Eskapismus durch Serienkonsum: Der Einfluss von Online Streams auf suchtartiges Verhalten


Bachelorarbeit, 2012

86 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretische Grundlagen
2.1 Forschungsansatz Eskapismus
2.2 Hypothese: Zwei „Typen“ von Eskapismus
2.3 Klärung des Suchtbegriffes
2.4 Das Format der Fernsehserie
2.5 Begriffserklärung: Online Streams
2.6 Abgrenzung von Streams zu DVD-Konsum
2.7 Rechtlicher Hintergrund: Ist das Streamen in Deutschland legal?

3. Die Interviews
3.1 Methodik
3.1.1 Problemzentrierte, leitfadengestützte Interviews nach Mayring
3.1.2 Der Fragebogen
3.1.3 Die Probanden
3.1.4 Aufbereitung: Transkription und Protokoll
3.2 Auswertungsverfahren
3.3 Auswertung
3.3.1 Anna
3.3.2 Leonie
3.3.3 Veronika
3.3.4 Alexander

4. Ergebnisse

5. Ausblick

6. Anhang
6.1 Literaturverzeichnis
6.2 Abkürzungsverzeichnis
6.3 Transkription: Experteninterview mit Detlef Scholz
6.4 Auszug: Fragenkatalog
6.5 Kurzfragebogen
6.6 Hauptfragebogen
6.7 Transkription: Interview mit Anna
6.8 Transkription: Interview mit Leonie
6.9 Transkription: Interview mit Veronika
6.10 Transkription: Interview mit Alexander

Eidesstattliche Erklärung

CD: Interview-Mitschnitte und Textdateien

1. Einleitung

Die mediale Landschaft unterliegt einem stetigen Wandel. Jedes neue Leitmedium beeinflusst die Nutzungsgewohnheiten der Konsumenten. Während die vergangenen Jahrzehnte von Radio und Fernsehen dominiert wurden, ist mit dem Internet eine zusätzliche mediale Großmacht auf dem Spielfeld erschienen. Laut einer Studie von ARD und ZDF nimmt besonders bei diesem Medium die Nutzungsdauer von Jahr zu Jahr weiter zu. Die Altersgruppe der 14- bis 29-jährigen verbringt am Tag bereits mehr Zeit im Internet (147 min.) als vor dem Fernseher (146 min.) oder dem Radio (145 min.)[1] . (Vgl. ARD & ZDF, 2012, o.S.) Wie genau sich die neuen Rezeptionsmöglichkeiten des Internets auf die Konsumgewohnheiten der Menschen auswirken, ist bislang ungenügend erforscht. Dabei besteht hier ein großer Handlungsbedarf, um sowohl Chancen als auch Gefahren dieser neuen Entwicklung eruieren zu können.

Das Internet bringt eine neue Dimension der Verfügbarkeit medialer Inhalte mit sich. Die vorliegende Arbeit untersucht erstmals, wie sich dieses Phänomen auf die Gruppe der ‘Serienjunkies’ und auf deren eskapistische Tendenzen auswirkt.

Die neue Omnipräsenz diverser TV-Formate wird besonders an der Distributionsform der Online Streams deutlich. Daher beschränkt sich das Forschungsfeld auf Konsumenten, die ihre Serien auf diese Weise beziehen.

Als theoretisches Fundament der Arbeit dienen neben der Fachliteratur zum Thema Eskapismus auch Werke des Uses – and – Gratifications – Ansatzes. Auf Basis dieser Informationen habe ich die Hypothese aufgestellt, dass es zwei verschiedene Typen von Eskapismus gibt, die von einander anhand von typischen Verhaltensmerkmalen abgegrenzt werden. In der Arbeit wird zudem untersucht, inwiefern es sich bei exzessivem Eskapismus um eine Sucht handeln könnte. Hierbei orientiere ich mich an den Diagnosekriterien der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Zusätzlich habe ich ein Experteninterview durchgeführt. Die Einschätzungen des Mediensuchtexperten Detlef Scholz sind praxisnah und berücksichtigen zudem die Einflüsse des Internets auf das Verhalten der Probanden.

