Das Raumkonzept von Alexander B. Murphy

Territorium als Ideologie


Essay, 2012

12 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Murphys Raumkonzept

3. Die Unschärfe politisch-ökonomischer territorialer Logik

4. Die Territorial Trap bei Murphy

5. Mehrdimensionalität als Weiterentwicklung von Murphys Raumkonzept

6. Fazit

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Existential questions – who gets to have a country and who gets to be a country (Khanna 2011: 75)

Mit dieser Formulierung pointiert Khanna in seinem populären Sachbuch „Howto Run the World“ (2011) den grundlegenden Ansatz der geografischen und politikwissenschaftlichen Forschung zu Geopolitik und Territorium. Territorium ist dabei mehr als nur ein Begriff oder Startpunkt für die Untersuchung zwischenstaatlicher oder innerstaatlicher Konflikte, sondern bedarf einer konzeptionellen Fassung beziehungsweise theoretischen Untersuchung. Dieser Aufgabe hat sich Murphy in seinem 2005 publizierten Beitrag „Territorial Ideologyand Interstate Conflict“ angenommen und soll daher nachfolgend einer kritischen Betrachtung unterzogen werden.

Murphys Raumkonzept sieht hierbei Territorium als Ideologie an und möchte Konflikte im modernen Staatensystem seit dem 20. Jahrhundert über eine Untersuchung verschiedener Ausprägungen dieser Ideologie, also unterschiedlicher territorialer Logiken, erklären können.

Nachdem ich Murphys zentrale Argumentation und Konzeption von Territorium als Ideologie vorgestellt habe (Kapitel 2), werde ich diese kritisch analysieren. In den nachfolgenden Ausführungen vertrete ich dabei die These, dass mit Murphys Raumkonzept eine Vielzahl territorialer Konflikte im modernen Staatensystem erläutert werden kann. Die Theorie des Autors kann aber nicht zugrundeliegende Ursachen solcher Konflikte ausreichend identifizieren und erklären, weil die Kategorien territorialer Logiken zum Teil Unschärfen enthalten (Kapitel 3). Murphyfällt in die von Agnew kritisierte „territorial trap“ (vgl. Elden 2010: 801), weil er den Nationalstaat als scheinbar naturgegebenes Organisationsprinzip von Gesellschaft voraussetzt (Kapitel 4). Damit verbunden isteine Eindimensionalität in Murphy Betrachtung (Territorium als ganzheitlich erklärendes Konzept), weshalb allerdings sein Ansatz nicht generell abzulehnen, sondern stattdessen ertragreich zu erweitern ist. Dies werde ich mithilfe von Jessop/Brenner/Jones (2008) und deren Forderung nach Mehrdimensionalität in Raumtheorien erläutern und an einer Verknüpfung mit SwyngedouwsRaumkonzept der Maßstabsebene (1997)exemplarisch zeigen (Kapitel 5). In einem abschließenden Teil (Kapitel 6) werde ich resümieren, wo die Potenziale und Grenzen von Murphys Raumkonzept liegen.

2. Murphys Raumkonzept

Die Konzeption von Territorium bei Murphy kann am besten nachvollzogen werden, wenn man sie als Weiterführung vorheriger Forschungsbeiträge, beispielsweise von Sacks „Human Territoriality“ (1983), versteht. Dabei definiert Sack Territorialität als den Versuch oder die tatsächliche Ausübung von Kontrolle über ein geografisches Gebiet mit dem Ziel das Handeln und die Interaktion von Subjekten und Objekten sowie (ihren) Beziehungen (zueinander) auf jedweder Ebene territorial zu bestimmen, zu beeinflussen oder zu kontrollieren (Sack 1983: 55-57). Grenzen können und werden bewusst und intentionalgezogen, um einen sozialen Zweck zu erreichen, da territoriale Beziehungen immer in einen sozialen/gesellschaftlichen Kontext eingebettet sind. Autoren wie Sack gehen also von einer räumlichen Verdinglichung von Machtkonstellationen aus.

Auf dieser Grundlage ist Murphys Konzept von Territorium als Ideologie zu verstehen. Seine zentrale Aussage ist hierbei, dass gestützt auf ethnokulturelle, physisch-räumliche, politisch-territoriale oder strategische Argumente (also territorialer Logiken), Regime territorialer Legitimation im modernen Staatensystem inter- und intraregionale Konflikte framen (rahmen) (Murphy 2005: 283).

