibt.

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„Der Teufel als Fürsprecher“, so berichten die Gebrüder Grimm in den „Deutschen Sagen“, hält ein Plädoyer vor Gericht. Da ist er auch heute noch aktiv und verbiegt das Recht zum Gottserbarmen.

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Der Schauspieler Siegfried Lowitz hat eine große Leistung in Falladas „Trinker“ geboten, indem er die Trunkenheit gestisch und stimmlich nicht herauskehrte, sondern sie vielmehr verbarg. Nur in sparsamen Andeutungen zeigte er, dass da jemand seiner Sinne nicht mehr ganz mächtig war.

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„Jeder Schuster, wenn er seinen Beruf ausüben will, muss zunächst einen Schuh machen können, und erst von dieser Voraussetzung aus gibt es gute und schlechte Schuster. Aber beim Schauspieler ist es möglich, körperliche Ungeschicklichkeit, sprachliches Unvermögen, schlechte Diktion als persönliche Note zu werten.“ (Gustaf Gründgens)

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Aus Spinozas Ethik, aber auch ein wichtiger Lehrsatz für die Rhetorik: „Freude ist an und für sich nicht schlecht, sondern gut; Traurigkeit hingegen ist an und für sich schlecht.“

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Johannes Gross berichtet von einer Geburtstagsfeier, zu der mit dem Hinweis eingeladen wurde, es gäbe keine Reden. Die Stimmung soll hervorragend gewesen sein.

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Ein Teil der Politikerreden ist überflüssig wie ein Kropf. Der Inhalt, natürlich nicht von eigener Hand verfasst, geht vorab der Presse zu. Der Vortrag selbst ist meistens so schwach, dass er keinen Hund hinter dem Ofen hervorlockt. Mein Vorschlag: Beim nächsten Staatsakt wird der Redetext des Bundespräsidenten zur Selbstbedienung ausgelegt, und er sagt nur: „Das Buffet ist eröffnet.“

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„Sehr geehrte …“ – Wen ehrt man wirklich?

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Als Deutschland noch ein christlich geprägtes Land war, hielt sogar Hitler es für angebracht, sich auf den „Allmächtigen“ zu berufen. Das ist ganz aus der Mode gekommen.

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Ein Klassiker im Wiener Dialekt ist „Der Herr Karl“ von Helmut Qualtinger. Wenn er grantelt, seine Chefin sei vor vierzig Jahren keine Chefin gewesen, muss ich irgendwie an die Bundeskanzlerin denken.

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Höflichkeit. Eine Anweisung, einen Befehl als Bitte formulieren.

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Konditionswunder. Trotzki hat einmal eine längere Rede auf Russisch gehalten und sie dann französisch und deutsch wiederholt.

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In einem Training für Doktoranden hatte ich einmal einen japanischen Germanisten, der den schwer verständlichen Jargon der deutschen Geisteswissenschaften so beherrschte, dass ich von seinem Vortrag über Kafka fast nichts verstand. Meine Vorschläge für einen einfacheren Stil und Satzbau erreichten ihn nicht.

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Der verstorbene Nationalist Franz Schönhuber sprach fließend Englisch, Französisch und Russisch. Der große Europäer Helmut Kohl sprach Hochdeutsch, wenn auch mit etwas Mühe.

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Bei manchen Menschen ist Reden nicht einmal Silber.

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Eine bekannte amerikanische Firma nimmt Verbesserungsvorschläge von Mitarbeitern grundsätzlich nur auf einer DIN-A4-Seite entgegen. Eine gute Anregung für Tagungen aller Art: Redebeiträge nicht länger als eine Minute. Den Schwätzern wäre das Handwerk gelegt.

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Wenn Politiker „scharf kritisieren“, kommen sie mit unscharfen Formulierungen und Begründungen daher.

