Analyse und Interpretation Heinrich von Kleists "Der Findling"


Hausarbeit, 2011

18 Seiten, Note: 2,3

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

I. Einleitung

II. Heinrich von Kleist
1. Familiäre Hintergründe
2. Kleists Weltbild

III. Der Findling
1. Einordnung und Inhalt der Novelle
2. Familiäre Strukturen und Kommunikation
3. Charakter und Leben des Nicolo
4. Die Schuldfrage im Findling

IV. Schlusswort

V. Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Der Verlauf der Handlung in Heinrich von Kleists Novelle „Der Findling“ dürfte bei den meisten Lesern zunächst für einen Schock sorgen. Anstatt sich seinen Adoptiveltern gegenüber loyal und dankbar zu zeigen, sorgt die Hauptfigur Nicolo innerhalb der Familie Piachi so lange für Tod und Verzweiflung, bis am Ende nur noch der , alte Piachi ‘ lebt und schließlich einen Mord begeht, wofür er die Todesstrafe erhält. Fühlt man sich also am Ende der Novelle, wenn dieser seinen Sohn umbringt und sich von der Kirche abwendet, eher mit ihm verbunden, so ist dies nicht weiter verwunderlich.

Doch was passiert, wenn man den Text anschließend mit etwas Abstand nochmals genauer liest? Bleibt der Eindruck, dass nur Nicolo die Schuld am Handlungsverlauf trägt, oder trifft die Familienmitglieder der Piachis gar ein gewisser Grad der Mitschuld?

Lange Zeit war nicht zuletzt der auktoriale Erzähler selbst das Problem, welches bei den Interpretationsansätzen der Rezipienten für Verwirrung sorgte. Die Erzählweise, welche die Novelle vor allem als Bewährungsprobe der guten Piachis vor dem Wirken des „absolut Bösen“1, vertreten durch Adoptivsohn Nicolo, darzustellen schien, erschwerte es lange Zeit, den Kern der Novelle aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.

Erst als in den siebziger Jahren Einigkeit darüber herrschte, dass „Der Find- ling“ obgleich der Meinung, dass es ein sehr frühes, daher unausgereiftes Werk Kleists gewesen sein muss, historisch korrekt eingeordnet werden konnte, und auf Kleists Todesjahr 1811 datiert wurde, begann man, den Text ,anders‘ zu lesen. Fragen nach der Bösartigkeit Piachis, der Bedeutung der Kirche im Findling, der Mitschuld der Kirche am tragischen Ende und das kri- tische Betrachtung vergangener Textauslegungen führten schließlich dazu, dass das Werk Kleists langsam mit einer völlig anderen Sichtweise betrach- tet wurde. Durch die Hinzuziehung von Briefen Kleists, die in dieser Arbeit noch thematisiert werden sollen, klarten die zunächst unsichtbaren Hinter- gründe des „Findlings“ langsam auf und wurden fassbarer. Die Frage, inwie- fern Kleists eigenes Leben und seine Psyche in die Deutung des Findlings einfließen können, soll Ziel dieser Arbeit sein. Ferner soll der Versuch unter- nommen werden, die Novelle einzuordnen und die Familienstrukturen, sowie die Schuldfrage im „Findling“ zu behandeln.

II. Heinrich von Kleist

1. Familiäre Hintergründe

Heinrich von Kleist wird laut Urkunden am 18. Oktober 1777 als Kind einer angesehenen Familie in Frankfurt an der Oder geboren. Er selbst hält jedoch den 10. Oktober für sein wahres Geburtsdatum. Heinrich ist das erste Kind, welches aus der Ehe zwischen seinem Vater Joachim Friedrich und dessen zweiter Frau Juliane Ulrike entstammt. Ihm folgen noch vier weitere Geschwister, aus erster Ehe entstammen bereits zwei Töchter.

Die Familie von Kleist ist im 18. Jahrhundert ein Teil des pommerschen Uradels und brachte bereits vor Heinrichs Geburt zahlreiche Generäle, Feldmarschälle, Gelehrte und hohe Diplomaten hervor.

Vor seiner Militärzeit erhält Heinrich von Kleist bereits einen Einblick in die Werke bedeutsamer Philosophen der Aufklärung und deren klassischer Dich- ter. Nach dem Tod seines Vaters im Jahre 1788 kommt der junge Heinrich in die Obhut des Predigers und Professors Samuel Heinrich Catel, welcher an einem französischen Gymnasium unterrichtete und seiner Zeit ein bedeuten- der Übersetzer war.

