Stanley Kubricks "A Clockwork Orange" - Ein Analyseansatz für die Filmrezeption und -vermittlung im Unterricht


Hausarbeit (Hauptseminar), 2011

32 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

2. Filmrezeption in der Schule

3. Stanley Kubrick: Arbeitsweise eines Filmvisionärs

4. Der Voyeurismus und die Bedeutung des Auges in A CLOCKWORK ORANGE

5. Unvergänglichkeit und Dekorum

6. Sprache und Musik: Das Theatralische in A CLOCKWORK ORANGE

7. Schlussgedanken

8. Quellenverzeichnis

9. Abbildungsverzeichnis

10. Bildanhang

1.Einführung

Filme stellen für uns einen bedeutsamen Zugang zum Kulturwissen der Zeit dar. Trotz dieses Wissens ist jungen Leuten der Film als Vermittlungsmedium Film im Unterricht häufig nur zum Zeitvertreib oder bestenfalls als Literaturverfilmung bekannt

Mit der vorliegenden Arbeit soll ein Vermittlungsansatz aufgezeigt werden, welcher es möglich machen soll, auch einen schwerer zugänglichen Film wie A CLOCKWORK ORANGE von Stanley Kubrick in der schulischen Filmrezeption einzusetzen und als Beispiel für die filmischen Analysegrundlagen zu verwenden. Dieser Analyserahmen soll letztendlich nicht nur die Gestaltungskriterien des Mediums Film vermitteln, sondern weiterführend auch eine Basis schaffen, auf der es möglich ist, eben auch schwer verständlichere Filme zu verstehen und ihren ästhetischen Kern zu beleuchten.

Partiell stellen hierfür die Arbeitsweise Stanley Kubricks und die Gestaltungselemente des Voyeurismus, in Bezug auf den Blick des Betrachters, des Protagonisten und des Kinos als Institution sowie verschiedene Kameraeinstellungen und -perspektiven, des Dekorums und der daraus resultierenden Unvergänglichkeit des Films und seiner musikalischen und theatra- lischen Umsetzung einen Abriss dar. Zu Anfang wird eine kurze Übersicht über die heutige Situation der Filmrezeption in der Schule und den Umgang mit dem Medium Film im Unter- richt gegeben. Eine zentrale Grundlage hierfür bildet das Werk „Film: Ratgeber für Lehrer“ (Köln 2006) von Jens Hildebrand, welcher hierin eine ausführliche Beispielanalyse zu Stanley Kubricks THE SHINING aufzeigt.

Der Film A CLOCKWORK ORANGE stellt u.a. eine Art „Sonderfall“ dar, weshalb er sich für das beschriebene Thema gut eignet. Er hat die Kritik der Filmrezensionen gespalten und wurde bei oberflächlicher Betrachtung schnell als gewaltverherrlichend abgewertet. Bei näherer Un- tersuchung fällt aber auf, dass der Mensch als frei entscheidendes Individuum ins Zentrum des Films gerückt wird und somit seine Kernaussage, der freie Wille des Menschen, eher ge- sellschaftskritisch zu deuten ist. Anhand des Beispiels A CLOCKWORK ORANGE soll gezeigt werden, wie leicht es ist, bei gleichgültiger Betrachtungsweise, Filme falsch zu interpretieren bzw. zu verstehen und wie wichtig es ist, dass richtige Filmrezeption, schon im jungen Alter und somit schon in der Schule, betrieben wird, damit den Schülern der richtige Umgang mit dem Medium Film vermittelt wird.

2. Filmrezeption in der Schule

Die Institution Schule steht dem Medium Film als Vermittlungsgegenstand eher skeptisch ge- genüber. Das liegt daran, dass das Alltagsmedium Film primär der Unterhaltung zugeschrie- ben wird. Allein der Dokumentarfilm und Filme zur Vermittlung von Sprachkenntnissen in Deutsch und Fremdsprachen werden allmählich in den Unterricht aufgenommen. Leider lernen die Schüler das Medium hierbei häufig nur im Sinne der Literatur- bzw. Romanverfilmung kennen, deren Inhalt meist nicht auf der Grundlage von Filmanalysen oder Gestaltungskriterien näher beleuchtet wird.1