Ebenfalls wird das Format der TV-Serie definiert und die Funktionsweise von Online Streams erörtert. Aufgrund der aktuellen Relevanz folgt ein Überblick über die rechtliche Beurteilung von Streaming-Seiten.

Bevor die Arbeit sich der methodischen Herangehensweise zuwendet, liefert der Abschnitt „Interviews“ einen Überblick über die verschiedenen Hypothesen, die ich während der theoretischen Vorarbeit aufgestellt habe.

Die Methodik für die Befragung der Probanden ist der qualitativen Sozialforschung zuzuordnen. Sie ermöglicht es, auch in der sich immer weiter pluralisierenden Gesellschaft, gezielt auf spezielle Problemzusammenhänge einzugehen. (Vgl. Flick, 2006, S.12f.) Das dafür notwendige detaillierte Material wird in Form von vier leitfadengestützten Interviews erhoben.

Die Auswertung erfolgt durch eine Kombination aus der sozialwissenschaftlich-hermeneutischen Paraphrase und der Typologischen Analyse. Mit Hilfe dieses ‘maßgeschneiderten’ Verfahrens können die Forschungshypothesen zum eskapistischen Serienkonsum adäquat überprüft werden.

Um in einer Bachelorarbeit zu validen Ergebnissen kommen zu können, muss der untersuchte Forschungsrahmen stark eingegrenzt werden. Im Laufe der Forschung werden dementsprechend oftmals Phänomene entdeckt, die nicht weiter betrachtet werden können. Diese Anstöße für weiterführende Untersuchungen werden zum Abschluss der Arbeit im „Ausblick“ thematisiert.

2. Theoretische Grundlagen

Diese Arbeit erforscht ein sehr spezifisches Verhalten, das eng mit neuesten medialen Erscheinungsformen verknüpft ist. Zwar existieren dementsprechend keine Untersuchungen, die sich der gleichen Thematik widmen. Dennoch gibt es Theorien und Untersuchungen, die sich bspw. mit dem Eskapismus im Allgemeinen befassen. Derartige Informationen bilden die Grundlage für spezifischere Überlegungen. Die Kombination aus etablierter Theorie, Expertenwissen und eigenen Hypothesen liefert eine solide Basis für die qualitative Forschung. Um die Faszination zu veranschaulichen, die von TV-Serien ausgehen kann, gibt es einen Exkurs, der sich mit viralem Marketing beschäftigt. Beispielhaft wird daran erläutert, warum sich gerade das Format der Serien für eskapistisches Verhalten eignet.

2.1 Forschungsansatz Eskapismus

Seit den späten 60er und frühen 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ist das Phänomen der Massenkommunikation verstärkt in den Fokus der Forschung gerückt. Die dafür entwickelten Theorien lassen sich in erster Linie dahingehend differenzieren,

ob den Medien ein integrierender oder ein vereinsamender Effekt auf die Mitglieder der Gesellschaft zugeschrieben wird, und

ob ihre Wirkung als funktional oder dysfunktional angenommen wird. (Vgl. Bonfadelli, 2004, S. 167)

Bereits 1962 hatten sich Elihu Katz und David Foulkes in einer Veröffentlichung mit den Massenmedien beschäftigt. Dabei stellten sie nicht die Auswirkungen der Medien in den Vordergrund, sondern die Motivation der Nutzer für den Konsum. (Vgl. Foulkes/Katz, 1962,S. 378f.) Der Nutzer wird nicht länger als passiver Reizempfänger im Sinne des Stimulus-Response-Modells betrachtet, sondern vielmehr wird die […]Zuwendung zu bzw. die Nutzung von Medien […]als eine Form des sozialen Handelns verstanden, die aktiv, zielgerichtet und sinnhaft ist. Der einzelne Rezipient bestimmt in Abhängigkeit seiner Bedürfnisse, Probleme und Erwartungen, ob und wie er ein bestimmtes Medium oder einen bestimmten Medieninhalt nutzt oder nicht. (Bonfadelli, a.a.O., S.168)

