Judith Butler - Das anatomische Geschlecht als politisches Phänomen?


Essay, 2009

8 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Im Folgenden stehen dem/der LeserIn zwei Gedankenausflüge zur Verfügung, die auf vielleicht ganz unterschiedliche Weise inspirierend erscheinen könnten.

Von Kindesbeinen an lernen die Einzelnen in der modernen Welt, dass es Geschlechter gibt, die unterschiedliche Eigenschaften aufweisen und im Leben teilweise unterschiedliche Aufgaben übernehmen. Spätestens mit der Erkenntnis, dass die Eltern in typischen heterosexuellen Beziehungen eine Frau und ein Mann sind, von denen die eine für die Kinder sorgt und der andere für den Lebensunterhalt, erkennen sie, dass ein deutlicher Unterschied besteht und dieser genau binär zu betrachten ist. Diese Erkenntnis entsteht auch dann, wenn diese normierte Situation nicht vollkommen besteht, denn auch in Familien, in denen beide Eltern berufstätig sind oder sich gleichberechtigt um die Erziehung bemühen und in solchen, wo homosexuelle Paare diese Aufgabe bewerkstelligen, wird mit dem Kontakt zur Umwelt deutlich, dass dies etwas besonderes ist, so dass die Norm gerade durch den Gegensatz deutlich zu Tage tritt.

All dies erscheint den Einzelnen als ‚natürlich‘ und ‚nicht anzweifelbar‘, weil es derart grundlegend in der Erlebniswelt verankert ist, dass ein Zweifel erst dann aufkommen kann, wenn bestehende Widersprüche bewusst werden. Widersprüche, die sich gleichsam unweigerlich auftun, wenn gesetzte Normen situativ problematisch werden und nicht mehr logisch oder zweckdienlich erscheinen und zu einem reflektieren zwingen.

Gründe für derartige Situation finden sich in der Erlebniswelt Einzelner viele: Ungerechtigkeiten, die widersinnig den eigenen Vorstellungen entgegenstehen; Paradoxeme, die sich in ganz unterschiedlichen Situationen auftun und zu der Frage führen, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Schlussendlich scheint dieses Streben nach dem Verstehen der Umwelt der eindeutigste Grund zu sein, aufmerksam zu werden, wenn sich eine Situation ergibt, die dem eigenen Bild von der Umwelt widerspricht.

Darüber, warum die Situation sich eben so und nicht anders darstellt, existieren u.a. in der geschlechterspezifischen und soziologischen Auseinandersetzung verschiedene Auffassungen. Regine Gildemeister[1] greift in ihrer Auseinandersetzung die verschiedenen Ansätze auf und erklärt diesen Umstand mit dem Prozess der Naturalisierung, der hier skizziert werden wird.

Innerhalb dieses Prozesses lernten die Einzelnen mittels ihrer Wahrnehmung Einstellungen und Verhaltensweisen, hier bezüglich des Geschlechtes, eine eigene Konstruktion von Geschlecht und Geschlechterzugehörigkeit zu entwerfen, die gerade durch die Prozesshaftigkeit als natürlich empfunden würde. Dies geschehe in drei Schritten, die in ihrer Verbindung diesen Eindruck noch verstärkten, da sie sich untereinander legitimierten.

Mit Geburt würde das Kind einer ersten Zuordnung unterworfen, die, unter Rückgriff auf die Biologie, feststellte, welchem Geschlecht es angehöre und es für lebensfähig erklärt.[2] Im zweiten Schritt lerne es, in seinem erwachenden Bestreben ein Teil der Gesellschaft, und damit seiner Umwelt, zu werden, welche Eigenschaften und Verhaltensweisen welchem Geschlecht zuzuordnen seien und wie es sich selbst zuordnen könne, um ein anerkannter Teil derselben zu sein. Diese, mit dem Alter immer deutlichere, soziale Auseinandersetzung bringe eine eigene geschlechtliche Zuordnung hervor, die selbsttätig aus den sozialen Bedingungen und den eigenen Eindrücken konstruiert würde. Aufbauend würde die Konstruktion in einem permanenten, lebenslangen Prozess innerhalb sozialer und kultureller Zusammenhängen interaktiv reproduziert und bliebe für eine adäquate Teilnahme an der Umwelt unverzichtbar.

Auf diese Weise entstehe ein ‚natürliches‘ Empfinden, das durch die soziale Interaktion stets wieder bestätigt würde und sich dadurch fest in das Leben der Einzelnen integriere. Das Geschlecht und die Geschlechterzugehörigkeit würden dadurch feste Kategorien, die sich innerhalb der sozialen Interaktion in einem dynamischen Prozess regelmäßig reproduzierten und festigten, um ‚gesellschaftsfähig‘ zu sein.