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Die Langeweile der Predigten führt zum Kirchenschlaf. Der protestantische Theologe Helmut Thielicke hat eine sinnvolle Begründung dafür gefunden: „Wer schläft, sündigt nicht.“

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Erinnerungen an einen älteren Arzt. Er sprach stets ruhig und beruhigend, nie war eine Spur von Aufgeregtheit in seiner Stimme. Er sah in allen Menschen leidende Patienten, die der Schonung bedürfen.

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Volkstümlich. Wenn das Publikum bei den verwirrenden Erklärungen der Bundeskanzlerin laut lacht, lacht sie schon mal kurz mit. Motto: Ich verstehe euch ja.

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Sollte einmal die Folter wieder eingeführt werden, könnte man Inhaftierte mit Politikerreden beschallen („Wir müssen dem Bürger klar sagen …“).

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11. Gebot: Langweile deine Zuhörer nicht.

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Bei den Ausreden steht die Redekunst in hoher Blüte.

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Adorno grauste es vor Examenskandidaten, die den Namen von Thomas Hobbes aussprachen wie das hessische „ebbes“.

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Adenauer log hier und da, wenn es um die Durchsetzung der politischen Wahrheit ging.

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Ein rednerisches Original war der Dortmunder Oberbürgermeister Samtlebe. Ein Weinfest eröffnete er mit der launigen Bemerkung, am schönsten sei das Pils hinterher.

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Direkter Widerspruch ist fast immer falsch, im Umgang mit Frauen aber völlig unmöglich.

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Französische Redner. Poincaré schrieb seine zwei- und dreistündigen Kammerreden eigenhändig auf und trug sie dann auswendig vor, ohne auf das Manuskript zu schauen. Briand sprach oft ohne alle Unterlagen. Mit seinen Friedensreden konnte er die Versammlung des Völkerbundes zu minutenlangen Beifallsstürmen hinreißen.

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Unerhört. Ein früherer Bundesminister, einst „Vordenker“ seiner Partei, wenngleich er über vieles nicht gründlich nachgedacht hatte, hat die Einladung zur Jubiläumsfeier eines Bundesministeriums, dem er einmal vorstand, abgelehnt, weil man ihm verweigert hat, ein Grußwort zu sprechen.

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Staatspolitisch bedeutsame Versammlung in der Münchener Residenz. Als ein Redner von der „staatsmännischen Weitsicht“ des Ministerpräsidenten sprach, schaute dieser überrascht hoch.

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Honecker verstand es meisterhaft, das unwichtigste Wort des Satzes zu betonen.

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Vor dem Public Viewing bei Fußballspielen hat es bereits Public Hearing bei Führerreden gegeben. Damals hieß es Gemeinschaftsempfang.

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Der Kanzler der Hochschule begrüßte mich stets mit einem singend hohen Ton. Und ich fühlte mich willkommen.

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Es wurde mir zu meinem Erstaunen berichtet, der bekannte Tennis-Altstar hätte während der gesamten Fernsehsendung nicht einmal „äh“ gesagt.

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Aus dem Beiheft einer CD des Jazzmusikers Duke Ellington: „During each concert he told his audience ,I Love You Madly‘ with true warmth and enthusiasm.“

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Aus einem Sachverständigengutachten über den Frauenmörder Arwed Imiela: „Er ist ein Blender. Er ist ein geltungsbedürftiger Psychopath. … Sein Unwissen versteht er meisterhaft mit rhetorischer Gewandtheit zu überbrücken … Über allem steht aber die ungeheure Eitelkeit, das Bestreben, um jeden Preis aufzufallen.“

Das scheint mir auch auf viele andere Menschen zuzutreffen …

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In seiner Zeit als Bundeskanzler sprach Helmut Schmidt eine Gruppe von Wirtschaftsführern auch schon mal mit „Ihr“ statt mit „Sie“ an. Es waren wohl ganze Kerle.