Im Alter von 15 Jahren tritt der junge Heinrich, der historischen Verpflichtung seiner Vorväter entsprechend, dem Militär bei. Trotz früher Zweifel am Solda- tendasein verbleibt er bis einschließlich 1799 beim Militär und erlangt schließlich den Rang des Leutnants. Bereits während dieser Zeit engagiert sich Heinrich von Kleist in mathematisch und philosophischen Studien und erwirbt schließlich den Universitätszugang. Seine Mutter stirbt 1793 an Ent- zündungsfieber. Nach ihrem Tod, noch während seiner Militärzeit, verkauft er zusammen mit seinem Geschwistern den Besitz seines Vaters und hat somit, nach seiner Großjährigkeit, einen beträchtlichen Betrag zur freien Verfügung. Doch mit dem Austritt aus dem Militär verliert Kleist, die Familientradition brechend, allmählich die Sicherheit in seinem Leben. Das recht schnell ab- gebrochene Studium und sein rationalistisches Weltbild, welches im folgen- den Absatz thematisiert werden soll, führen bei Heinrich von Kleist zu einer ersten Krise. Trotz Verlobung mit Wilhelmine von Zenge und einer ersten An- stellung im preußischen Wirtschaftsministerium, kann Kleist seine Situation nicht mit seiner Vorstellung einer „freien Geistesbildung“ vereinbaren. Um aus dieser Krise, die Kleist selbst recht früh erkannt haben muss, zu ent- kommen, gibt er 1801 seine Anstellung auf und reist nach Frankreich. Bis zu diesem Zeitpunkt sieht sich Heinrich von Kleist bereits von Gegensätzen in- nerlich geteilt. Seine familiäre Tradition konnte er nicht mit seinen persönli- chen Neigungen vereinbaren, der Wunsch nach freier geistiger Bildung und dem Ausleben seiner poetischen Neigung stand hinter der Pflicht, sich und seine Verlobte zu versorgen, und die Selbstzweifel an seiner Person standen im Gegensatz zu seinem Wunsch nach einer Partnerschaft.

Die Reise nach Paris und die dort gewonnenen Eindrücke sollten ihre ge- wünschte Wirkung jedoch nicht erzielen. Den zahlreichen Briefen an Wilhel- mine ist seine Unzufriedenheit mit dem Leben deutlich zu entnehmen. Hein- rich von Kleist zweifelt immer mehr an den Wissenschaften und dem Fort- schritt der Aufklärung, zeigt sich schockiert von den Rechts- und Wertver- hältnissen, sowie von den Lastern der Menschheit, welche ihm vor allem in Paris deutlich begegnen.2 1803 befindet sich Heinrich in einer tiefen Krise. Im Zuge eines psychischen Zusammenbruchs sucht er erstmals bewusst den Tod3 und will sich der französischen Armee im Kampf gegen England an- schließen. Seiner Beziehung zu Wilhelmine und seiner Halbschwester ist die Überwindung dieser Krise zu verdanken. Noch im selben Jahr beginnt er mit der Arbeit an „Die Familie Schroffenstein“. In den Folgejahren entstehen auch „Amphytrion“ und „Der zerbrochene Krug“. Bis 1805 scheint sich Kleist wieder auf dem Weg der Besserung zu befinden und nimmt erneut eine An- stellung im Staatsdienst an, erkrankt aber noch im selben Jahr und wird, da er zunehmend darunter leidet, von Ulrike intensiv gepflegt.

Auf einer Reise nach Berlin 1807 wird Kleist von französischen Behörden aufgrund eines Spionageverdachts festgenommen und verbringt einige Mo- nate im Kriegsgefangenenlager Châlons-sur-Marne. Einige der Arbeiten, die ab 1808 im „Phoebus“, einer Zeitschrift von Heinrich und seinem Freund Au- gust Müller herausgegeben wurde, entstehen teilweise in diesem Lager. Nach seiner Entlassung im Juni 1807 beginnt eine kreative Schaffensphase Kleists, aus der die Dramen „Penthesilea“ und „Das Kätchen von Heilbronn“, sowie die Erzählungen „Die Marquise von O...“ und „Michael Koolhaas“ her- vorgehen. Beim Publikum erzielen die Texte jedoch nicht ihre gewünschte Wirkung und stoßen teilweise auf harsche Kritik. Dennoch, und das dürfte Kleist einen großen Rückhalt bedeutet haben, konnte er viele seiner Arbeiten in der 1810 gegründeten Tageszeitung „Berliner Abendblätter“ (BA) veröffent- lichen, worin er, neben den Werken von Brentano, Adam Müller und Wetzel endlich ein entsprechendes Forum für sein literarisches Wirken gefunden hatte.

Doch bereits im selben Jahr muss der Verleger der BA, Julius Hitzig, seine Tätigkeit aus finanziellen Gründen einstellen. Auch unter Kleists Führung kann sich die BA nicht etablieren und fällt schlussendlich internen Streitigkeiten und der vermehrten staatlichen Zensur zum Opfer. Die letzte Ausgabe erscheint am 30. März 1811.