Was geschieht aber, wenn ein Widerstand oder ein Paradoxon auftritt? Es steht, nach den vorrangegangen Erläuterungen zu erwarten, dass ein dynamischer Prozess, der auf Konstruktionen Einzelner basiert, als modifizierbar betrachtet werden kann, und so innerhalb der Interaktion wandelbar sein sollte. Eine Annahme, die mit Gildemeister zutrifft, jedoch ihre Grenzen hat, die sich sowohl in den normierten Einstellungen, als auch in den institutionalisierten Grundlagen der erlebten Umwelt verdeutlichen. Demnach ist es durchaus möglich, innerhalb des Freundeskreises absolut gleichberechtigt zu handeln, jedoch im Kontakt mit der Umwelt in jedem Fall notwendig zugunsten der Teilhabe zu tolerieren, dass hier ein gegenteiliges Handeln von Nöten sein könnte, wenn ersteres, z.B. in hierarchisierten Institutionen, nicht möglich bleibt.

Toleranz bedeutet jedoch nicht Akzeptanz und so kann mit Gildemeister das Fazit gezogen werden, dass eine Modifikation durch neue Verhaltensweisen innerhalb der Interaktion möglich werden könnte, so dass die Norm sich mit dem Handeln der Einzelnen als wandelbar erwiese und diese ebenfalls wandelbar machte.[3]

Butler geht hierbei, ebenso wie Gildemeister, von einem konstruktivistischen Theorieansatz aus, der ‚Geschlecht‘ als sozial konstruiert betrachtet und es daher als eine Kategorie auffasst, deren Ursprung in den sozialen Bedingungen der Umwelt zu finden ist. ‚Geschlecht‘ ist folglich gerade keine biologische Kategorie, sondern immer sozial konstruiert.[4]

[...]


[1] Vgl.: Gildemeister, Regine: Soziale Konstruktion von Geschlecht: Fallen, Missverständnisse und Erträge einer Debatte. In: Rademacher, Claudia/Wiechens, Peter (Hg.): Geschlecht, Ethnizität, Klasse: Zur sozialen Konstruktion von Hierarchie und Differenz. Opladen 2001, 65-87

[2] Trifft diese biologische Wissensgrundlage und die Grundannahme der Zweigeschlechtlichkeit nicht zu, so wird das Kind innerhalb der gängigen Praxis einem Geschlecht zugeordnet und seinem Leben überantwortet.

[3] Für ein solches Fazit finden sich vielfältige Beispiele, wie z.B. die steigende soziale Anerkennung von Frauenarbeit und Karrierefrauen, sowie Homosexualität beider Geschlechter und kinderbertreuenden Männern. Eine zunehmende Anerkennung sagt nichts über die Ausprägung aus, ob diese Veränderungen etwa toleriert, respektiert oder akzeptier werden. Sie zeigt lediglich, dass sich eine Wandlung gibt, die sich bemerkbar macht und die Theorie unterstützt.

[4] Diese klare Abgrenzung wirft viele Fragen auf, die hier nicht im Einzelnen zu klären sein werden. Am auffälligsten bleibt auch heute nach wie vor die Frage, ob die Biologie so klar von sozial geprägten Bedingungen zu trennen sei. Eine Frage, die der konstruktivistischen Theoriebildung durchaus zum Vorwurf gemacht werden kann, wenn, die aus dem Alltagsverständnis bekannte, z.B. für die Geschlechterdifferenzierung notwendige, biologische Unterscheidung zugrunde gelegt wird. Da es hier jedoch um die Offenlegung der Konstruktion der Kategorie geht, wird diese Frage zugunsten des Zieles begründet exkludiert und im Wesentlichen durch die KritikerInnen aufgenommen.

Ende der Leseprobe aus 8 Seiten

Details

Titel
Judith Butler - Das anatomische Geschlecht als politisches Phänomen?
Hochschule
Europa-Universität Flensburg (ehem. Universität Flensburg)
Note
1,7
Autor
Jahr
2009
Seiten
8
Katalognummer
V202709
ISBN (eBook)
9783656294788
Dateigröße
406 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
judith, butler, geschlecht, phänomen
Arbeit zitieren
Melanie Johannsen (Autor:in), 2009, Judith Butler - Das anatomische Geschlecht als politisches Phänomen?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/202709

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