Heutzutage wird versucht, den Film als Unterrichtsgegenstand in die Lehrpläne der Schulen einzugliedern, so z.B. in den Richtlinien und Lehrplänen für Deutsch in der Sekundarstufe II in Nordrhein-Westfalen. Hierbei sollen sich die Schüler mit dem Filmmedium als Textform, sowie mit den spezifischen Gestaltungsmitteln und -techniken und deren Bedeutung wie auch Wirkung auseinandersetzen und den Film als Kunstform kennenlernen.2 In vielen Städten sind bereits die SchulKinoWochen eingeführt worden, bei denen die Schüler das Kino als Erleb- nisort sowie als Ort der Ästhetik erfahren sollen. Daran zeigt sich auch, dass nicht immer zwingend der Filmkanon zum Einsatz kommen muss.3 Leider kommt es trotzdem immer noch häufig vor, dass die vorgesehene Behandlung von Spielfilmen in der Oberstufe nur beiläufig und oberflächlich abgehandelt wird.4

Auf den ersten Blick haben die populären Kinofilme meist nicht viel mit Kunst gemeinsam. Die Produzenten und Regisseure des Mainstream-Kinos legen häufig nicht viel Wert auf die sinnvolle und ästhetische Gestaltung eines Films. Sie beschränken sich eher auf das „Machen“ als auf eine kunstvolle Inszenierung. Trotzdem ist das moderne Kino oft besser als sein Ruf, da die Kunstform des erzählenden Films „literarische, dramaturgische, visuelle, akustische und technische Elemente zu einer eigenen Ästhetik, die in ihrer Komplexität eine ganz besondere Wirkung auf den Zuschauer entfaltet“5, verbindet.6

Die Schwierigkeit für den Einsatz des Mediums Films im Unterricht liegt in der intensiven Teilnahme des Rezipienten am Filmerlebnis. Normalerweise ist die Haltung des Zuschauers eher passiv. Er denkt nicht viel über das Gesehene nach. Der Medienwissenschaftler Neil Postman spitzte diese Ansicht sogar noch weiter zu. Nach ihm „verlangt [das Fernsehen] kei- ne besonderen Fähigkeiten und entwickelt auch keine Fähigkeiten“7. Eine Filmlesefähigkeit wird somit nicht gebildet. Es ist jedem Individuum zugänglich, es macht keinen Unterschied ob Kind oder Erwachsener und bedarf keiner Unterweisung. Bei dieser Aussage müsste man annehmen, dass das Fernsehen zum einen keinen Gehalt besitzt, also nichts vermittelt, und zum anderen, dass Kinder sich z.B. nicht in ihren kognitiven Kompetenzen von erwachsenen Personen unterscheiden. Über beide Aspekte spricht Postman nicht konkret, wahrscheinlich, weil er weiß, dass dieses nicht richtig ist. Denn ein Kind kann sich sicherlich Filme anschau- en, wird sie dadurch aber noch lange nicht verstehen. Postman möchte primär mit seiner Ar- gumentation verhindern, dass Kinder überhaupt fernsehen. Wie der Titel seines Werkes „Das Verschwinden der Kindheit“ schon anklingen lässt, wird für ihn die Phase der Kindheit durch das Fernsehen zerstört.8

Wir wissen heute, dass Kinder mit etwa elf Jahren schon eine recht große Fernseherfahrung besitzen. Die Entwicklung hierfür hat meist im Grundschulalter begonnen. So können sie be- reits zwischen Realität und Fiktion unterscheiden und haben ein Verständnis für komplexe Inhalte und Beziehungen, können Charakterisierungen von Figuren vornehmen und Konflikte einordnen. Das angebotene Fernsehprogramm wird nun kritischer betrachtet und selektiert. Außerdem erkennen die Kinder schon in jungen Jahren, dass die Inhalte des Programms nur hergestellt werden, z.B. mit der Hilfe von Drehbüchern, Schauspielern und Spezialeffekten und somit nur fiktiv sind.9

Durch das Sehen von Filmen werden Fragen beim Rezipienten aufgeworfen. Der Film besitzt also eine eigene Dramaturgie und könnte gar nicht, entgegen Postmans Aussage, ohne das Denken funktionieren.10 Filme sind zudem ein wichtiger Zugang zur Kunst und zu kulturellen Ereignissen unserer Zeit. [So vermitteln sie uns] […] Geschichten, Mythen und Motive aus der Literatur- und Geistesgeschichte […], [sowie die] klassische[ ], moderne[ ] und kunstvolle[ ] Form[ ] des Erzählens“11. Filme formen unseren Geschmack und sind somit grundlegend für unsere Persönlichkeitsentwicklung.12

