Reflexion: Konstruierte Gehirne


Essay, 2012

13 Seiten


Leseprobe


Wonach sucht die (Gender-)Hirnforschung? Nach Gleichheit oder Differenz?

Was konstruiert sie während ihrer Suche? Ein Geschlecht? Zwei oder mehrere Geschlechter?

Unter welchen Prämissen wird geforscht?

Gelten Hormone, Evolution oder Gesellschaft als Ursachen?

Determinismus oder Freiheit? Und sind unsere Studien alle in gleicher Weise recht und billig oder hat jemand mehr Recht und Gerechtigkeit?

Studien (x), die Unterschiede zwischen zwei, drei, vier oder mehreren Geschlechtern widerlegen wollen, sind mit den gleichen Problemen konfrontiert, wie Studien (y), die Unterschiede herausfinden und beweisen wollen. Sie müssen ihren Gegenstand, ihre Methoden, ihre Ergebnisdarstellungen genauso konstruieren und verhandeln wie Studien, die Unterschiede beweisen möchten. Ganz egal ob Studien x nun vor allem zum Zweck der Kritik oder Relativierung an Studien y betrieben werden, auf wissenschaftstheoretische Fragen aufmerksam machen wollen, oder ob sie mit dem Ziel der Gleichberechtigung vorangetrieben werden, auch sie bilden nur Zustände zu einem bestimmten Zeitpunkt ab und geben keine Antwort darauf, ob diese Zustände notwendig oder zufällig vorliegen, und wie sich diese verändern können.[1]

Allerdings werden jene Forscher_innen, welche evolutionäre Ursachen für Unterschiede im Gehirn annehmen, nicht von einem deterministischen Zusammenhang ausgehen, da sie sonst ihre eigene These untergraben würden. Wer davon ausgeht, dass sich Hirnstrukturen durch Umwelteinflüsse im Lauf der Evolution verändern können, wird vermutlich geneigt sein anzunehmen, dass auch in Zukunft Veränderungen möglich sind.

Wohingegen Forscher_innen, welche die Bedeutung der Hormone (z.B. des Hormonspiegels unserer Mütter während deren Schwangerschaft) auf unsere Gehirne heute untersuchen, eher davon ausgehen müssen, dass Umwelteinflüsse unsere Gehirne nicht so sehr verändern, weil sonst der Einfluss der Hormone unserer Mütter schwer bis gar nicht festzustellen wäre. Forscher_innen, die unsere eigenen Hormone und deren Einfluss auf unsere Gehirnanatomie oder Gehirnphysiologie untersuchen, können sich fragen, ob sie davon ausgehen wollen, dass diese Zusammenhänge zwischen Hormonen und Gehirn nur vorübergehend und veränderbar sind, oder aber ob sie davon ausgehen wollen, dass Hormone unsere Gehirnstrukturen sehr genau festlegen.

Studien, die beim Forschen am lebendigen Menschen von deterministischen Prämissen ausgehen (müssen), damit sie zu Ergebnissen kommen, halte ich grundsätzlich für fragwürdig, ganz egal ob sie mit ihren Ergebnissen auf Gleichheit, Differenz, Zweigeschlechternorm oder Pluralität abzielen. Mit Harding möchte ich „Kritik an dieser Art von biologischem Determinismus“ üben und darauf hinweisen, „dass durch genetische Vererbungsfaktoren Möglichkeitsbereiche festgelegt werden.“[2] Was uns Gene, Hormone, Evolution in die Wiege legen sind Möglichkeiten, vielleicht Grenzen, aber keine Zustände oder Normen. Gehirne entwickeln sich und selbst wenn Hormone (oder anderes) zu einem bestimmten Zeitpunkt Gehirnstrukturen mitprägen (können), heißt das nicht, dass sich diese Strukturen durch Lernen nicht wieder auswachsen, sich z.B. geschlechtsspezifische Unterschiede wieder auflösen können[3].