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Superlative: „Der Bundespräsident hat mein vollstes Vertrauen.“ – „Dass es die evangelische Kirche immer noch gibt und weiterhin geben wird, dass selbst Durststrecken totester Predigten (wenn dieser Superlativ erlaubt ist) sie nicht zur Strecke bringen durften, das ist der einzige Gottesbeweis, der mich überzeugen könnte.“ (Helmut Thielicke) – „Seine Leistungen waren zu unserer vollsten Zufriedenheit.“

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Der Bewerber für das Amt des Ministerpräsidenten sprang auf die Bühne wie ein junger Hund.

7. Januar 2012

Galgenpredigten. Über eine ungewöhnliche Art der öffentlichen Rede berichtet Arthur Schopenhauer. Es war in England Brauch, dass zum Tode Verurteilte zu den Zuschauern ihrer Hinrichtung sprachen. Nach einem Bericht der „Times“ vom 18.4.1837 sagte ein gewisser Bartlett, der seine Schwiegermutter ermordet hatte: „… macht euch los von der Liebe zu dieser sterbenden Welt und ihren eitlen Freuden: Denkt weniger an sie und mehr an euren Gott. Das tut. Bekehret euch, bekehret euch! Denn, seid versichert, dass ohne eine tiefe und wahre Bekehrung, ohne ein Umkehren zu eurem himmlischen Vater ihr nicht die geringste Hoffnung haben könnt, jemals jene Gefilde der Seligkeit und jenes Landes des Friedens zu erreichen, welchem ich jetzt mit schnellen Schritten entgegenzugehen die feste Zuversicht habe.“

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Lispeln ist die neueste Mode im Fernsehen.

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Anmerkung zu Goebbels: Wer schreit, hat Unrecht.

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Wenn Konrad Adenauer in einer Rede etwas zusätzliche Denkzeit gewinnen wollte, schob er ein sehr gedehntes „Meine sehr verehrten Damen und Herren“ ein.

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„Signal wird neuerdings mit ck geschrieben.“ (Johannes Gross)

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Empfang beim Oberbürgermeister: Er spricht, als ob er eine heiße Kartoffel im Munde hätte.

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Auf die Gefahr hin, mich bei Feministinnen unbeliebt zu machen: Männerstimmen sind markanter als Frauenstimmen. In vielen ausländischen Filmen erkenne ich mehrere männliche Synchronsprecher, aber nur selten weibliche.

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„Der Prediger muss zuerst Enthusiasmus zu erregen suchen, denn dies ist das Element der Religion. Jedes Wort muss klar, heiß und herzlich sein.“ (Novalis)

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„So steht es mit dem Christentum: Der Staat bestellt landesväterlich tausend examinierte Beamte … und das Christentum kommt im Geschwätz um.“ (Kierkegaard)

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Ganz veraltet: einen Vortrag mit einem Dichterwort zu eröffnen. Schon Goethe sagte …

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In einer Rede an sein Heer sprach Cäsar als Tenor. Im vertraulichen Gespräch als Bass.

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Was sind Höhepunkte in einer Rede? Punkte, an denen die Stimme in die Höhe geht.

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Auch der beste Redner muss einmal Sätze sprechen, in denen gar nichts ausgesagt wird.

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Schau-spiel, nicht Schau-arbeit.

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Der heute vergessene FDP-Politiker Thomas Dehler ließ sich von seinem rhetorischen Temperament zu sehr widersprüchlichen Aussagen hinreißen, so dass ein Witzbold eine Broschüre „Dehler gegen Dehler“ herausgab.

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Kant hat sich sehr abschätzig über die Beredsamkeit geäußert. Er war Professor im öffentlichen Dienst.

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In vollem Ernst berichtete eine überregionale Zeitung über den Versuch, Lehrern das Sprechen mit einem sogenannten Headset zu erleichtern. Dieser Humbug wird auch noch „wissenschaftlich begleitet“.

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Moderne Erziehung scheitert oft an zu langen Sätzen und mangelhaftem Stimmeinsatz.