Besonders schwierig erweist sich der Umgang mit Filmen im Schulunterricht, die ein hohes Gewaltpotenzial aufweisen, z.B. A CLOCKWORK ORANGE (1971) von Stanley Kubrick. Hier- bei kann man nie genau wissen, wie ein Schüler auf das Gezeigte reagiert, ob er gelernt hat mit medialer Gewalt oder evtl. Ängsten umzugehen oder ob das Gesehene sogar zu nah an seinen eigenen Lebensumständen angelehnt ist. Je älter ein Schüler ist, desto gefestigter sind sein Charakter und seine Identität und umso besser kann er das Gesehene auch kognitiv ver- arbeiten.13 Auch wenn Probleme beim Zeigen von Filmen auftreten können, sollte das Medi- um nicht vom Unterricht ausgeschlossen, oder nur als „Lückenfüller“ in Vertretungsstunden gebraucht werden. Bei der Filmrezeption kann ein Schüler lernen, die beim Anschauen eines Films entstehenden Emotionen durch einen analytischen Ansatz einzuschränken. D. h. er lernt die Wirkung des Films auf den Rezipienten zu durchschauen. Damit soll dem Schüler kein interpretierendes analytisches Sehen des modernen Kinos aufgezwungen, sondern es soll die Sicherheit vermittelt werden, Abstand von den Bildern zu nehmen und sich der Wirkung und dem Aufbau des Films bewusst zu werden. So kann er einem denkbaren Bedrängnis durch das Filmerlebnis entgehen.14

Darüber hinaus kann so auch die außerschulische Filmrezeption geprägt und das Auge für die Filmlesefähigkeit geschärft werden. Dazu muss der Film analytisch in seinen Sequenzen, Szenen und Bildern reflektiert werden. Hierbei lernen die Schüler eine filmische Erzählung zu verstehen, in der mehrere Bilder eine Sequenz bilden (Hör- und Sehverstehen). Sie erlernen Stilmittel wie Kameraeinstellungen und -perspektive zu erkennen und zu benennen, und sie in ihrer Funktion und Wirkung in Bezug zum filmischen Kontext einzuordnen. Sie können die Dramaturgie des Films erfassen und sie in ihrer Funktion und Wirkung interpretieren. Außer- dem lernt der Schüler die eigene Rezeption von Filmen zu kontrollieren, d. h. es wird ihnen bewusst, dass Filme zu allererst emotional erlebt werden. Sie müssen also Filme und Formate gezielt selektieren. Hierbei geht es sowohl um die eigenen Interessen als auch um die persön- lichen Erfahrungen und Schwierigkeiten mit bestimmten Programmen. Auf evtl. Belastungen müssen sie mit Entlastungstechniken reagieren können.15 Neil Postmans These, das Fernsehen den Kindern nur schaden würde, wäre hiermit widerlegt. Denn die Schüler erlernen anhand des Mediums Film komplizierte Erzählungen sowie Wirkungsgeflechte zu durchschauen und zu untersuchen und ihre eigene Filmrezeption bzw. Filmlesefähigkeit auszubauen.