Alle geschlechtsspezifischen Unterschiede, die zu einem Zeitpunkt x mit oder ohne fMRT, PET oder sonst einer Methode belegt oder widerlegt wurden, sagen nichts darüber aus, wie sich Gehirnstrukturen von Menschen (mit Penis, Vagina oder uneindeutigen oder veränderten Geschlechtsmerkmalen) in Zukunft verändern werden.[4]

Veränderbarkeit kann man glauben oder eben nicht, (denn empirische Beweise werden diese Grundhaltung weder stützen noch widerlegen können.) Ich wende diesen Satz an, Freiheit ist meine Prämisse, sie kann nicht widerlegt oder bewiesen werden[5]. Sie lässt sich auch deshalb nicht beweisen, da sie eine Aussage über die Zukunft ist, die nicht mit Wahrscheinlichkeiten rechnet und keinem beobachtbaren Ist-Zustand korrespondiert und auch keinem Wird-sein-Zustand, da man zum Zweck der Vorhersage von zukünftigen Ereignissen mit notwendigen Kausalzusammenhängen rechnen müsste, aber genau das tut diese Prämisse eben nicht.

Ergo gilt für mich: Es gibt kein weibliches Gehirn. Es gibt kein männliches Gehirn.[6] Es gibt nur Gehirne von Menschen mit vielleicht weiblichen oder männlichen Reproduktionsorganen; und es gibt Menschen, die von einem weiblichen und männlichen Gehirn sprechen, so als gäbe es diese wirklich, obwohl es diese nur als Kategorien in deren Köpfe gibt. Weil es aber diese Kategorien gibt, tun wir gerne so, als ob ihnen reale Gegenstände in der Natur entsprechen würden und weil wir so tun, entstehen diese Gegenstände nach und nach als reale Gegenstände. Der Einfluss symbolischer Systeme, der Einfluss von Metaphern und Analogien auf unser Denken und Handeln ist enorm und der Einfluss unseres Handelns auf das Entstehen von Wirklichkeiten natürlich auch. Denken, Handeln, Sprechen kann Realitäten verändern und erzeugen. Wir konstruieren unsere Wirklichkeit. Wie zufrieden und glücklich wir dann mit diesen Wirklichkeiten sind, ist die Frage.

[...]


[1] Hirnstudien, die Unterschiede zwischen zwei, drei, vier oder mehreren Geschlechtern belegen wollen, sind m.E. nicht nur fragwürdig, sondern sinnlos, egal ob sie die Ursachen für die vermuteten anatomischen oder physiologischen Hirnunterschiede in den Hormonen oder in der Evolution zu finden glauben. Wobei Studien, welche von drei, vier oder mehreren Geschlechtern ausgehen, immerhin eine dualistische Kategorisierung vermeiden, die zu ungewollten Generalisierungen, Essentialisierungen und Hierarchisierungen führen kann. Doch Studien dieser Art sind sinnlos, weil sie nur abbilden, was ist, daraus aber keine weiteren Anwendungen abgeleitet werden können (das heißt, kein Sollen abgeleitet werden kann), da diese Normierungen sexistisch wären. Wenn Studien feststellen, dass Frauen, welche die Pille nehmen, manche Hirnareale vergrößern, geht es in diesen Studien nicht um Unterschiede, sondern um den Einfluss von Pharmaprodukten. Und niemand fragt, ob Männer, welche dieselbe Pille nehmen würden, diese Areale auch vergrößert hätten?

Wenn eine Studie nach dem Einfluss des Menstruationszyklus (oder eines prämenstruellen Syndrom PMS) auf Hirnfunktionen fragt (wie z.B. Stein in ihrer Dissertation in Wien 2008), dann wohl nicht um Frauen zu diskriminieren, sondern um ihnen zu helfen; wenn aber im Rahmen der Veröffentlichung der Studie, die keinen Einfluss des PMS im Gehirn nachweisen konnte (unter Berücksichtigung einer speziellen Serotoningruppe), Frauen generell als aufgrund ihrer Biologie von Depressionen geplagte Wesen dargestellt werden, dann haben die verantwortlichen Wissenschafter_innen m.E. politisch fahrlässig gehandelt.

[2] Sandra Harding: Feministische Wissenschaftstheorie, S. 106.

[3] Mich würden Studien interessieren, die zeigen, wie sich mein Gehirn verändert, je nachdem ob ich acht Stunden am Tag Klavier übe oder nicht, Auto fahre oder nicht, ob ich Milch trinke oder nicht, Rindersteak esse oder nicht, usw. Aber glücklicherweise sind meine Gehirnstrukturen nicht so einfach gestrickt wie die Synapsen der Meeresschnecke Aplysia und selbst wenn man mein komplexes Hirn wirklich aussagekräftig in Bilder übersetzen kann, an denen man deutliche Veränderungen erkennen kann, wüsste man nicht mit Sicherheit, ob gerade das Klavierspielen oder das Autofahren der Grund für die Veränderungen sind. Man müsste mich quasi in Quarantäne setzen, damit nichts anderes Einfluss auf mein Gehirn ausüben könnte, aber dann wäre diese Isolierung ein negativer Einfluss, der die Deutung der sichtbaren Veränderungen erst recht wieder fragwürdig machen würde.