Finanziell arg geschwächt und anscheinend sehr krank4 wird Heinrich von Kleists psychischer Zustand zunehmend labil. Als er sich bei einem Besuch bei seinen Geschwistern als „ein ganz nichtsnutzes Glied der menschlichen Gesellschaft“5 beschimpfen lassen muss und seine Aufführung des Dramas „Prinz von Homburg“ scheitert, findet sich Kleist in einer Isolation von Familie und Gesellschaft wieder, aus der er keinen Ausweg mehr findet. Am Morgen des 21. Novembers 1811 erschießt er zunächst seine todkranke Freundin Henriette Vogel und anschließend sich selbst. 2011 soll das Grabmal am Wannsee, dank einer Spende der Verlegerin Ruth Cornelsen, zum zweihun- dertsten Todestag renoviert werden.

2. Kleists Weltbild

Um den Findling, und damit auch vielleicht die Absichten Kleists, besser zu verstehen, wird es nötig sein, sich das Weltbild des Schriftstellers genauer anzusehen. Da Heinrich von Kleist ca. 1800 zahlreiche Briefe mit aufschluss- reichen Erläuterungen seiner Beweggründe veröffentlichte, sollen diese zur Hauptsache dieser Betrachtungen werden. Wie Kleist sich selbst gesehen hat, könnte bei der Deutung eines möglichen Weltbilds von Bedeutung sein. Bereits im Alter von 23 Jahren schreibt er am 13. November 1800 an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge: „ - - und wenn ich auch auf dieser Erde nir- gends meinen Platz finden sollte, so finde ich vielleicht auf einem andern Sterne einen um so bessern.6 Dieser Brief zeigt, dass Kleist bereits sehr früh ein großes Problem gehabt zu haben scheint, sich in der Gesellschaft einzufinden und, wie in II.1. bereits angemerkt, seine zum Teil sicherlich selbst auferlegten Pflichten mit seinen Wünschen zu vereinbaren. Eine sol- che Desorientierung innerhalb der Gesellschaft wird zu einem späteren Zeit- punkt dieser Arbeit auch bei Nicolo zu finden sein.

Kleist, geplagt von Selbstzweifeln, die vielleicht auch in der zeitweise man- gelnden Anerkennung seiner Arbeit begründet liegen könnten, schreibt am 5. Oktober 1803 an seine Halbschwester Ulrike, die er zeitlebens als Bezugs- person wahrnahm:

„ Ist es aber nicht unwürdig, wenn sich das Schicksal herabl äß t, ein so hülflo- ses Ding, wie der Mensch ist, bei der Nase herum zu führen? Und sollte man es nicht fast so nennen, wenn es uns gleichsam Kuxe auf Goldminen gibt, die, wenn wir nachgraben,überall kein echtes Metall enthalten? Die Hölle gab mir meine halben Talente, der Himmel schenkt dem Menschen ein gan- zes, oder gar keins.

Ich kann Dir nicht sagen, wie großmein Schmerz ist. Ich würde vom Herzen gern hingehen, wo ewig kein Mensch hinkommt. Es hat sich eine gewisse ungerechte Erbitterung meiner gegen sie bemeistert, ich komme mir fast vor wie Minette, wenn sie in einem Streite recht hat, und sich nicht aussprechen kann. “ 7

Die Krise, in der sich Kleist immer wieder befindet, scheint also trotz ihrer Tragik stets selbst verursacht. Er wirkt, als sei er mit seiner eigenen Leistung nicht zufrieden und könne keinen Ausweg aus dieser Situation erkennen. Die metaphorische Sprache von Gold und „keinem echten Metall“ könnten in die- sem Zusammenhang von seinen Zielen und dem damit verbundenen Glück (Gold) und der Unerreichbarkeit dieser Ziele, und der damit verbundenen Krise (kein echtes Metall) sprechen.

[...]


1 Blöckner, Günter: Heinrich von Kleist oder Das absolute Ich. Berlin, 1960, S. 134.

2 Vgl. Schröder, Jürgen: Kleists Novelle „ Der Findling “ . Ein Plädoyer für Nicolo. “ Berlin, 1985, S.109.

3 Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke. Stuttgart, 1999, 330.

4 Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke. Stuttgart, 1999, 503ff.

5 Staengle, Peter: Heinrich von Kleist - eine kurze Chronik von Leben und Werk. München, 1993, S. 222.

6 Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke. Stuttgart, 1999, 155ff.

7 Ebd., S.328ff.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Analyse und Interpretation Heinrich von Kleists "Der Findling"
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf  (Philosophische Fakultät)
Veranstaltung
Heinrich von Kleist
Note
2,3
Jahr
2011
Seiten
18
Katalognummer
V199263
ISBN (eBook)
9783656256663
ISBN (Buch)
9783656257011
Dateigröße
425 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
analyse, interpretation, heinrich, kleists, findling
Arbeit zitieren
Anonym, 2011, Analyse und Interpretation Heinrich von Kleists "Der Findling", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/199263

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