Stanley Kubricks Film A CLOCKWORK ORANGE wurde als „monumentales Ärgernis“16 und als „kriminell unverantwortlich […] [sowie] stumpfsinnig naiv“17 bezeichnet. Dadurch gilt er für viele auf den ersten Blick als problematisch. Es wurde sogar behauptet, dass A CLOCKWORK ORANGE die Jugendlichen zur Nachahmung anregen würde18. Doch wer genauer hinschaut und die Masse an Sekundärliteratur zu Stanley Kubrick und seinem Film zur Kenntnis nimmt, erkennt, dass dieser kunstvoll inszeniert ist und eine Mischung zwischen Satire und Gesell- schaftskritik darstellt. Das zentrale Thema behandelt den freien Willen des Menschen.19 Hier wird nicht die Gewalt als Spannungsmittel eingesetzt, sondern die Spannung resultiert aus dem Zusammenspiel subtiler, sogar befremdlich wirkender Stilmittel, und den Charakteren, die bewusst überzogen wirken und so eher eine Distanz zum Betrachter aufbauen als Sympa- thie zu suggerieren. Es ist ein rätselhafter Film, der vielfache Interpretationsmöglichkeiten zulässt und Fragen aufwirft. Nur durch oberflächliches Rezipieren wird man der Deutung nicht fündig. A CLOCKWORK ORANGE basiert auf der Romanvorlage von Anthony Burgess. Ein vergleichender Blick könnte so ebenfalls die Grundlage einer Analyse bilden, allerdings stellt der Film allein durchaus eine hinreichende Herausforderung an seinen Rezipienten dar. Im nächsten Schritt soll ein möglicher Vermittlungsansatz zum Verständnis des Films A CLOCKWORK ORANGE geschaffen werden. Dies geschieht unter der Betrachtung der Arbeits- weise Stanley Kubricks sowie der Gestaltungsmittel des voyeuristischen Blicks in Verbin- dung mit verschiedenen Kameraeinstellungen und -perspektiven, der scheinbaren Unvergäng- lichkeit des Films und seiner Kontrapunktierung durch Musik. Diese Betrachtung lässt sich durchaus mit anderen Stilmitteln wie z.B. die geometrische Anordnung der Dramaturgie oder die Frage nach dem Ästhetizismus erweitern, würde aber den Rahmen der vorliegenden Ar- beit überschreiten.20

3. Stanley Kubrick: Arbeitsweise eines Filmvisionärs

„Ich habe versucht, ein visuelles Erlebnis zu schaffen, eines das sich verbaler Etikettierung entzieht und mit seinem emotionalen und philosophischen Gehalt direkt ins Unterbewusste dringt.“21 (Stanley Kubrick, 1968)

Stanley Kubrick (1928-1999) besaß das Talent, seine Vorstellungen vom Filmemachen in die Tat umzusetzen, und somit mit jedem seiner Filme ein neues filmisches Konzept zu verwirk- lichen. Auf die Fragen nach zusammenhängenden und wiederkehrenden Motiven innerhalb seiner Filme gab Kubrick keine Antworten und ließ seine Zuschauer so ernüchternd zurück (durchaus treten in Kubricks Filmen immer wieder gleiche Motive und Elemente auf. So z.B. eine Analogie zwischen Baseball-Schläger, Spazierstock und Knochenkeule als Waffe). Hie- ran wird klar, dass man Kubrick nicht unbedingt mit dem herkömmlichen kritischen Ansatz durchschauen kann.22 Kubrick wiederholte keines seiner Themen, dies hätte für ihn bedeutet, sich selbst zu wiederholen23. Bevor er als Regisseur tätig war, schaute er jede Menge ver- schiedenster Filme, gute wie schlechte. Auch wenn er noch „keine Ahnung vom Filmemachen hatte, […] [war er davon überzeugt], dass […] [er] kaum einen Film machen könnte, der schlechter wäre, als die meisten von denen, die […] [er] gesehen hatte“24. Er hatte niemals in seinem Leben eine Filmschule besucht. All sein Können, vom Drehbuchschreiben bis hin zum Goldenen Schnitt, hatte er sich selbst beigebracht (er war Berufsfotograf und hat sich so die Gesetze der Bildgestaltung und Lichtwirkung angeeignet). Ein bedeutendes Werk stellte für ihn Vsevolod Illarionoviĉ Pudowkins Buch „Über die Filmtechnik“ dar25. Er war also Autodi- dakt, wahrscheinlich wirken seine Filme deshalb auch exzentrischer als die des klassischen Hollywoodkinos.26

Mit der Zeit rückte für Kubrick die Filmhandlung immer mehr in den Vordergrund, dieses prägte auch seine Arbeitsweise. Er wollte dabei sowohl die Aufmerksamkeit des Zuschauers binden sowie auch seinen eigenen Überlegungen Ausdruck verleihen. In dieser Hinsicht war er ein Traditionalist im Vergleich zu den anderen Avantgarde-Regisseuren, die aufgegeben hatten, die Erzählung ins Zentrum ihrer Filme zu rücken.27 Kubrick war kein üblicher Mainstream-Regisseur und seine Filme funktionieren nicht nach dem klassischen dramaturgi- schen Prinzip, bei dem der Protagonist zu Filmbeginn mit einem Problem konfrontiert wird, welches er im weiteren Verlauf des Films im Widerstreit mit dem antagonistischen Part löst. Zugleich war er auch kein Autorenfilmer28. Häufig lösen seine Filme ihre eigenen Filmsyste- me auf (siehe THE SHINING, 1980) oder spiegeln den Aufstieg und Fall von Protagonisten und

