"Schöne leere Bilder" - Videoclipästhetik und Oberflächendiskurs am Beispiel der Clips und Filme David Finchers


Hausarbeit (Hauptseminar), 2003

45 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Musikvideoclips und ihre Entstehung
2.1. Betreffend das Wort „Video“
2.2. Musikvideoclips als popkulturelles und ökonomisches Phänomen

3. David Finchers Musikvideos
3.1. Videoclips für Paula Abdul
3.2. Videoclips für Madonna

4. Funktionen von Oberflächen in David Finchers Videoclips und Filmen
4.1. Der Übergang vom Clip zum Film
4.2. Oberflächen in Se7en

5. Fazit

6. Quellen

„There's no TV! Have you seen a TV Mike? I haven't seen a TV. Do you know what it means when there's no TV? - No MTV!“

- Sam Emerson in The Lost Boys (1987)

1. Einleitung

In der Filmkritik kam in den 1990er Jahren das Wort Videoclipästhetik in Mode. Gemeint waren damit meist schnell geschnittene, actionreiche so genannte „High Concept“-Filme.1 Seinen Ursprung findet dieses Kino in den Musikvideoclips, die seit Anfang der 1980er Jahre auf MTV gezeigt wurden. Bereits seit den 1980er Jahren haben sich Musikvideos und Werbefilme als Karrieresprungbrett für junge Kinoregisseure und gleichzeitige künstlerische Plattform immer mehr etabliert. Viele Regieanwärter nutzen den Videoclip und den Werbefilm, um sich einen Namen als Gestalter von Kurzfilmen, nichts anderes sind ja die Clips und Werbetrailer, zu machen und sich eine Vita zuzulegen, die es ihnen erlaubt, irgendwann selber einen Spielfilm für das Kino zu inszenieren.

Irgendwann in den 1980er Jahren muss der Begriff einer eigenen, für die Musikvideoclips typischen Ästhetik entstanden sein. Dieser Begriff kann jedoch lediglich als Schlagwort dienen, für eine genaue Beschreibung dieser Entwicklung taugt er nicht.

Um dem Ursprung dieser Tendenz nun etwas näher zu kommen, sollen im Verlauf dieser Arbeit verschiedene Videoclips und Filme zusammengebracht und untersucht werden. Ihre grundlegende Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie alle vom gleichen Regisseur stammen.

Die Wahl fiel deswegen auf den Amerikaner David Fincher, weil sich anhand seiner Arbeiten sehr gut exemplarisch analysieren lässt, wie sich der Übergang der ästhetischen Entwicklung von Videoclips hin zum Spielfilm im Laufe der 1980er und 1990er Jahre vollzogen hat. Von den frühen Musikvideos der Sängerin Paula Abdul aus den Jahren 1988 und 1989, über die für Madonna aus 1989, 1990 und 1993 bis hin zu seinen Spielfilmen (exemplarisch wird hier Se7en (1995) untersucht werden) lässt sich die oben angesprochene Entwicklung nachvollziehen und analysieren. Im Vordergrund soll dabei weniger die persönliche Entwicklung des Regisseurs stehen, sondern vielmehr untersucht werden, in welchem Maße sich aus seinem Werk Rückschlüsse auf eine Reihe von Begrifflichkeiten ziehen lassen, die das Kino der 1990er Jahre entscheidend geprägt haben und wie der Übergang vom Clip zum Kinofilm zu bewerten ist.

Die Untersuchung wird sich dabei zuerst auf die Entstehung der Videoclips und die Entwicklung ihrer ästhetischen Begrifflichkeiten konzentrieren. Von dort ausgehend wird der Übergang zur Untersuchung des Spielfilms Se7en stattfinden. Es wird gezeigt werden, wo sich Parallelen zum Musikvideo finden lassen und in wie fern sich die die ästhetische Entwicklung von den Videoclips ausgehend fortsetzt. Dabei wird vor allem der Begriff der Oberflächen eine Rolle spielen und es wird gezeigt werden, dass sich die Begriffe Oberfläche und Oberflächlichkeit nicht immer gegenseitig bedingen. Der Name David Fincher soll dabei eher als eine Klammer dienen, die es ermöglicht, eine Analyse in einem vertretbaren Umfang vorzunehmen.