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In der heutigen Zeit wird oft so schlecht gesprochen, dass alles „visualisiert“ werden muss.

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„Rhetorik für Frauen“ ist schon im Angebot. Demnächst soll es auch „Bio-Rhetorik“ geben.

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Auf einem großen Kongress sprach Franz Josef Strauß. Der Redner benutzte in der mehr als einstündigen Rede weder ein Manuskript noch irgendwelche Unterlagen.

Im freien, improvisierenden, suchenden Sprechen zeigt sich der Meister der Redekunst. Die grundlegende Übung des Rhetoriktrainings.

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Zeitungsbericht. In der Evangelischen Kirche Westfalens lehrt ein Komödiant die Pfarrer.

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Marketing. Bei Hörbüchern werden ganz kleine Stimmen als „starke Stimmen“ verkauft.

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Katholischer Gottesdienst. Der Priester spricht die liturgischen Texte ganz beiläufig, ohne Betonung, ohne Gestaltung. Das Schlussgebet, wohl selbst verfasst, fällt schon herzlicher aus. Der Aufruf zur Mitarbeit am Gemeindefest gelingt großartig und hat viel Charme.

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Kohl, der oft sehr undeutlich sprach, gebrauchte häufig die Redewendung: „Lassen Sie mich das ganz deutlich sagen.“

8. Januar 2012

Stimme – Stimmung.

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Der große Redner ist Bote einer höheren Macht. Ihm geht es nicht um ein persönliches Anliegen, sondern um Gott, Vaterland, Gemeinwohl. Zumindest muss er das behaupten.

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„Man muss erst genau wissen: ‚so und so würde ich dies sprechen und vortragen‘, – bevor man schreiben darf. Schreiben muss eine Nachahmung sein.“ (Friedrich Nietzsche)

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Es gibt Menschen, die rhetorisch sehr mangelhaft sind, mit ihrem ehrlichen Gesicht aber gut ankommen. Und es gibt andere, die über eine gewisse rhetorische Geschicklichkeit verfügen und damit Misstrauen auslösen.

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Anfängerfehler: einer Schulklasse über längere Zeit den Rücken zukehren.

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Ausverkaufter Saal in einem Münchener Hotel. Der Redner steht zwei Stunden auf der Bühne ohne Pult, ohne Manuskript, ohne „Visualisierung“. Er imponiert mir.

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„Lässt man den Teufel in die Kirche, so will er auf die Kanzel.“ Im Herder-Lexikon als Redensart angegeben.

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Das Wort fasst nicht jeder. Ludwig Hohl hat eine schöne Variation zu Matthäus 19 gefunden: Das Wort fasst nicht jeden.

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Rhetorik lernt man nicht aus Büchern.

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Gutes Sprechen setzt gutes Hören voraus.

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Gute Rede muss Antwort sein, Antwort auf die Fragen und Bedürfnisse der Zuhörer. Nicht was ich sagen will, ist wichtig, sondern was das Publikum hören will.

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Ohne gute Atmung keine Inspiration.

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Kohls Rede zum Jahreswechsel ist bei einer Fernsehanstalt mit der des Vorjahres vertauscht worden. Wie viele Zuschauer mögen es bemerkt haben?

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Erinnerung an studentische Referate. Erst wurde eine möglichst gelehrte, mit Fußnoten befrachtete Seminararbeit verfasst. Dann wurde diese mit nicht zu unterbietender Ausdruckslosigkeit vorgelesen. Oft verstand ich nur Bahnhof.

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In einer Arztpraxis. Die Dame am Empfang spricht ungewöhnlich gut artikuliert, mit ruhigem Rhythmus und freundlicher Stimme – deutlich besser als manche Fernsehschauspieler. Sie hat viel mit schwerhörigen, schwer verstehenden und nur bedingt der deutschen Sprache mächtigen Menschen zu tun.