Die Nutzer wollen durch den Medienkonsum also bestimmte Bedürfnisse befriedigen, oder sie sind auf der Suche nach einem Mittel zur Lösung von individuellen Problemen. Denis McQuail benennt als gewünschte Effekte neben der Informationssuche, dem Streben nach persönlicher und sozialer Identität und Integration außerdem die Unterhaltungsfunktion. Zu dieser Kategorie zählt er nicht nur das Bedürfnis nach Entspannung und emotionaler Entlastung, sondern auch das Streben nach Ablenkung und die Wirklichkeitsflucht. (Vgl. McQuail, 2010, S. 87f.) Den Wunsch, sich in alternative Realitäten zu flüchten, haben bereits Katz und Foulkes in ihrer Abhandlung ‚On the Use of Mass Media as “Escape“‘ beschrieben:

People are deprived and alienated, it is suggested, and so they turn to the dreamlike world of the mass media for substitute gratifications, the consequence of which is still further withdrawal from the arena of social and political action. (Katz/Foulkes, a.a.O., S. 379)

In der Mediennutzungsforschung wird das Eskapismus-Phänomen dem Uses-and-Gratifications-Ansatz zugeordnet, der sowohl soziale als auch psychologische Merkmale der Rezipienten für die individuellen Nutzungsgewohnheiten verantwortlich sieht (Vgl. Reimer, 2008, S. 297). Peter Vorderer macht einen als unbefriedigend wahrgenommenen Alltag dafür verantwortlich, Rezipienten dazu zu bringen, „vorübergehend aus der Realität, in der sie leben, kognitiv und emotional ‚auszusteigen‘.“ (Vorderer, 1996, S. 311) Mit Hilfe eines Mediums trachten Nutzer dementsprechend danach, sich zeitweilig von ihrem Leben zu distanzieren.

Da nicht nur diejenigen Menschen, die sich in unangenehmen oder schwierigen Situationen befinden, von dem Phänomen der Alltagsflucht betroffen sind, wird der Eskapismus mittlerweile als ein Grundbedürfnis der Menschen verstanden. Zudem wird in dem Medienkonsum die Möglichkeit für die Rezipienten erkannt, sich auf sichere Art und Weise in die gefährlichsten Situationen zu bringen, ohne dadurch Schaden nehmen zu können. (Vgl. Ebd., S.311ff.) Durch die Rezeption können Nutzer sich so eine Art von Ersatzbefriedigung verschaffen. (Vgl. Vorderer, 1992, S. 108) Die eigenen Probleme können so vergessen, oder zumindest zeitweise verdrängt werden. Die Rezipienten können sich aufgrund des heute reichhaltig zur Verfügung stehenden Angebotes gezielt für diejenige mediale Spielart entscheiden, die sich am besten für die Befriedigung der eigenen eskapistischen Bedürfnisse eignet.[2]

Diese Arbeit befasst sich ausschließlich mit dem Eskapismus durch TV-Serien. Im Fokus stehen die Anbieterseiten die es ermöglichen, die Formate online zu streamen. Es gilt zu untersuchen, aus welchen Gründen sich der spezifische Nutzer gerade der Serien bedient, um seinen Eskapismus zu vollziehen. Auch ist es in diesem Bereich besonders interessant, sich von der im Zuge des rezipientenorientierten Uses-And-Gratification-Ansatzes in den Mittelpunkt gerückten „What do people do with the media“-Perspektive (Katz/Foulkes, a.a.O., S. 379) ein Stück weit zu entfernen. Im Gegensatz wird auch der Umkehrschluss in Betracht gezogen: „What do the media do to people [?]“ (Ebd., S. 379). So kann ermittelt werden, ob medialer Konsum tatsächlich einen „verstärkten sozialen und politischen Rückzug“ (Vorderer, 1992, S. 108) der Rezipienten hervorruft.