Projektionen (siehe BARRY LYNDON, 1975) wider29. Ebenfalls war es für Kubrick wichtig, dass seine Filme ein Überraschungsmoment bzw. eine Wendung innehatten. Er wollte damit nicht nur sein Publikum, sondern auch sich selbst in Staunen versetzen. Aus diesem Grund, und damit das Mystische an seiner Handlung nicht verloren gehen konnte, gab er nicht gern zu viel über seine Gedanken zum Film oder dem Film selbst preis.30

Die spezielle Arbeitsweise von Stanley Kubrick lag auch in der „crucial rehearsal period“31 (CRP). Dieses war eine entscheidende Probenphase, in der Kubrick nur allein mit den Schauspielern arbeitete (ohne Technik, Beleuchtung oder Kamera). „Auf diese Weise ergründete er den Gehalt einer Szene und wählte aus der Fülle von Ideen und Vorschlägen, die sich dabei ergaben, die besten aus“32. So konnte es zu Improvisationen oder Abweichungen vom Drehbuch kommen. Er war ein Regisseur im Sinne Alain Bergalas, für den ein wahrer Regisseur nicht nur fertige Ideen in einen Film umsetzt, sondern der Film und die damit verbundene Botschaft sich aus dem Prozess des Schaffens ergibt33.

Kubricks Filme sind höchst literarische Werke, bei denen jedes Wort wohl überlegt gesetzt ist. Nicht immer ergänzen sich Wort und Bild zwingend. Beides wird gleichwertig einge- setzt.34 Kubrick empfand die Sprache als zu ungenau, daher bringt er sie nur gezielt und spar- sam zum Einsatz. Häufig weisen seine Filme längere Sequenzen ohne Sprache auf. Sie beste- hen zum größten Teil aus einer Aneinanderreihung von Bildern und Tönen. So können sie von jedem verstanden werden, auch wenn jemand weniger intellektuell ist, da die Dialoge meist einfach gestrickt sind.35

Kubrick drehte fast 50 Jahre lang Filme. Hierbei bevorzugte er Genre-Filme (u.a. Kriegs-, Gangster-, Science Fiction-, Historien- und Horrorfilme). Diese weisen auf der einen Seite die Merkmale gängiger Filme auf, ihre Bedeutung liegt aber auf ihrem Subtext. Dieses macht den Film für den Zuschauer mehrfach interpretierbar.36 Mit seinen Werken griff Kubrick die Ge- schichte der einzelnen Genres auf und stellte ihren Ausgangspunkt infrage, zerlegte sie und setzte sie neu zusammen (seine Filme wurden so häufig zu den Meisterwerken ihres jeweili- gen Genres). Er erfand sie neu, indem er mit ihnen experimentierte. Dabei zerstörte er die klassische Moralität und Struktur des Genres37. So hat A CLOCKWORK ORANGE das Genre des Musicals umgestaltet und 2001: A SPACE ODYSSEY (1968) dem modernen Science-Fiction- Film eine ganz neue Form gegeben und ihn zum A-Movie erhoben.38 So verhält sich ein Ku- brick Film zu seinem Genre auf drei Arten: als Summe, als Endpunkt und als Transzendie- rung.“39

Kubricks Filme sind zeitlose Meisterwerke. Auch wenn das eigenständige Arbeiten und seine Gedankenentwicklung beim Filmherstellungsprozess Kubricks Arbeitsweise dominierten, hat er keinen speziellen Wert darauf gelegt, originell zu sein oder einen individuellen Stil zu ent- wickeln.