2. Musikvideoclips und ihre Entstehung

2.1. Betreffend das Wort „Video“

Mit dem Wort „Video“ (lat. „ich sehe“) werden im Allgemeinen der heute in fast jedem Haushalt in unmittelbarer Nähe des Fernsehers stehende Videorekorder und die zugehörigen Kassetten assoziiert. Dieses Gerät ermöglicht die billige Aufzeichnung und Wiedergabe des Fernsehbildes.

Technisch gesehen arbeitet der Videorekorder ähnlich wie ein Tonbandgerät. Durch einen elektronischen Impuls werden Bild- und Tondaten auf ein Magnetband gespeichert.

Im Unterschied zum lichtempfindlichen Medium Film findet also keine Belichtung statt, und auf einem Videoband wird man auch keine einzelnen Bilder finden. Als Resultat lässt sich festhalten, dass die Aufzeichnung mit dem Videorekorder zwar für den Verbraucher einen ökonomischen Vorteil bietet, weil sie im Vergleich zum Film sehr kostengünstig ist. Die Folge sind jedoch ein starker Qualitätsverlust und im Fall der Benutzung einer Videokamera als Erstaufnahmegerät deutlich veränderte Bildcharakteristika.

Diese Vorbemerkungen sollen darauf hinweisen, dass in der Folge zwar ständig von Videoclips und Musikvideos die Rede sein wird, dies jedoch nicht zwangsläufig bedeutet, dass diese Clips immer auch auf Video gedreht werden. Tatsächlich ist es so, dass viele Clipregisseure die ästhetischen Merkma le des Films schätzen und für ihre Arbeit nutzen wollen. Erst nach der Fertigstellung des Clips werden dann für die Ausstrahlung oder den Verkauf Kopien auf Videoband hergestellt.

2.2. Musikvideoclips als popkulturelles und ökonomisches Phänomen

Das Video zu dem Lied „Video Killed The Radio Star“ des One-Hit-Wonders THE BUGGLES war nicht das erste Musikvideo. Es war aber das erste Musikvideo, welches am 1. August 1981 vom neu gegründeten Sender MTV (Music Television) gesendet wurde. Der Grund dafür, dass die Wahl ausgerechnet auf dieses Video fiel, liegt wahrscheinlich eher im Namen des Songs und in der Tatsache, dass es überhaupt ein Video zu diesem Titel gab, begründet, als in der Qualität des Videos. Der Name kam dann auch einer Kampfansage an das bisher für die Verbreitung von Musik zuständige Medium, dem Radio, gleich. Textlich gesehen orientiert sich der Song selber zwar eigentlich eher in eine videokritische Richtung, das hat aber die Macher von MTV nicht gestört und der Titel als Schlagwort genügte ihnen.2 Viel mehr hatte MTV dann für THE BUGGLES allerdings nicht übrig: MTV verweigerte das Senden des zweiten Clips und die Band verschwand von der Bildfläche. Ganz im Gegensatz zu MTV.

Diese Arbeit setzt in ihren exemplarischen Untersuchungen aus diesem Grund auch erst mit der Einführung von MTV und dem damit verbundenen, rasenden Anstieg der Videoclipproduktionen an. Vor MTV haben Videoclips zu Musikstücken nur eine sehr begrenzte Funktion gehabt, beispielsweise als visuelle Untermalung eines Konzertes. Sie waren von daher aber auch nur einem sehr limitierten Publikum zugängig. Zu einem popkulturellen Phänomen wurden sie erst durch MTV.

Nichtsdestotrotz sollen einige der wichtigsten Einflüsse auf das Genre des Videoclips genannt werden, da diese essentiell für das Verständnis der Entstehung und Funktionsweisen des Videoclips sind.

Bereits in der künstlerischen Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat es Experimente mit Kurz- und Langfilmen gegeben, die dazu gedacht waren, die Songs von Gruppen und einzelnen Künstlern zu illustrieren. Diese Experimente setzten sich bis in die 1960er Jahre fort (als Beispiel können die Beatles-Filme dienen), doch erst der Beschluss des WNBC Networks in New York, einen eigenen Fernsehkanal ins Leben zu rufen, welcher ausschließlich für das Senden von Musikvideos und für die Berichterstattung über die Bands und Künstler zeitgenössischer Popmusik gedacht war, machte das Musikvideo zu einem Phänomen von popkultureller Bedeutung. Hand in Hand mit dem rasch wachsenden Erfolg des Kanals und seiner sich anschließenden Ausbreitung in Form von Zweigstellen und Dependancen in der ganzen Welt, ging die Entwicklung der Musikvideos selber.