Bei der Erforschung der Motivation der Rezipienten und der damit einhergehenden eskapistischen Tendenzen sind noch zu wenige Untersuchungen angestellt worden, um aufschlussreiche Ergebnisse zu erhalten. (Vgl. McQuail, 2010, S. 499) Diejenigen Befragungen, die bereits auf diesem Gebiet durchgeführt worden sind, kann man stets dem Uses-and-Gratification-Approach zuzuordnen. Dieser verbreitete Ansatz wird jedoch bspw. durch Michael Meyen aufgrund seiner ‚Theorielosigkeit‘ kritisiert. Dementsprechend dreht sich laut Meyen die entsprechende Forschung im Kreis: „Sie [die Forscher] führen die Mediennutzung auf Bedürfnisse zurück (zum Beispiel Eskapismus), leiten diese Bedürfnisse aber wiederum aus der Mediennutzung ab […]“. (Meyen, 2004, S. 23) Hinzu komme ein Mangel an fundierter psychologischer Beleuchtung der eskapistischen Tendenzen. (Vgl. Ebd., S.23)

In dieser Arbeit wird versucht, zumindest auf dem Gebiet des Serienkonsums Erkenntnisse über die Wechselwirkungen zwischen dem Bedürfnis nach Eskapismus und den Auswirkungen eines erhöhten Konsums auf die Probanden zu liefern. Es wird ermittelt, ob exzessiver Konsum negative Konsequenzen für das Arbeitsleben oder die sozialen Kontakte hat und ab wann aus der Gewohnheit Sucht wird.

2.2 Hypothese: Zwei „Typen“ von Eskapismus

Bei Eskapismus handelt es sich um die Flucht aus dem Alltag in eine alternative Realität. Da diese Arbeit sich nur sehr bedingt auf vorangegangene Forschung beziehen kann, gewinnt ein fundiertes praktisches Wissen über die Materie an Bedeutung. So gründet das Vorverständnis der Verfasserin auch darauf, dass sie selbst mit Hilfe von Streams Serien konsumiert hat. Auf diese Weise war es möglich, eigene Hypothesen zu der Motivation für Eskapismus zu generieren. Je nach individueller Affinität sind verschiedene Ausprägungen dieses Fluchtverhaltens denkbar:

Meiner Hypothese nach gibt es zum einen den Abtaucher (Typ A). Dieser flieht in eine spezifische, bewusst-gewählte Serienstruktur. Der Konsument geht in der Realität seiner Lieblingsserie oder seinen Lieblingsserien auf. Er beschäftigt sich auch abseits der einzelnen Folgen mit der Materie und informiert sich bspw. über deren Entstehungsprozess oder Hintergrundinformationen zu den dargebotenen Inhalten. Auch konsumieren die Probanden, die dem Eskapismus-Typ A entsprechen, die Soundtracks ihrer präferierten Formate. Ein weiteres typisches Merkmal besteht in der Rezeption von Interviews der mitwirkenden Schauspieler. Auf diese Weise wird die als ideal verstandene Serienwelt in den Alltag eigenen integriert.

Ein Konsument, der idealtypisch Typ A entspricht, befasst sich gedanklich auch längerfristig mit der Serie, da sie ihm zum Beispiel aus Gründen der Dramatik, Ästhetik oder aufgrund der Handlung besonders zusagt. Er schaut sich die gleichen Folgen mehrere Male an. Außerdem tauscht er sich in seinem direkten Umfeld, oder auf Diskussionsplattformen im Internet mit anderen Konsumenten über die Serie aus. Bei der Suche nach einer neuen Serie informiert sich der Rezipient im Vorhinein durch Rezensionen oder Pilot-Folgen[3] . Wenn sich ihm eine neue Serie nach einigen Folgen nicht erschließt, bricht er sie wieder ab. Schließlich ist sie sonst für das intensive Abtauchen ungeeignet.

In Bezug auf den Vorgang des Streamens ist bei Typ-A Konsumenten besonders dann mit erhöhter Aggression zu rechnen, wenn eine bestimmte Folge auf den diversen Plattformen nicht auffindbar ist. Schließlich muss der Rezipient dadurch eine Episode überspringen. Besonders bei Formaten, deren Episoden inhaltlich auf einander aufbauen, möchte der Konsument nichts verpassen, da er sich mit den Charakteren identifiziert. Auch die Bildqualität spielt für Typ A eine Rolle, da der Konsument keine Abstriche bei der Rezeption hinnehmen möchte.