„Ich bin in letzter Zeit auf keine neuen Ideen beim Film gestoßen, die ich als besonders wichtig empfinde und die mit der Form zu tun haben. Ich denke, dass das Streben nach Originalität der Form mehr oder weniger fruchtlos ist. Ein wirklich origineller Mensch mit wirklich originellen Gedanken wird mit der alten Form nichts anfangen können und einfach etwas anderes machen. Andere würden die Form besser als eine Art klassischer Tradition betrachten und versuchen, innerhalb ihrer Grenzen zu arbeiten.“40

Er betonte also, dass man sich lieber schöpferisch mit der Tradition auseinandersetzen solle als sich ihr wegen der eigenen Originalität zu entziehen. Aufgrund dieser Ansicht wurde Ku- brick häufig als „mit dem Genre brechend“ beschrieben.41 Hierbei unterscheidet sich Kubrick von europäischen Autoren und Filmemachern wie z.B. Michelangelo Antonioni oder Rainer W. Fassbinder, welche ein ganzes Genre geschaffen haben und die man an einem wiederkehrenden Stil und Thematiken erkennen konnte.42

Man kann Kubrick auch den Vorwurf der Oberflächlichkeit machen, denn seine Filme weisen keinerlei Tiefe auf, was eine Anteilnahme oder evtl. Identifikation mit den Protagonisten un- möglich macht. Außerdem wird die psychologische Motivation auf Kosten von Ironie, Über- natürlichkeit oder Horror zerstört. All diese Indizien sprechen dafür, dass Kubrick ein typi- scher Postmodernist war.43 Für diese Annahme spricht auch, dass Kubrick nicht mit dem Fluss des modernen Kinos mit schwamm, sondern konservativ danach strebte „das Unerhörte in einer Form auszudrücken, die den Regelverstoß nicht als ästhetische Tugend für sich akzep- tiert[e]“44. Er wollte nicht neu schaffen, sondern vollenden.

[...]


1 Bergala, Alain: Kino als Kunst. Filmvermittlung an der Schule und anderswo (2002). Hg. von Bettina Henzler und Winfried Pauleit, aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer, Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftreihe Bd. 553, Schüren, Bonn 2006, S. 36.

2 Hildebrand, Jens: Film: Ratgeber für Lehrer. 2. aktual. Aufl., Aulis-Verl. Deubner, Köln 2006, S. 7f.

3 Worschech, Rudolf: Rein ins Kino. Medienpädagogische Aktivitäten in Deutschland. In: edp Film 8 (2010), S. 26ff., hier: S. 28; zu den SchulKinoWochen siehe z.B. die Homepage von Niedersachsen unter: http://www.schulkinowochen-nds.de/ (08.04.2011).

4 Hildebrand: Film: Ratgeber für Lehrer. (s. Anm. 1), S. 9f.

5 Ebd., S. 8.

6 Ebd.

7 Postman, Neil: Das Verschwinden der Kindheit (1982). Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser, 12. Aufl., S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1986, S. 93.

8 Ebd., S. 94f.

9 Hildebrand: Film: Ratgeber für Lehrer. (s. Anm. 1), S. 23.

10 Ebd., S. 8.

11 Ebd., S. 9.

12 Pauleit, Winfried: Die feinen Unterschiede. Das Wort Cinéphilie kommt nicht umsonst aus dem Französischen. In: edp Film 8 (2010), S. 29f.

13 Hildebrand: Film: Ratgeber für Lehrer. (s. Anm. 1), S. 44f.

14 Ebd., S. 46.

15 Ebd., S. 48f.

16 Zitiert nach Riley, Clayton: …‘Or‘ A Dangerous, Criminally Irresponsible Horror Show‘?; A Clockwork Orange’. In: New York Times (9. Januar 1972), Sect. Arts and Leisure, S. 1.

17 Zitiert nach Riley: …‘Or‘ A Dangerous, Criminally Irresponsible Horror Show‘?; A Clockwork Orange’. (s. Anm. 16), S. 1.

18 Duncan, Paul: Stanley Kubrick. Visueller Poet 1928-1999 (sämtliche Filme). Taschen, Köln 2003, S. 136.

19 Zitat von Stanley Kubrick im Gespräch mit Michel Ciment über Uhrwerk Orange. In: Ciment, Michel: Kubrick. Aus dem Französischen von Johann P. Brunold, Bahia Verlag, München 1982, S. 149.

20 Thissen, Rolf: Stanley Kubrick. Der Regisseur als Architekt. Hg. von Bernhard Matt, Heyne Filmbibliothek Nr. 274, Wilhelm Heyne, München 1999, S.152.

