"Bin ich Mörder?" Georg Büchners "Woyzeck" als ciceronianischer Fall


Hausarbeit, 2012

18 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. WOYZECK: EIN KLARER FALL (?)

2. DER ›FALL‹ UND DIE CONTROVERSIA BEI CICERO
2.1 Die quaestio facti - Ob Woyzeck getötet hat?
2.2 Die quaestio nominis - Ist Woyzeck ein ›Mörder‹?
2.3 Die quaestio generis - Möglichkeiten der Verteidigung für Woyzeck
2.3.1 Kann die Beschuldigung zurückgewiesen werden?
2.3.2 Kann die Beschuldigung zurückgeschoben werden?
2.4 Die quaestio actionis - Wird zurecht gegen Woyzeck geklagt?
2.5 Beweggründe Woyzecks

3. ›WOYZECK‹ IM SPIEGEL DER FORSCHUNG

4. WOYZECK: EIN KLARER FALL (!)

QUELLEN

1. WOYZECK: EIN KLARER FALL (?)

GERICHTSDIENER. Ein guter Mord, ein ächter Mord, ein schöner Mord, so schön als man ihn nur verlangen tun kann, wir haben schon lange so kein gehabt. (WOYZECK1, <26>)

Das fragmentarische Dramenstück WOYZECK endet denkbar klar: die Tat ist ein Mord, der Tä- ter ist Woyzeck und das Opfer Marie. Der Gerichtsdiener scheint sogar die Klarheit des ›Fal- les‹ herauszustellen, indem er ihn derart attribuiert. Anscheinend kam schon lange kein sol- cher ›Fall‹ vor, der sich von vornherein als so wenig diskutabel präsentiert. Diesem Mord scheint eine gewisse Exemplarizität inne zu wohnen, denn er ruft in keinem der oben genann- ten Punkte einen Zweifel auf, sodass die Justiz keinen großen Aufwand betreiben müsste. Auch Woyzecks Motiv läge auf der Hand: die Untreue Maries, mit der er zwar nicht verheira- tet war, aber ein gemeinsames Kind hat, um die er sich bemühte und die er finanziell unter- stützte. Marie bandelt allerdings mit einem Tambourmajor an, woraufhin Woyzeck zutiefst gekränkt ist, sich ein Messer kauft und sie ersticht.

Dies alles eröffnet sich dem Leser des Fragmentes, dem Zuschauer des Stückes. Nicht weniger werden im gesamten Kontext auch Woyzecks psychische Probleme deutlich. Doch könnten diese in einem möglichen Gerichtsverfahren, das all die Fakten erst zu verhandeln hätte, überhaupt von Bedeutung sein? Welche Fragen könnten sich stellen?

Die hier vorliegende Arbeit will ergründen, ob es sich bei Woyzeck überhaupt um einen ›Fall‹ handelt und welcher Art dieser Fall wäre. Hier können zwar nur Hypothesen aufgestellt werden, da es im Fragment Georg Büchners kein Gerichtsverfahren gibt, diese Hypothesen werden dennoch auf der Grundlage von Marcus Tullius Ciceros Begründungsformen ein starkes Fundament bekommen.

Im Folgenden wird zunächst Ciceros Fallaufstellung zu präsentieren sein, die einem algorithmischen Prinzip folgt. Auf der Suche nach der jeweiligen Fallart definiert Cicero Begründungsformen, die ebenfalls kurz nachgezeichnet und sogleich auf WOYZECK hin befragt werden. Es wird sich zeigen, welcher Begründungsform WOYZECK eindeutig (bzw. welcher am ehesten) oder ob das Stück mehreren Begründungsformen zuzurechnen wäre. Die Grundlage für diese Untersuchung, die also um 80 v. Chr. niedergelegt wurde, wird durch gegenwärtige Erkenntnisse und Aspekte zu ergänzen sein.

2. DER ›FALL‹ UND DIE CONTROVERSIA BEI CICERO

Für Cicero ist die Hauptbedingung, dass etwas zum Fall wird, der Gegensatz, die controver- sia, die Streitfrage. Es müssen zwei Positionen bestehen, die um ihr Recht streiten. Eine solche Situation macht seiner Abhandlung ÜBER DIE AUFFINDUNG DES STOFFES - ÜBER DIE BESTE GATTUNG VON REDNERN2 nach eine Sache zum Fall. Enthält ein Sachverhalt in sich also irgend- eine Art von controversia, so erfüllt er die Voraussetzungen dafür, in die Form eines Falles gebracht werden zu können. Es stellt sich die Frage, ob es sich bei WOYZECK denn um einen ›Fall‹ im Ciceronianischen Sinne handelt. Auf den ersten Blick und auf Grundlage der oben genannten Aspekte liegt eine controversia per se nicht vor. Doch erst nach genauerer Betrach- tung des Dramas vor der Folie von Ciceros Begründungsformen wird eine fundierte Einschät- zung möglich sein.