Auch Tierversuche (egal ob mit Ratten, Schimpansen, menschenähnlichen oder unähnlichen Tierarten), die ein bestimmtes tierisches Verhalten in Relation zu Hormonstatus, Genmanipulation oder sonstigen Pharmaprodukten testen, sagen m.E. wenig bis gar nichts über die Handlungsmöglichkeiten des Menschen aus, da sich menschliches Handeln m.E. durch eine andere Freiheit auszeichnet.

[4] Dass sie sich verändern können unabhängig von Rasse, Klasse oder Geschlecht, davon bin ich mit und ohne Eric Kandels Meeresschnecke überzeugt; Und ich werde auch ich Zukunft daran glauben (müssen, weil ich es nicht wissen kann; denn empirischen Beweis wird es dafür keinen geben, da wir aus unserer Gesellschaft nicht aussteigen können und Gehirne nicht unabhängig von Kultur untersuchen können). Und ich werde daran glauben, aus dem einfachen Grund, weil ich mit dieser Prämisse glücklicher und erfolgreicher lebe als ohne ihr. Glück(seligkeit) ist ein nicht zu unterschätzendes „Argument“ bei der Wahl unserer Prämissen.

[5] Hirnforscher_innen, welche an die Unveränderlichkeit bestimmter biologischer Grundlagen im Gehirn glauben oder die Kategorien männlich/weiblich – weil sie nun einmal (in den Köpfen) vorhanden sind, beobachtenswert finden, haben ebenso eine Prämisse, an die sie glauben und die sie niemals beweisen können. Denn sie werden niemals beweisen können, dass nur weil es jetzt so ist, das auch immer so sein muss.

[6] Auch wenn man nicht bestreitet, „dass männliche und weibliche Gehirne sich in etwa einem Dutzend anatomischer Merkmale unterscheiden; die Area preoptica im Hypothalamus etwa (...) bei jungen Männern mehr als doppelt so groß wie bei jungen Frauen (ist)“, heißt das nicht, dass man männliche und weibliche Gehirne für allezeit an diesen Merkmalen wird unterscheiden können, oder das es so sein muss oder sein soll, dass sie sich unterscheiden. Das heißt, dass es unabhängig von unserer Kultur, welche unsere Gehirne prägt, kein männliches und weibliches Gehirn geben würde. Essentialismus oder Existenzialismus? (Nominalismus- und Universalienproblem... Ein ewig alter Streit...) M.E. sind die politischen Konsequenzen, die man aus der essentialistischen (biologistischen) Auffassung ziehen könnte (dass es männliche und weibliche Gehirne auch unabhängig von unserer Kultur gibt) gefährlicher, als jene, die man aus einer existentialistischen Auffassung ziehen kann (die der Meinung ist, dass wir (den Zwang zur) Freiheit haben, dass unsere Entscheidungen unsere Wirklichkeit schaffen und verändern, dass die Existenz der Essenz vorausgeht. Aber das ist eben meine Prämisse, ich lebe sehr gut mit ihr, bin glücklich, wäre ohne sie vielleicht schon tot. In jedem Fall will auch ich nochmals darauf hinweisen: Der Trend, Rollenverhalten als angeboren zu betrachten, ist problematisch. Denn indem man die Verhaltensweisen von Frauen und Männern mit ihrer Biologie erklärt, „verweist man die Geschlechter auf nicht zu hinterfragende Plätze in der gesellschaftlichen Hierarchie". (Vgl. Sigrid Schmitz, Spiegel 4/2003)

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Details

Titel
Reflexion: Konstruierte Gehirne
Hochschule
Universität Wien  (Gender Studies)
Veranstaltung
Science and Technology
Autor
Jahr
2012
Seiten
13
Katalognummer
V203094
ISBN (eBook)
9783656289838
ISBN (Buch)
9783656290636
Dateigröße
460 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
konstruierte, gehirne
Arbeit zitieren
Renate Enderlin (Autor:in), 2012, Reflexion: Konstruierte Gehirne, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/203094

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