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Körpersprache. Eine Inszenierung eines „namhaften“ Regisseurs am Münchener Residenztheater zeigt nach einem Zeitungsbericht „häufiges Urinieren auf verdreckten Toiletten“.

9. Januar 2012

Wenn Strafverteidiger Verbrecher als prächtige Menschen schildern und Tränen des Mitgefühls in die Augen der Richter steigen, reibt sich der Teufel die Hände: Was man mit der Sprache alles anstellen kann!

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Obwohl die Jagdgeschichten des Freiherrn von Münchhausen Lügengeschichten sind, lesen sie sich gut. Deshalb gilt für manche Presseorgane: Eine gute Story lässt man sich nicht von der Wahrheit kaputt machen.

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Ein Arzt, der gute Geschichten erzählt, braucht weniger Spritzen und Tabletten, pflegte der Chirurg Sauerbruch zu sagen.

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„Das Verständlichste an der Sprache ist nicht das Wort selber, sondern Ton, Stärke, Modulation, Tempo, mit denen eine Reihe von Worten gesprochen wird – kurz die Musik hinter den Worten, die Leidenschaft hinter dieser Musik, die Person hinter dieser Leidenschaft: Alles das also, was nicht geschrieben werden kann. Deshalb ist es nichts mit Schriftstellerei.“ (Friedrich Nietzsche)

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Sprichwörtlich ist der, der viel redet, aber nichts sagt.

Ein langjähriger Bundesaußenminister erfreute sich zu seiner Zeit nahezu täglich der Aufmerksamkeit der Medien. In der historischen Rückschau wird klar: Er hat nie einen selbstständigen Gedanken geäußert.

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Einem Wahlkampfredner der Grünen wurde Salbeitee für den rauen Hals gereicht. Es wäre besser gewesen, wenn er nicht so geschrien hätte.

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Wenngleich wir werden sollen wie die Kinder, scheint es mir sehr fragwürdig zu sein, im Gottesdienst biblische Texte von Kindern vortragen zu lassen.

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„Es war wichtig, sich in jeder einzelnen Rede vorher schon klarzuwerden über den vermutlichen Inhalt und die Form der in der Diskussion zu erwartenden Gegeneinwände und diese dann in der eigenen Rede bereits restlos zu zerpflücken. Es war dabei zweckmäßig, die möglichen Einwände selbst immer sofort anzuführen und ihre Haltlosigkeit zu beweisen; so wurde der Zuhörer, der, wenn auch vollgepfropft mit den ihm angelernten Einwänden, aber sonst ehrlichen Herzens gekommen war, durch die vorweggenommene Erledigung der in seinem Gedächtnis eingeprägten Bedenken leichter gewonnen. Das ihm eingelernte Zeug wurde von ihm selbst widerlegt und seine Aufmerksamkeit immer mehr vom Vortrag angezogen.“

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Zwischen der Sprache der Menschen und der Hunde liegt der oberpfälzische Dialekt.

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Die verstorbene sozialdemokratische Landesministerin Regine Hildebrandt konnte sprechen, ohne Luft zu holen.

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Hörgewohnheiten im Wandel. Parteitage wurden früher mit stundenlangen „Grundsatzreferaten“ der Vorsitzenden eingeleitet. Volle zwei Verhandlungstage plädierte der Rechtsanwalt Max Alsberg in manchen Strafprozessen. Das will heute niemand mehr hören.

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Veralten der Rhetorik. Ein paar läppische Sätze, über die die Medien berichten, haben mehr Wirkung als ein leibhaftiger Demosthenes oder Cicero im geschlossenen Saale.

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„Ein Prediger soll Zähne im Maul haben, beißen und salzen und jedermann die Wahrheit sagen.“ (Martin Luther)

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Der Schauspieler Günter Lüders konnte etwas sagen und dann so dreinschauen, als ob er selbst davon völlig überrascht wäre.