Diese Entwicklung dauert an, genau wie auch die Senderfamilie MTV weiter wächst. Was sich aber nach 20 Jahren Musikfernsehen eindeutig nachweisen lässt, ist die Tatsache, dass das Musikvideo in seiner Eigenschaft als Repräsentationsmittel und Spielfeld für junge Regisseure und Filmemacher längst einen sehr hohen Stellenwert einnimmt.

Die Ursachen für diese Entwicklung sind in den Möglichkeiten verankert, die der Clip bietet, um künstlerische Visionen zu verwirklichen. Seinem Ursprung nach ist ein Clip nichts anderes als ein Kurzfilm. Beim Musikvideo kann im Prinzip jegliche Form des Kurzfilms zum Einsatz kommen. Egal ob es sich dabei um einen Experimentalfilm, einen Animationsfilm oder eine herkömmliche Narration handelt. Beliebt sind auch so genannte Performanceclips, die die Band in Aktion, also beim Spielen des betreffenden Songs zeigen. Auch eine Kombination der unterschiedlichen Formen ist möglich; immer präsent ist selbstverständlich der Song, der in den meisten Fällen auch die Länge des Clips vorgibt.3

Was die Clips jedoch alle gemeinsam haben, ist die Tatsache, dass sie die Möglichkeit bieten, unmittelbar auf aktuelle kulturelle und soziale Begebenheiten bzw. Strömungen einzugehen. Dies liegt in der logistischen Beschaffenheit der Entstehungsumstände der Clips begründet. Zum großen Teil liegt den Clips zwar ein Konzept und/oder Script zu Grunde, der Planungs- und Realisationszeitraum ist jedoch wesentlich geringer als bei einem Spielfilm. Dadurch wird eine Flexibilität und Spontaneität garantiert, die einem Spielfilm fehlt.

Im Laufe der Entwicklung, die der Videoclip als Genre durchlaufen hat, entwickelte sich eine eigene Form der Verwendung ästhetischer Gestaltungsmittel, des Einsatzes von Zeichen und Codes, sowie der Rezeption durch den Zuschauer.

Viele der Eigenschaften, die dann in der Filmwissenschaft als postmodern kategorisiert worden sind, haben ihren Ursprung bereits in den Videoclips der 1980er Jahre. Natürlich hat sich der Begriff „postmodern“ inzwischen selbst als relativ dehnbar erwiesen, was zu einer gewissen Abgenutztheit geführt hat. Trotzdem verbergen sich hinter diesem Schlagwort für die Analyse und Untersuchung von Videoclips durchaus verwendbare Begriffe. Als Beispiel seien Zitathaftigkeit, mediale Selbstreferenz und Intertextualität genannt.

Erwähnung finden muss auf jeden Fall noch ein Komplex, der von Silke Riemann in ihrer Arbeit über die Inszenierung von Popmusikern als Popstars in Videoclips angesprochen wird.4 In dem Kapitel „Videoclips und Werbung“ weist sie explizit auf die grundlegende Funktion von Videoclips hin:

„Videoclips sind ursprünglich Werbemittel der Musikindustrie. Ihre ökonomische Funktion setzen sie ästhetisch um. […] beim Stand der vorhandenen Möglichkeiten des Mediums Video und der Ausrichtung unserer gesamten Wahrnehmungsweise auf visuelle Medien fand sich eine neue Form, die kommerziellen Bedürfnisse der Musikindustrie nach Präsenz ihrer Produkte mit den vorhandenen technologischen und künstlerischen Potenzen zu verbinden: der Videoclip.“5

Riemann thematisiert also sogleich auch die Verquickung von kommerziellem Interesse und künstlerischen Möglichkeiten, welche entscheidend für die ästhetische Prägung von Videoclips ist.

In eine ähnliche Richtung argumentieren auch Thomas Mank und William Moritz in ihren Beiträgen in dem Buch Visueller Sound 6 . Beide Autoren stellen fest, dass die Musikvideoclips, die auf MTV gezeigt werden, „dem Experimentalfilm sehr verpflichtet [sind]“.7 Dieser Feststellung kann zumindest für die früheren Clips, die in den 1980er und am Anfang der 1990er Jahren entstanden sind, zugestimmt werden.8 Eine ausführliche Beweisführung folgt, in welcher über die Ursprünge und Zielsetzungen der frühen Experimentalfilmer Auskunft gegeben wird.