Unter Begründungsform versteht Cicero: »Die Frage also, aus der ein Fall entsteht, nennen wir Begründungsform. Die Begründungsform ist das erste Zusammenprallen der Streitpunkte, hervorgegangen aus der Zurückweisung einer Beschuldigung, z.B. auf folgende Art: ›Du hast es getan.‹ - ›Ich habe es nicht getan.‹« (Cicero, S. 25) Hier zeigt sich schon das Problem: Weder wird die Tat Woyzeck direkt vorgeworfen (Es wird am Ende lediglich die Tat benannt und bewertet.), noch stellt sich Woyzeck explizit dagegen.

In einem ersten Schritt wird folgend also die jeweilige Begründungsform Ciceros, von denen es vier gibt, kurz dargestellt. Im nächsten Schritt wird Georg Büchners Stück mit seinen aussagekräftigsten Stellen daraufhin beleuchtet.

2.1 Die quaestio facti - Ob Woyzeck getötet hat?

WOYZECK Nimm das, und das! Kannst du nicht sterbe? So! so! Ha sie zuckt noch, noch nicht noch nicht? Immer noch? (St öß t zu.) Bist du tot? Tot! Tot! (Es kommen Leute, l ä uft weg.)

(WOYZECK, <20>)

Die erste Begründungsform Ciceros fragt danach, ob eine Tat überhaupt stattgefunden hat. Das obige Zitat lässt keinen Zweifel an der Frage - Woyzeck hat die Tat eindeutig begangen. Auch wenn die Figuren im Text auf dieses Wissen nicht zurückgreifen können, so scheint Woyzecks Verbindung mit der Tat naheliegend. Es ginge also unter der Voraussetzung, dasser leugnete, lediglich darum, ihm die Tat zu beweisen.

Cicero bringt einen Aspekt an, der weniger eindeutig zu beantworten ist: »Wenn ein Gegensatz hinsichtlich der Tat besteht, bezeichnet man, da ja der Streitpunkt durch Vermutungen bekräftigt wird, die Begründungsform als auf einer Vermutung beruhend. […] Denn in einer Sache, auf die keine zutrifft, kann es keinen Gegensatz geben; deshalb darf man sie auch nicht für einen Streitfall halten.« (Cicero, S. 25f.)

Die Frage ist also die, ob ein Gegensatz besteht, der durch Vermutungen von mindestens zwei Seiten genährt wird. Die Schlussszene des WOYZECK (<26>) stellt eine Seite klar heraus: die der Anklage, die die Tat als ›Mord‹ bezeichnet. Doch gibt es eine Gegenseite, die einen Antagonismus im Ciceronianischen Sinne begründen würde?

Woyzeck bestreitet die Tat an keiner Stelle explizit, dennoch versucht er sie zu verheimli- chen:

WOYZECK Teufel, was wollt Ihr? Was geht’s Euch an? Platz! oder de ers- te - Teufel. Meint Ihr ich hätt jemand umgebracht? Bin ich Mörder? Was gafft Ihr? Guckt Euch selbst an! Platz da. (Er l ä uft hinaus.)

(WOYZECK, <22>)

Und in der später folgenden Szene WOYZECK AN EINEM TEICH lässt er die Tatwaffe in den Tiefen des Wassers verschwinden und wäscht sich das Blut vom Körper (Vgl. WOYZECK, <24>). Kann Woyzeck aber tatsächlich als Gegenseite fungieren, obwohl es ebenso gut sein könnte, dass er den ihm vorgeworfenen Mord bei einem potentiellen Prozess gar nicht bestreiten würde? Denn dann handelte es sich nicht um einen Streitfall und die Untersuchung liefe schon an dieser Stelle Gefahr sich auf unsicheres Terrain zu begeben.