Er unterscheidet bei territorialen Konflikten drei Maßstabsebenen (in Klammern sind jeweils Beispiele territorialer Konflikte gegeben[1] ): die ‚Makroebene‘ (globaler Konflikt: deutscher Angriff auf Polen 1939), die ‚Mikroebene‘ (rein zwischenstaatlicher Konflikt: Mexikanisch-Amerikanischer Krieg 1846-1848) und die ‚Mesoebene‘ (ein interregionaler, aber nicht globaler Konflikt: Autonomiebestrebungen der ‚Republik‘ Kurdistan), auf welche er sich im folgenden fokussiert (Murphy 2005: 281).[2]

Murphy sieht die Entwicklung des modernen Staatensystems in Gleichklang mit der Konstruktion von Grenzen und damit einhergehender Legitimierung von territorialen Ansprüchen. Dieses moderne Staatensystem baut auf zwei Grundpfeilern auf. Zum einen der ‚Souveränität‘ als die juristisch klare Abgrenzung von Gebieten, welche voneinander autonom/unabhängig sind. Und zum anderen des ‚Nationalstaates‘ als der räumlichen Verknüpfung aus juristisch klar abgegrenzten Gebieten (‚Staaten‘) mit einer bestimmten Verteilung von Völkern (‚Nationen‘), die jedes für sich eine Kultur und Geschichte teilen und den Wunsch nach Selbstbestimmung hegen („statenationalism“; Murphy 2005: 282).

Hieraus werden (durch politische Eliten) Regime territorialer Legitimation konstruiert, welche quasi historisch-geografische Überlegungen und Verständnisse sind, die als Argumente für bestimmte Gebietsansprüche vor allem bei Konflikten auf der Mesoebene ins Feld geführt werden. Obwohl sie konstruiert sind, können sie nicht im vollkommenen Gegensatz zur Realität stehen. Ebenso müssen sie nicht zwingend bei Konflikten ins Feld geführt werden, da auch andere politische, ökonomische und gesellschaftliche Aspekte eine Rolle spielen (Murphy 2005: 283-284). Entsprechend leitet Murphy aus den Regimen territorialer Legitimation auchsogenannte Tendenzen ab (Murphy 2005: 283, 286). Daher macht es Sinn, nachfolgend die Regime mit ihren jeweiligen Tendenzen gemeinsam einzuführen (vgl. Abbildung 1, Seite 5).

Das erste Regime kann als ‚ethnokulturelles Heimatland‘ umschrieben werden, in welchem sich ein Staat als historisches Heimatland (Heimat) einer bestimmten ethnokulturellen Gruppe sieht (z.B. Israel). Die dazugehörige Tendenz kann unter dem Stichwort ‚ethnokulturelle Verteilung‘ zusammengefasst werden, bei welcher territoriale Konflikte mit einer über Staatsgrenzen hinausgehenden Verteilung einer bestimmten ethnischen Gruppe legitimiert werden (z.B. aserbaidschanisch-armenischer Konflikt um Bergkarabach).

Das zweite Regime betrifft die ‚physisch-räumliche Einheit‘ und sieht den Staat entsprechend als konkrete physisch-räumliche Einheit (z.B. Australien). Die entsprechende Tendenz betrifft eine ‚geografisch zerklüftende Grenzziehung‘, die der Vorstellung eben jener physisch-räumlichen Einheit eines Staates widerspricht und tendenziell zu Konflikten führen oder diese legitimieren kann (z.B. US-Stützpunkt Guantanamo Bay auf Kuba).

Das dritte Regime umfasst die ‚politisch-territoriale Einheit‘, in welcher der Staat als moderne Inkarnation eines bereits langanhaltenden/historischen ‚Ganzen‘ verstanden wird (z.B. Ägypten). Als Tendenz hierfür beschreibt Murphy die ‚politisch zerklüftende Grenzziehung‘, bei welcher Grenzverläufe mit und Gebietsansprüche an/der Nachbarstaaten der historisch-politischen Integrität eines Staates entgegenstehen (z.B. Ausdehnung Chinas während der Qing-Dynastie vs. heutige Grenzen und postulierte Einflussgebiete).