Manks und Moritz’ Ausführungen zu Folge ist das Genre der Musikvideoclips den Experimentalfilmern also verpflichtet, es erreicht aber nicht deren avantgardistische Bedeutung und Innovationskraft. Eine der Avantgarde innewohnende Subversivität ist durch die Art der Herstellung von Musikvideos und deren Umgang mit Zitaten und Referenzen nicht mehr gegeben, weil durch die „elektronische Endlosschlaufe“9, die durch die ununterbrochene Sendung von Musikund Werbeclips auf MTV entsteht, lediglich eine Dekodierung der „Mythen der Moderne“10 stattfindet, deren „zerkleinerte Reste nach Belieben in die Simulation eines positiven Weltganzen“11 eingefügt werden.

Bereits in der Wortwahl der Autoren wird deren Bewertungsstandpunkt den Musikclips und deren Machern gegenüber deutlich. Von einem „bunten Brei“12, einer „Abhängigkeit vom Fernsehgerät“13 und einem „vielzelligen Werk von künstlerischer Kälte [und] ohne moralische Identität“14 ist dort die Rede. Im Hinweis auf die Tatsache, dass Musikvideoclips durch ihre Verbreitung im Fernsehen ein Teil der Alltagskultur geworden seien, verrät Mank seinen eigentlichen Ansatzpunkt: Sobald Kunst einer größeren Masse zugänglich wird und dadurch eine intellektuelle Auseinandersetzung mit ihr nicht mehr garantiert ist, verliert sie ihre Integrität und damit ihren künstlerischen Stellenwert. Sie wird degradiert. Wenn sie dann ohnehin schon ihrem Ursprung nach ein Produkt der Kulturindustrie (in diesem Fall der Musikindustrie) ist, so schmälert das ihren Wert noch weiter. So fern dieses überhaupt noch möglich ist.

Dieser Argumentationsfolge liegt ein kulturelles Elitedenken zu Grunde, welches uns zwar den Ursprung und die Einflüsse des Musikvideoclips zeigt, uns aber in der Frage nach der Bedeutung für und der Verbindung zwischen Musikclip und dem zeitgenössischen Mainstreamkino nicht weiterbringt.

Einen Ansatzpunkt bietet Mank dennoch. Er unterstellt, dass „ein Video die interne Zensur des Fernsehsenders und der Plattenstudios erfolgreich absolviert haben [muss], um gesendet werden zu können. Vielleicht bleiben jene Clips ungesendet, die tatsächlich den Anspruch eines Kunstwerkes für sich behaupten können, stünden sie doch damit automatisch im Widerspruch mit den Verteidigungssystemen der Unterhaltungsindustrie. Das widerspricht allerdings nicht der Möglichkeit, dass Videoclips tatsächlich eine innovative Wirkung haben können, auch wenn sie selbst es nicht sind.“15

Dass ein Videoclip von der Marketingabteilung einer Plattenfirma abgenommen wird, bevor es an die Musiksender ausgeliefert wird, soll nicht bestritten werden. Hinter einem Clip steht seitens der Plattenfirma immer ein kommerzielles Interesse, welches durch die Veröffentlichung eines eventuell rufschädigenden Videoclips natürlich nicht gestört werden soll. Dabei jedoch von einem firmeninternen Verteidigungssystem zu sprechen, welches die Veröffentlichung eines wahren Kunstwerkes verhindern würde, scheint vermessen und unrealistisch.

In seinem nächsten Absatz spricht Mank dann aber von der möglichen Wirkung, die Videoclips z.B. auf den zeitgenössischen experimentellen Film haben könnten. Setzt man an diesem Punkt an, so lässt sich als ein mögliches Beispiel auch der zeitgenössische Mainstreamfilm verwenden, den Mank in seine Überlegungen aber nicht aufnimmt, weil er lediglich an einer Wechselwirkung zwischen avantgardistischem Experimentalfilm und dem Clip interessiert scheint.

Trotz allem kommen in Manks Ausführungen Faktoren zur Sprache, die auch für eine Untersuchung des Verhältnisses zwischen Clip und Spielfilm relevant sind. Neben den oben besprochenen Sachverhalten äußert Mank sich auch zu dem Verhältnis von Form und Inhalt. Er geht im Fall des Clips davon aus, dass diese Begriffe äquivalent werden: „Form ist Inhalt“16 und sieht darin die Geburt des kapitalistischen Kunstwerkes.