Der andere Konsum-Typus ist der des Abschalters (Typ B). Im Gegensatz zu Typ A besteht dessen Priorität darin, der Realität möglichst langfristig zu entfliehen. Der Konsument legt dabei keinen übergeordneten Wert auf die spezifische Serie. Er schaut - in fast willkürlicher Manier - viele verschiedene Serien. Er informiert sich nicht über die einzelnen Formate und beschäftigt sich bereits nach kurzer Zeit nicht weiter mit einer ‘aufgebrauchten’ Serie. Stattdessen beginnt er ein neues Format.

Der Rezipient des Typ B schaut sich mehrere Serien parallel an und konsumiert auch diejenigen Formate, die ihm eigentlich nicht sonderlich zusagen. Anstatt lange nach einer spezifischen Folge zu suchen, lässt er sie aus, oder wechselt gleich die Serie. Auch die Bildqualität spielt für ihn keine große Rolle.

Der Eskapismus des Typ B zeichnet sich durch eine längere Rezeptionsdauer aus. Währenddessen lebt ein Konsument des Typ A die eskapistischen Tendenzen eher dadurch aus, dass er sich auch nach Beendigung des Konsums gedanklich weiter mit der Serie befasst. Während der Typ A aus Gründen der Identifikation konsumiert, und weil er die Serienwelt für erstrebenswerter hält, geht es Typ B um eine etwas pragmatischere Alltagsflucht: Während man eine Serie schaut, kann man sich nicht mit Anderem, bspw. mit der Arbeit, befassen.

Inwiefern die Hypothese zutrifft, dass es zwei Typen von Eskapismus gibt, wird anhand der Leitfaden-Interviews überprüft. Es ist nicht davon auszugehen, dass es einen Probanden gibt, der alle erwähnten Phänomene zeigt. Die formulierten Verhaltensmuster entsprechen einem Ideal-Typus. Vielmehr werden eskapistische Ausprägungen dahingehend untersucht, ob sie eher dem Typ Abtaucher oder dem Typ Abschalter zuzuordnen sind.

2.3 Klärung des Suchtbegriffes

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit exzessivem Konsum von Serien. Viele Nutzer konsumieren mehrere Stunden täglich. Daher erscheint es sinnvoll, der Frage nachzugehen, ob exzessiver Serienkonsum Suchtcharakter annehmen kann.

Zunächst wird der Begriff der Sucht eher mit dem übermäßigen Konsum von psychoaktiven Substanzen wie Alkohol oder anderen Rauschmitteln verbunden. Jedoch treffen bei zwanghaften Verhaltensweisen die gleichen Gesetzmäßigkeiten zu. Allgemein wird Sucht als „das zwanghafte Verlangen nach bestimmten Substanzen oder Verhaltensweisen[verstanden], die Missempfindungen vorübergehend lindern und erwünschte Empfindungen auslösen. Die Substanzen oder Verhaltensweisen werden konsumiert bzw. beibehalten, obwohl negative Konsequenzen für die betroffene Person und für andere damit verbunden sind.“ (Täschner & Wanke,1985, S.13)

In Bezug auf den zwanghaften Konsum von Serien würde sich dies folgendermaßen äußern: Missempfindungen des Alltags, wie Stress oder Langeweile, werden von dem Rezipienten mit Hilfe seiner Lieblingscharaktere ausgeblendet, obwohl er deswegen bspw. einen Arbeitsauftrag nicht erledigen kann.

Die Wissenschaft ist sich heute weitestgehend darüber einig, dass sich Suchtverhalten nicht monokausal und linear entwickelt, sondern dass sich verschiedene Ursachen dabei interaktiv verknüpfen. So wirken sich z. B. die Art des gewählten Suchtmittels und das gesellschaftliche Umfeld auf den Prozess aus. (Ebd. S.13) Die dementsprechend hohe Komplexität der Suchtstruktur macht es schwer, im Forschungsprozess zu Ergebnissen zu kommen, bei denen einer Ursache genau eine spezifische Wirkung zugeschrieben werden kann.

Wichtig ist daher die aufmerksame Betrachtung unterschiedlicher Faktoren, die dem eskapistischen Bedürfnis eine derartige Priorität verleihen, dass es suchtartige Züge annimmt.