Das vierte Regime betitelt Murphy selbst nicht, sondern fasst unter diesem alle Staaten zusammen, welche keine der oberen drei Regime als Argumente glaubhaft bedienen können und daher andere Argumente ins Feld führen – aus diesem Grund würde ich dieses Regime als ‚strategisches Ersatzargument‘ bezeichnen (z.B. aktueller Wettstreit um Gebietsansprüche in der Arktis). Die dazugehörige Tendenz umschreibt Murphy wiederum konkreter als ‚polit-ökonomisch motivierte Gebietsansprüche‘, bei denen entsprechend politstrategische oder ökonomische Anreize territorialen Konflikten zugrundeliegen, die dann mit Verweis auf vorherige politischen Vereinbarungen oder eine gewisse ‚historische Verbundenheit‘ legitimiert werden (z.B. japanisch-südkoreanischer Konflikt um die Liancourt-Felsen).

Da Murphy seine theoretische Konzeption mit empirischen Beispielen abgleicht, verknüpft er seine Unterscheidung der Maßstabsebenen auch mit den Regimen und Tendenzen territorialer Logiken. Dabei bezieht er sich auf Konflikte, welche nicht nur interregional/auf der Mesoebene (siehe Beispiele oben), sondern auch intraregional ausgetragen werden (Murphy 2005: 290-292).Hierfür können die vier bereits eingeführten Logiken um intraregionale territoriale Konflikte ergänzt werden (vgl. Abbildung 1, Seite 5).

Im ersten Regime sind dies Autonomiebestrebungen ethnokultureller Minderheiten (z.B. Basken in Spanien). Im zweiten Regime steht die innere Heterogenität (an Nationen) der staatlichen Einheit entgegen (z.B. Teilrepubliken der Sowjetunion). Das dritte Regime ergänzt Murphy in Bezug auf intraregionale Logiken mit einer Beschreibung von Konflikten, die mit der Präsenz ausländischer Einflüsse/Mächte/Truppen etc. in einem stark auf seine ethnisch-, religiös- oder polit-historische Einheit gegründeten Staat legitimiert werden (z.B. US-Militärpräsenz in Saudi Arabien). Zum vierten Regime erklärt Murphy kein intraregionales Äquivalent, aber eine logische Weiterführung würde beispielsweise Autonomiebestrebungen bestimmter Regionen eines Staates auf Grundlage starker ökonomischer Ungleichverteilung umfassen (z.B. ‚Republik‘ Padanien in Norditalien, Stichwort: Wohlstandsseparatismus).

Diese Einführung in Murphys Raumkonzept soll nun anhand der bereits erwähnten Thesen kritisch untersucht werden.

Abbildung 1: Übersicht territorialer Logiken in Anlehnung an Murphy (2005)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: eigene Darstellung

[...]


[1] Die nachfolgend im gesamten Text gegebenen Beispiele territorialer Konflikte sind zum Teil aus Murphys Text (2005) entlehnt und zum Teil von mir selbst recherchiert – je nachdem, welche Beispiele ich für am treffendsten und anschaulichsten erachtete. Aufgrund des Umfangs dieser Arbeit hier können die Beispiele im Einzelnen nicht ausführlich erläutert werden (was auch für das allgemeine Verständnis der theoretischen Abhandlung nicht zwingend erforderlich ist). Für genauere Darstellungen bieten sich gängige Nachschlagewerke an oder, bei jüngeren Konflikten, um die Sichtweisen und Argumentationen gegenüberzustellen, die Ausführungen auf den offiziellen Regierungsseiten der betroffenen Parteien (Staaten und Nationen).

[2] Murphy benennt nur die ‚Mesoebene‘ explizit, während er die anderen beiden Ebenen umschreibt. Aus der Begriffsverwendung ‚Meso‘ können allerdings ‚Makro‘ und ‚Mikro‘ für diese einführende Darstellung logisch abgeleitet werden.

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Das Raumkonzept von Alexander B. Murphy
Untertitel
Territorium als Ideologie
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Institut für Humangeographie)
Veranstaltung
Konzepte der Humangeografie
Note
1,7
Autor
Jahr
2012
Seiten
12
Katalognummer
V200691
ISBN (eBook)
9783656293897
ISBN (Buch)
9783656293927
Dateigröße
532 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Alexander B. Murphy, Territorium, Agnew, Elden, Ideologie, Konflikte, Geopolitik, Raumkonzept, territoriale Logik, territorial trap, zwischenstaatliche Konflikte, innerstaatliche Konflikte, Swyngedouw, Jessop, Brenner, Jones, Grenzen, Sack, intraregionale Konflikte, Autonomie, Nationalstaat, Nationalismus, Scale, Maßstabsebene
Arbeit zitieren
Bachelor of Arts Renard Teipelke (Autor:in), 2012, Das Raumkonzept von Alexander B. Murphy, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/200691

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