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Die guten Redner sind immer Musikliebhaber.

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Bei Vereinsversammlungen ist der Bericht des Kassenprüfers stets das rhetorische Glanzstück.

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Wäre Hitler nur Verbrecher, Idiot und Teppichbeißer gewesen, wäre niemand auf ihn hereingefallen.

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Hättest du geschwiegen, du wärest Philosoph geblieben. Manche Pfarrer predigen nicht nur schlecht, sondern lassen diese schlechten Predigten auch noch drucken.

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Alain (d.i. Émile August Chartier) über Jean Jaurès: „... seine Stimme war durch ihre melodische Weichheit, in der das Ohr nicht die geringste Gewaltsamkeit entdeckte, die Höflichkeit selber: umso überraschender, als jeder die Löwenstimme und das dumpfe Grollen des Volksredners kannte. Kraft schließt Höflichkeit keineswegs aus …“

11. Januar 2012

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott. Aber auch der Teufel hat es bald ergriffen. Wie er Eva dazu bringt, die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis Gut und Böse zu essen, das geht bereits auf das Konto der Rhetorik. Mit den Worten des englischen Dichters Milton:

„… und seine Worte schlichen,
Der Ränke voll, zu leicht ihr in das Herz.

Und seiner Worte Werbetöne klangen
Im Ohr ihr nach …“

(Das verlorene Paradies 9, 855 ff.)

Seitdem existiert neben dem Wort Gottes auch das Wort des Teufels, und alle Rhetorik steht in einem Zwiespalt.

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Nach einem Zeitungsbericht hat ein Komponist die Zerstörung von zwei Hochhäusern in New York mit 3000 Toten als „größtes Kunstwerk aller Zeiten“ gefeiert.

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Emanzipation. Junge Mädchen von heute haben ein Vokabular, das man früher nur bei groben Kerlen vermutet hat.

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„Allein der Vortrag macht des Redners Glück.“ Wagner, nicht Faust, hatte Recht.

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Der große Star hatte eine Doppelbegabung: Sie konnte weder sprechen noch singen. Heute ist sie ein Mythos.

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Fremdsprachenkenntnisse. Die internationale Reputation Helmut Schmidts beruhte auch auf seinem guten Englisch. Dagegen war es reine Eitelkeit, dass Barzel einmal eine Rede in dem ihm gar nicht geläufigen Italienisch vorgetragen hat.

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In Deutschland wünscht man sich keinen „Guten Tag“ mehr, sondern sagt „Hallo“. Endlich haben wir den Anschluss an die westliche Zivilisation gefunden.

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Dass sich die Sophisten, die großen Meister der Rhetorik, von Sokrates wie die Einfaltspinsel vorführen ließen, nehme ich dem Plato nicht ab.

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Rhetorische Elementarregel: Nimm die Zähne auseinander.

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Betrug mit Worten: „Bei gleicher Qualifikation werden Frauen bevorzugt eingestellt.“ Es hat noch nie zwei gleich qualifizierte Bewerber gegeben.

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Ein stets passender Schluss für Tagungsleiter: „Ich glaube, heute sind wir wieder ein gutes Stück vorangekommen.“

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Im Fernsehen Wiederholung eines alten Krimis, der im Theatermilieu spielt. Der Altstar der DDR spielt den weiblichen Altstar: undeutliche Artikulation, unmodulierte Stimme. Man bekommt Atembeklemmung.

Dann der Schauspieler, der einen genialen Schauspieler spielt. Er rezitiert aus „Macbeth“ – ausdrucksarm, spannungslos. „Das kannst nur du“, murmelt der Altstar.

Der öffentlich-rechtliche Humor!

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Tagungshotel. Die Führungskraft mit sehr wichtigem Gesicht: „The German market is a heavy market.“

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Ein Wort kann schon als solches ein Betrug sein. Ich habe Aufsichtsräte kennengelernt, die mit Sicherheit nicht in der Lage waren, eine Firma zu beaufsichtigen.