Neben der oben bereits erwähnten Bereitschaft auch negative Konsequenzen in Kauf zu nehmen, gehört zur Sucht, dass der Konsument immer stärker die Kontrolle über sein Verhalten verliert. Schließlich kommt es dazu, dass „eine prozesshafte Abfolge in sich gebundener Handlungen kritisch geprüfte, sorgfältige und folgerichtig gesteuerte Handlungsabläufe ersetzt.“ (Ebd. S.13) Durch den Verlust des eigenen Willens wird der Krankheitscharakter von Sucht besonders deutlich. Es kann zu einer Beeinträchtigung der Persönlichkeitsentwicklung kommen und Sucht „[…] zerstört die sozialen Bindungen und die sozialen Chancen des Individuums." (Wanke, 1985, S.20)

Der Vollständigkeit halber soll angemerkt werden, dass eine Sucht erst dann als Krankheit bezeichnet wird, wenn entsprechendes Verhalten nicht mehr nur vereinzelt, wie in einer „[…]Flucht- oder Unwohlsituation eintritt, sondern zu einem eigendynamischen, zwanghaften Verhalten wird, das sich selbst organisiert hat und sich rücksichtslos beständig zu verwirklichen sucht.“ (HLS, o J., o.S.)

Auch bei dem Vorliegen mehrerer Indikatoren ist es wichtig zu bedenken, dass die „[…] Übergänge von

Die ‚Hessische Landesstelle für Suchtfragen‘ (HLS) gibt an, dass mangelndes Selbstvertrauen, Minderwertigkeitsgefühle oder Verantwortungsscheu ebenso in Sucht resultieren können wie Problemangst. (Vgl. HLS, o J., o.S.) In Bezug auf die verschiedenen Typen des eskapistischen Serienkonsums ist das Motiv der Problemangst dem Abschalter -Typus zuzuordnen. Faktoren wie mangelndes Selbstwertgefühl hingegen veranlassen Betroffene dazu, auf der Suche nach Identifikationsfiguren in eine alternative Realität abzutauchen , was dem Eskapismus Typ A entspricht .

Ebenso wie die Onlinesucht, ist auch die Seriensucht bislang nicht als Suchterkrankung annimmt. Dementsprechend gibt es noch keine allgemeingültige Definition. Trotzdem kann mit Hilfe einer Reihe von Kategorien ermittelt werden, ob ein Verhalten Suchtcharakter gewinnt. Die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebene ‚Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme‘ (ICD) führt hier acht Suchtkriterien an (DIMDI, 2008, o.S.). Diese beziehe ich auf Online Stream-bedingte Seriensucht:

1. Kontrollverlust : Der Rezipient kann nicht mehr frei darüber entscheiden, wann und wie viele Serien er streamt.
2. Abstinenzunfähigkeit : Der Rezipient kann mit dem Streamen keine Pause mehr machen.
3. Wiederholungszwang : Es kommt zum routinierten, regelmäßigen Konsum von Serienstreams
4. Dosissteigerung : Eine Toleranzentwicklung führt mehr und mehr zu einem Anstieg des Konsums.
5. Interessenabsorption und-zentrierung : Für den Nutzer besteht die Priorität im Leben von nun an im Streamen der TV-Formate.
6. Gesellschaftlicher Abstieg : Durch den erhöhten Konsum kann der Nutzer seinen sozialen und arbeitsbedingten Pflichten nicht länger nachkommen und muss in beiden Lebensbereichen mit Sanktionen rechnen.
7. Psychischer und körperlicher Verfall : Aufgrund der vielen Stunden vor dem Computer und dem damit einhergehenden Bewegungsmangel kommt es zu gesundheitlichen Konsequenzen; längerfristiger Entzug realer sozialer Kontakte manifestiert sich zudem in psychischen Störungen.

Besonders das Kriterium des Psychischen und körperlichen Verfalls, tritt im Endstadium der Sucht auf. Wenn es im Falle von Seriensucht derartige Härtefälle gibt, ist es sehr unwahrscheinlich, dass die betroffenen Individuen durch den Forscher kontaktiert werden können. Schließlich halten sich die Rezipienten dann vornehmlich in der Serienwelt auf, was einer Befragung im Wege steht. Dementsprechend wird im Zuge der Feldforschung ermittelt, inwiefern die sechs anderen Suchtkriterien durch die Probanden erfüllt werden.