Von Bedeutung ist in diesem Fall nicht so sehr das kapitalistische Kunstwerk -dass der Videoclip einen sehr kommerziell motivierten Ursprung hat wurde erläutert -sondern vielmehr der Verweis auf die Begriffe Form und Inhalt, die auch in der

Diskussion um die Bedeutung und Funktion von Oberflächen eine entscheidende Rolle spielen werden.

In der sich darauf beziehenden Auseinandersetzung um die Rollen von Form und Inhalt ist der Teilnehmer der Gesprächsrunde „Das attraktive Chaos und die Chance zur Refelexivität“17 Bazon Brock schon etwas weiter. Er geht bereits 198618 vom Musikvideo als Vertreter einer kommerziellen Kunst und einer postmodernen Ausdrucksform aus.

Er definiert einen „reflexiven Gebrauch“19 des Mediums Videoclip:

„Das entscheidende in der Bildsprache ist der reflexive Gebrauch, also die Fähigkeit, die Eigengesetzlichkeiten des Mediums selber zur Sprache zu bringen, um damit seine Reichweite, seine Glaubwürdigkeit, seinen Aussageanspruch kontrollieren zu können.“20

Innerhalb dieser Definition geht es dann nicht mehr darum, zwischen Form und Inhalt zu trennen, sondern gerade um die Auflösung dieser Trennung:

„Beim reflexiven Gebrauch gibt es diese Unterscheidung [zwischen Form und Inhalt] in dem Sinne nicht. Dann wird ja gerade das Medium selbst Gegenstand der Reflexion. Reflexiv heißt ja gerade, dass sich Inhalt und Form in ein und dieselbe Ebene vermitteln und eben nicht mehr auseinandernehmen lassen.“21

Genau diese von Brock angeführten Charakteristika lassen sich einige Jahre später auch im Mainstreamkino wiederfinden. Bezogen auf die Filmgeschichte fand dieser Transfer sehr schnell statt. Bereits Mitte bis Ende der 1980er Jahre lassen sich erste für den Werbefilm und den Videoclip typische ästhetische Merkmale in Kinofilmen wiederfinden.

Der Drehbuchautor und Filmregisseur Paul Schrader sieht das Potential des Videoclips vor allem in zwei Bereichen. Für den Film und die Filmschaffenden sieht er in den Videoclips primär eine Möglichkeit, das Sehvermögen nachhaltig zu erweitern:

„In technischer Hinsicht sind diese Videos das Beste, was dem Film passieren kann. Sie stellen eine ausgezeichnete Möglichkeit für Regisseure dar, ihr Sehvermögen zu schulen.“22

Darüber hinaus sagte Schrader eben jenen Effekt voraus, den Bódy und Weibel dann schließlich auch in ihrem Buch Clip, Klapp, Bum beobachten konnten. Schrader ging davon aus, „dass das Musikvideo in erster Linie einen nachhaltigen Einfluss auf unser Nachdenken über formale Filmexperimente haben würde - d.h. dass es sich aus seiner Assoziierung mit dem avantgardistischen Schaffen lösen würde.“23

Es deutet sich also bereits 1982, als Schrader das betreffende Interview gibt, eine Auflösung der Trennung von Form und Inhalt und einhergehend damit die neue Rolle an, welche die Form in der Zukunft spielen wird.

Die Musikvideos waren insofern Vorreiter für die High-Concept-Filme der 1980er und 1990er Jahre, als dass es nicht zwangsläufig darum geht, eine Geschichte zu erzählen, sondern darum, einen Song zu bebildern bzw. schlicht und einfach mit Bildern zu unterlegen. Dies gilt im übertragenen Sinn auch für die High-Concept-Filme.

Diese Kriterien kamen den jungen Regisseuren, zu denen auch David Fincher gehört, in den 1980er Jahren entgegen:

„Wie wir gesehen haben, zählt Fincher zu einer Generation, die sich in ästhetischer Hinsicht im Grunde mit der eigenen Überflüssigkeit konfrontiert sah: All Geschichten waren längst erzählt, alle Formen durchdekliniert, alle Revolutionen geschlagen und wieder gekontert.“24

Diese Erkenntnis ist für einen jungen Regisseur natürlich nicht besonders ermutigend. Zum einen will er immer noch Geschichten im Kino erzählen, auch wenn das Publikum angeblich schon alles erzählt bekommen hat. Zum anderen will das Publikum aber auch weiterhin ins Kino gehen und sich unterhalten lassen.