Cicero nimmt auf diese erste Begründungsform als auf einer Vermutung beruhend noch ein- mal Bezug, indem er ein ein Schema entwirft: »In dieser Sache lautet der Vorwurf eines Ver- brechens: ›Du hast getötet.‹ Die Zurückweisung: ›Ich habe nicht getötet.‹ Daraus ergibt sich dieselbe Begründungsform, d.h. Streitfrage, beruhend auf einer Vermutung, wie der strittige Punkt lautet: Ob er getötet hat?« (Cicero, S. 177) Der hier formulierte Vorwurf scheint sich auch im Drama zu finden, als der Narr in eben der Szene, da Woyzeck vor den ihn verdächti- genden Leuten fortläuft, sagt:

NARR Und da hat de Ries gesagt: ich riech, ich riech, ich riech Mensche- fleisch. Puh! Der stinkt schon. (WOYZECK, <22>)

Ist an dieser Stelle der strittige Punkt zu finden? Zumindest wird von den Leuten die Vermu- tung ausgesprochen, Woyzeck habe jemanden umgebracht. Dieser weist den Vorwurf zurück. Die quaestio facti ließe sich in Bezug auf Woyzeck also dergestalt beantworten: Ja, Woy-zeck hat die Tat begangen. Ein Gegensatz, der sich nur durch das Bestehen zweier Positionen ergibt, könnte folgendermaßen lauten: Die Seite des Volkes bezichtigt ihn eines Mordes, zu-dem ist ein Mord geschehen (Die Äußerung des Gerichtsdieners - das Ende des Fragments - verweist nur auf die Tat selbst, d.h. dass es sich um einen Mord handelt, jedoch fehlt hier die direkte Bezugnahme auf Woyzeck.). Dass Woyzeck als Gegenposition auftritt, muss hingegen postuliert werden durch die Informationen, die der Text zur Verfügung stellt, also aus seinem vertuschenden Verhalten im Wirtshaus und der Verschleierung der Tat durch das Verschwin- denlassen der Tatwaffe.

2.2 Die quaestio nominis - Ist Woyzeck ein ›Mörder‹?

Die zweite Begründungsform Ciceros bezieht sich auf die Benennung: »Ein Gegensatz hinsichtlich der Benennung liegt vor, wenn man sich über die Tat einig ist und nur fragt, mit welcher Benennung man das, was geschehen ist, bezeichnen soll.« (Cicero, S. 27)

Aus den vorangegangenen Aspekten lässt sich durchaus ableiten, dass man sich über die Tat einig ist. Die Frage nach der Benennung ist eine, die der Text selbst nur andiskutiert (»Bin ich Mörder?« WOYZECK, <22>). Am Ende wird das, was geschehen ist, als ›Mord‹ bezeichnet, doch dies kommt wieder von derselben Seite, die der Anklage. Wie Woyzeck sich dazu ver- halten würde, von dem nicht klar ist, ob er die Tat vor einem Gericht zugeben würde, kann auch nicht gesagt werden, ebenso ob er sich gegen die explizite Bezeichnung eines ›Mörders‹ erwehren würde (er stellt die Frage lediglich selbst). Dieser Gegensatz kann wieder nur postu- liert werden. Cicero verlangt, dass die jeweiligen Benennungen erklärt werden müssten (Vgl. Cicero, S. 29). Da nicht klar ist, welche Benennung Woyzeck der des ›Mörders‹ entgegenstel- len würde, kann dies nicht weiter verfolgt werden.

Einige Forschungsansätze (etwa der Campes), die den historischen Fall ›Woyzeck‹ direkt neben Büchners Drama stellen, würden hier Benennungen wie ›Wahnsinniger‹ anbringen und mitunter auf eine Unzurechnungsfähigkeit (des historischen!) Woyzeck plädieren. Der literarische Woyzeck aber soll hier als vom historischen autark betrachtet werden, weshalb es dabei bleiben muss, dass zwar ein Gegensatz in der Benennung anzunehmen ist (Woyzeck verschleiert den Mord und würde sich deshalb wohl nicht ›Mörder‹ nennen); die Antwort auf die Frage nach der Benennung im Terminus ›Mord‹ mündet.

[...]


1 Die Zitation folgt der Lesefassung von Werner R. Lehmann, der die letzte Entwicklungsstufe der Fragmente(H4) zugrunde liegt. In: Büchner, Georg: Werke und Briefe, hgg. von Pörnbacher, Karl et al., München 1988.

2 Cicero, M. Tullius: De Inventione, lat.-dt., hgg. von Nüßlein, Theodor, Zürich 1998.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
"Bin ich Mörder?" Georg Büchners "Woyzeck" als ciceronianischer Fall
Hochschule
Universität Erfurt  (Philosophische Fakultät )
Veranstaltung
Fallgeschichten, Geschichten des Falls
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
18
Katalognummer
V203697
ISBN (eBook)
9783656298236
ISBN (Buch)
9783656299813
Dateigröße
589 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
mörder, georg, büchners, woyzeck, fall
Arbeit zitieren
René Ferchland (Autor:in), 2012, "Bin ich Mörder?" Georg Büchners "Woyzeck" als ciceronianischer Fall, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/203697

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