Es ist schwer, allein auf Basis dieser theoretischen Grundlagen Hypothesen für Seriensucht zu formulieren. Dementsprechend ziehe ich ergänzend das Wissen eines Fachmannes hinzu, der in seinem täglichen Arbeitsleben mit verschiedenen Ausprägungen von Verhaltenssüchten konfrontiert wird. Im Zuge des wissenschaftlichen Arbeitsprozesses liefert ein Experteninterview[4] an dieser Stelle wertvolle Erkenntnisse über die spezifische Suchtdynamik:

Detlef Scholz ist Mediensuchtberater bei der Evangelischen Suchtkrankenhilfe Mecklenburg-Vorpommern in Schwerin. Bei seiner Arbeit in der Beratungsstelle ist Scholz auch in Kontakt mit Seriensüchtigen gekommen. Der größte Teil seines Klientels hat eine Abhängigkeit von Computerspielen aufgebaut. (Vgl. Scholz,2012, Z.15f.,59f.) Zwischen der Computerspielsucht und dem suchtatartigen Konsum von TV-Serien erkennt Scholz jedoch gewisse Parallelen. Abgesehen von dem Faktor der Interaktivität, der bei Computerspielen eher gegeben sei, gäbe es beim Serienkonsum ähnliche emotionale Zustände. (Vgl. Ebd., Z. 50f.) Wohl auch dadurch ist es zu erklären, dass sich Klienten aus dem Bereich der PC-Spiel-Sucht der Serien wie in Form einer „Ersatzdroge“ (Ebd., Z.48) bedienen. Laut Scholz bieten zudem beide dieser suchtartigen Verhaltensweisen für die Betroffenen die Möglichkeit, sich ohne große Anstrengungen aus dem Alltag zurückzuziehen. (Vgl. Ebd., Z.55f.) Eine besondere Gefährdung durch das Streamen vermutet Scholz vor allem in der „Unmittelbarkeit“ (Ebd., Z.100) der Konsumart. So sei es möglich, sich „[…]von morgens bis abends mit Streamen [zu] beschäftigen, ohne etwas anderes tun zu müssen.“ (Ebd., Z.104) Im Vergleich zu dem Serienkonsum durch DVDs entfielen neben dem „temporäre[n] Kontakt eines Kaufes[…]“ (Ebd., Z.102) zu den Mitmenschen auch die Kosten. Auf diese Weise wird diese Sucht Scholz zufolge auch denjenigen ermöglicht, die nur über geringe finanzielle Ressourcen verfügen. (Vgl. Ebd., Z. 68f.)

[...]


[1] Anm. d. Verf.: Alle Angaben entsprechen dem Durchschnitt der täglichen Nutzungsdauer der Zielgruppe der 14 bis 29jährigen und beziehen sich auf das Jahr 2011.

[2] Anm. d. Verf.: Infrage kämen hier theoretisch auch nichtmediale Quellen, die in dieser Arbeit jedoch nicht behandelt werden.

[3] Anm. d. Verf.: Unter einer Pilotfolge versteht man die erste Folge einer Serie. Mit ihrer Hilfe ist es den Produzenten möglich, die Akzeptanz des Publikums für das neue Format zu testen.

[4] Anm. d. Verf.: Vollständige Transkription: s. Anhang: „6.3 Transkription: Experteninterview mit Detlef Scholz“

Ende der Leseprobe aus 86 Seiten

Details

Titel
Eskapismus durch Serienkonsum: Der Einfluss von Online Streams auf suchtartiges Verhalten
Hochschule
Universität Passau
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
86
Katalognummer
V201455
ISBN (eBook)
9783656315018
ISBN (Buch)
9783656316510
Dateigröße
818 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Audiodaten sind nur als Transkription vorhanden.
Schlagworte
Serien, Eskapismus, Online Streams, Seriensucht, Mediensucht, Sozialwissenschaftlich-hermeneutische Paraphrase, Serienjunkies
Arbeit zitieren
Thordes Herbst (Autor:in), 2012, Eskapismus durch Serienkonsum: Der Einfluss von Online Streams auf suchtartiges Verhalten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/201455

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