21 Horn, Falk; Rudhof, Bettina: Bilder ins Hirn. Kubrick Ausstellen. In: Stanley Kubrick. Ausst.-Kat. Hg. vom Deutschen Filmmuseum Frankfurt am Main, Schriftenreihe des Deutschen Filmmuseums Frankfurt am Main Kinematograph Nr. 19, Frankfurt a.M. 2004, S. 14-17, hier S. 15.

22 Walker, Alexander; Taylor, Sybil; Ruchti, Ulrich: Stanley Kubrick. Leben und Werk. Aus dem Amerikanischen von May Mergenthaler und Henning Thies, Henschel Verlag, Berlin 1999, S. 8.

23 Ebd.

24 Zitiert nach Stanley Kubrick, ebd., S. 14.

25 Ebd., S. 13.

26 Toffetti, Sergio: Stanley Kubrick. Moizzi Edition (Mailand 1987). Hg. im Deutschen von Rolf Giesen, aus dem Italienischen von Angela Weicharz-Lindner, Reihe kinoheute Bd. 3, Verlag Klaus Guhl, Berlin 1979, S. 9.

27 Walker/Taylor/Ruchti: Stanley Kubrick. Leben und Werk. (s. Anm. 22), S. 17.

28 Seesslen, Georg; Jung, Fernand: Stanley Kubrick und seine Filme. Arte Edition, Schüren, Marburg 1999, S. 26.

29 Seesslen/Jung: Stanley Kubrick und seine Filme. (s. Anm. 28), S. 42.

30 Walker/Taylor/Ruchti: Stanley Kubrick. Leben und Werk. (s. Anm. 22), S. 45.

31 Ebd., S. 204.

32 Ebd.

33 Bergala: Kino als Kunst. (s. Anm. 1), S. 42.

34 Seesslen/Jung: Stanley Kubrick und seine Filme. (s. Anm. 28), S. 42.

35 Thissen: Stanley Kubrick. Der Regisseur als Architekt. (s. Anm. 20), S. 13.

36 Duncan: Stanley Kubrick. Visueller Poet 1928-1999. (s. Anm. 18), S. 11.

37 Seesslen/Jung: Stanley Kubrick und seine Filme. (s. Anm. 28), S. 39.

38 Duncan: Stanley Kubrick. Visueller Poet 1928-1999. (s. Anm. 18), S. 139.

39 Seesslen/Jung: Stanley Kubrick und seine Filme. (s. Anm. 28), S. 38.

40 Zitiert nach Stanley Kubrick im Interview: Notes on Film. In: The Observer (London, 4.12.1960).

41 Elsaesser, Thomas: Evolutionärer Bild-Ingenieur. Stanley Kubricks Autorenschaft. In: Stanley Kubrick. Ausst.-Kat. Hg. vom Deutschen Filmmuseum Frankfurt am Main, Schriftenreihe des Deutschen Filmmuseums Frankfurt am Main Kinematograph Nr. 19, Frankfurt a.M. 2004, S. 136-147, hier S. 141.

42 Duncan: Stanley Kubrick. Visueller Poet 1928-1999. (s. Anm. 18), S. 139.

43 Elsaesser: Evolutionärer Bild-Ingenieur. Stanley Kubricks Autorenschaft. (s. Anm. 41), S. 142.

44 Seesslen/Jung: Stanley Kubrick und seine Filme. (s. Anm. 28), S. 38.

Ende der Leseprobe aus 32 Seiten

Details

Titel
Stanley Kubricks "A Clockwork Orange" - Ein Analyseansatz für die Filmrezeption und -vermittlung im Unterricht
Hochschule
Hochschule für Bildende Künste Braunschweig  (Institut für Medienwissenschaften)
Veranstaltung
Teaching different films differently
Note
1,3
Autor
Jahr
2011
Seiten
32
Katalognummer
V201176
ISBN (eBook)
9783656271963
Dateigröße
2034 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
kubricks, clockwork, orange, analyseansatz, filmrezeption, unterricht, schule, rezeption, kubrick, jens, hildebrand, medienwissenschaft, film, filmwissenschaft
Arbeit zitieren
Janina Kremkow (Autor:in), 2011, Stanley Kubricks "A Clockwork Orange" - Ein Analyseansatz für die Filmrezeption und -vermittlung im Unterricht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/201176

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