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Untergang der Weimarer Republik. Der Reichskanzler Brüning soll so langweilig gesprochen haben, dass Reichspräsident Hindenburg bei dessen Vortrag schon einmal einschlief.

12. Januar 2012

„Unsere Sprache war zu Anfang viel musikalischer und hat sich nur nachgerade so prosaisiert, so enttönt. Es ist jetzt mehr Schallen geworden, Laut, wenn man dieses schöne Wort so erniedrigen will. Sie muss wieder Gesang werden.“ (Novalis)

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„Wir sprachen sehr wenig zusammen. Man schämt sich seiner Sprache. Zum Tone möchte man werden und sich vereinen in Einen Himmelsgesang.“

„Wie Jupiters Adler dem Gesang der Musen lausch’ ich dem wunderbaren unendlichen Wohllaut in mir.“ (Friedrich Hölderlin, Hyperion)

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„Die Musik ist das Wahre überhaupt.“ (Pierre Bertaux)

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Viele Gespräche sind keine. Man hört kaum zu, antwortet nicht auf das Gesagte, sondern will nur das Eigene loswerden.

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Die Pastöre müssten lernen, frei zu sprechen. „Legen Sie Ihr Manuskript mal weg und tragen Sie Ihre Gedanken zu dem Gleichnis von dem verlorenen Sohn vor.“

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Einen Schulmann, der nicht singen kann, schaue ich nicht an. So Luther in seinen Tischreden.

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„Er … sprach mit starker, klarer, leidenschaftlich bewegter, aber nicht schreiender Stimme. Dieses Organ klang manchmal heiser und bewegte sich in merkwürdigen Lautstärkekontrasten. Ruhig anhebende Sätze erhoben sich mit einem Mal bei einem Wort oder gegen das Ende zu eindrucksvollster Tonkraft. Diese Kontraste aber schienen nicht oratorisch-deklamatorisch, berechnet auf Wirkungen angesetzt, sondern vermittelten den Eindruck eines ehrlich mitbewegten Herzens.“

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Ein Redner, der mich stark beeindruckt hat, war der Jesuitenpater Leppich. Ob seine Rhetorik heute noch wirkte, weiß ich nicht, aber damals waren die Zuhörer wie vom Donner gerührt. Leidenschaft und Wortgewalt machten das Wort Gottes zu einem „verzehrenden Feuer“. Während heute die Kirchen leerer und leerer werden, strömten damals viele Menschen herbei, um Pater Leppich auf öffentlichen Plätzen zu hören.

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„Ich habe zu meinem Leidwesen oft erfahren, dass Ironie oftmals nicht verstanden wird. Deshalb schicke ich einer entsprechenden Bemerkung manchmal den Hinweis nach, dass dieses oder jenes ironisch gemeint war.“ (Franz Josef Strauß)

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Wo rhetorische Wirksamkeit fehlt, führt man Pflichtveranstaltungen ein.

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Was muss Kohl gelitten haben, wenn er sich außerhalb der Pfalz sprachlich verständigen musste!

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Jenseits der Worte. „Denn wir wissen nicht, worum wir in rechter Weise beten sollen; der Geist selber tritt jedoch für uns ein mit Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können.“ (Römer 8, 26)

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Verantwortung kann nur übernehmen, wer Antworten geben kann.

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Ende der Leseprobe aus 101 Seiten

Details

Titel
Faszination und Langeweile.
Untertitel
Ein Notizbuch über rhetorische Wirkung
Autor
Jahr
2012
Seiten
101
Katalognummer
V203910
ISBN (eBook)
9783656304098
ISBN (Buch)
9783656304616
Dateigröße
639 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
faszination, langeweile, notizbuch, wirkung
Arbeit zitieren
Dr. Hartmut Nowacki (Autor:in), 2012, Faszination und Langeweile., München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/203910

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