[...]


1 „Justin Wyatt (1994) prägte diesen Ausdruck, um sich auf Filme zu beziehen, die in enger Verbindung zu Marketingstrategie n entwickelt wurden und besonders eindrückliche Bilder und leicht zusammenfassbare Geschichten verwenden.“ (zit. nach Eder 2002, S. 163). Deswegen sei hier auch der Hinweis auf die so genannte „Tagline“ gegeben. Als Taglines werden die Ankündigungen auf den Werbeplakaten für Filme genannt. Im High Concept Kino sind die Geschichten der Filme oftmals schon in der Tagline erschöpfend zusammengefasst.

2 Ein Phänomen, dass so nicht nur THE BUGGLES widerfuhr, sondern auch Künstlern von weitaus größerem Bekanntheitsgrad. Bruce Springsteens Lied Born in the USA wird bis heute von vielen Hörern, vor allem auch in seinem Heimatland, als stolze Hymne auf die Vereinigten Staaten von Amerika verstanden. In Wahrheit setzt es sich jedoch kritisch mit dem Vietnamkrieg auseinander. Ein klassischer Fall von Fehlinterpretation und ein Beweis dafür, dass nicht einmal Menschen, deren Muttersprache Englisch ist, den Texten von Popsongs besondere Aufmerksamkeit schenken.

3 Als Beispiel für Ausnahmen dieser Regel kann z.B. der knapp 13 Minuten lange Kurzfilm Thriller dienen, den John Landis 1983 für Michael Jacksons gleichnamigen Song in Szene setzte. Der Song spielt dabei fast eine untergeordnete Rolle, wird in einer sich von der auf der LP veröffentlichten Fassung deutlich unterscheidenden Version verwendet und auch immer wieder unterbrochen, um der Handlung mehr Spielraum zur Verfügung zu stellen.

4 Riemann 1998, S. 38ff.

5 Ebd., S. 38.

6 Hausheer / Schönholzer 1994, S.14ff.

7 Ebd., S. 26.

8 An dieser Stelle sei kurz auf die Kurzfilme hingewiesen, die MTV Europe bis Mitte der 1990er Jahre als Eigenwerbung und Trailer für Shows einsetzte. Diese Filme waren zum großen Teil als Stop-Motion-Filme oder Zeichentrickfilme realisiert worden und zeichneten sich teilweise durch die von Mank und Moritz angesprochenen Merkmale des Experimentalfilms aus. Mit der Einführung von MTV Central (= MTV Deutschland) verschwanden diese Filme, zumindest in Deutschland, von den Fernsehbildschirmen.

9 Hausheer / Schönholzer 1994, S. 17.

10 Ebd.

11 Ebd.

12 Ebd.

13 Ebd.

14 Ebd.

15 Ebd., S. 17-18.

16 Ebd., S. 18.

17 Grimm 1989.

18 Das Gespräch fand bereits 1986 statt, die Transkription wurde aber erst 1989 veröffentlicht.

19 Grimm 1989, S. 8.

20 Ebd.

21 Ebd.

22 Bódy/Weibel 1987, S. 161.

23 Hausheer / Schönholzer 1994, S. 166.

24 Schnelle 2002, S. 43.

Ende der Leseprobe aus 45 Seiten

Details

Titel
"Schöne leere Bilder" - Videoclipästhetik und Oberflächendiskurs am Beispiel der Clips und Filme David Finchers
Hochschule
Universität Hamburg  (Institut für Germanistik II - Medienkultur)
Veranstaltung
Kino als Ort der Diskursivierung gesellschaftlicher Befindlichkeit - am Beispiel der "Alien" - Tetralogie
Note
1,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
45
Katalognummer
V20327
ISBN (eBook)
9783638242325
Dateigröße
921 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schöne, Bilder, Videoclipästhetik, Oberflächendiskurs, Beispiel, Clips, Filme, David, Finchers, Kino, Diskursivierung, Befindlichkeit, Beispiel, Alien, Tetralogie
Arbeit zitieren
Arno Schumacher (Autor:in), 2003, "Schöne leere Bilder" - Videoclipästhetik und Oberflächendiskurs am Beispiel der Clips und Filme David Finchers, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/20327

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