Aus der Geschichte einer bedeutenden kulturellen Gemeinschaft der Stadt im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts


Ausarbeitung, 2012

26 Seiten


Leseprobe


Der Arionchor in Wittenberge, gegründet 1892 hatte im kulturellen Leben der Stadt, vor allem in den Jahren der Weimarer Republik eine hervorragende Rolle gespielt. Er war in der Stadt eine kulturelle Institution.

Aus der Arbeiterbewegung hervorgegangen und eng mit ihr verbunden hat er das geistige Leben der Stadt bis zu seinem Verbot durch die Nazis wesentlich geprägt. Die Presse der damaligen Zeit, selbst die dem Chor nicht freundlich gesinnte, lobte die hohe künstlerische Qualität der Auftritte.

Die nachfolgenden Darlegungen sind ein Versuch die Entwicklung des Chores bis zum Jahre 1933 nachzuzeichnen.

Die Quellenlage ist günstig, das Protokollbuch der Zusammenkünfte des Chores ist im Stadtarchiv vorhanden. Es existiert auch eine Vielzahl von Pressemitteilungen über die Auftritte des Chores in Wittenberge und anderswo.

Es ist Zweck der Ausarbeitung , ein wichtiges Kapitel des Wittenberger Geistesleben der Vergessenheit zu entreißen. Die Entwicklung des Chores nach 1945 harrt noch der Erforschung.

Der 11. und 12. Juni 1932 waren für den Arionchor Wittenberge bedeutsame Tage und ein Höhepunkt seiner Geschichte.

Ein Jahr später sollte er nicht mehr existieren. Die Nationalsozialisten hatten die Macht in der Stadt.

Im Juni 1932 feierte der Chor sein 40jähriges Bestehen.[1] Arbeiterchöre aus nah und fern waren als Gäste und Gratulanten erschienen und ein großes Volksfest wurde gestaltet. Mit Recht.

Gesungen wurde in Wittenberge schon immer viel und entsprechende Vereine gab es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon reichlich, gemessen an der Zahl der Einwohner.

Bereits 1887 finden wir den „ Gesangverein für gemischten Chor “ unter der Leitung des Lehrers Louis Rillke.

Derselbe Lehrer stand auch dem am 11. Februar 1887 gegründeten Gesangverein „ Harmonie“ vor.

1872 war die „ Liedertafel “ gegründet worden, die der Kantor Wilhelm Schmidt leitete und der in „Hofmanns Hotel“ probte.

Seit 1879 gab es den Handwerkergesangverein „Liedertafel“, dem der Lehrer Albert Müller als Dirigent vorstand und den “Sängerclub“,gegründet im Januar 1886 unter Leitung des Schlossers F. Lemcke.

Weiter Vereine sollten folgen. Auch Betriebschöre entstanden und Kirchenchor.

Die Gründung dieser Vereine hat sicherlich mit den wachsenden kulturellen Bedürfnissen, dem höheren Bildungsniveau und dem Drang nach Geselligkeit und Gemeinschaft zu tun.

Sie hat aber wohl auch, so unpolitisch diese Vereine auch waren oder sich ausgaben, etwas mit der politischen Entwicklung zu tun.

Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geht die Vereinsbildung einher mit der Entwicklung des Bürgertums, seines Selbstbewusstseins, seiner politischen Emanzipation.

Besonders die in Norddeutschland seit 1808 entstandenen Liedertafeln mit ihrer Pflege des deutschen Volksliedes, trugen zur Entwicklung des Nationalbewusstseins bei.

1862 war der „Deutsche Sängerbund“ gegründet worden.

Nach der Reichsgründung 1871 pflegten die Chöre, in der Mehrzahl Männerchöre, mehr und mehr das Kunstlied. Die Musik wurde zunehmend inhaltsleerer.

Im Gegensatz dazu entstanden in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts Chöre, die aus Handwerker - Gesangvereinen, Gesangsabteilungen der Arbeiterbildungsvereine und des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) hervorgegangen waren. Nach 1870 entstanden regionale Arbeitersängerbünde.

Zur Zeit des Sozialistengesetzes 1878-1890 waren diese Gesangvereine zum Teil Tarnorganisationen für politische Vereine.

1892 konnte die „Liedergemeinschaft der Arbeiter-Sängervereinigungen Deutschlands“ gegründet werden, die zu dem Zeitpunkt 9150 Mitglieder hatte. 1908 entstand aus der „Liedertafel“ der „Deutsche Arbeitersängerbund“ (DASB), der zu diesem Zeitpunkt schon über 100000 Mitglieder hatte. 1912 hatte der DASB den bürgerlichen Deutschen Sängerbund bereits überholt. .[2] Man knüpfte an Traditionen des bürgerlichen Männerchorvereinswesens an. Die bürgerlichen Gesangvereine standen aber auf dem Standpunkt, dass ein „deutscher Sänger kein Sozialdemokrat sein kann“.

In diesen Zusammenhang ist die Gründung des Wittenberger Chores „Arion“ einzuordnen.

Er ist mit der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie aufs engste verbunden.

Aufgerufen zur Gründung des Vereins wurde im Februar 1892.

28 Interessenten, wohl meist Sympathisanten der SPD, waren auf der Gründungsversammlung anwesend. Darunter der Arbeiter Richard Lademann aus der Lenzenerstraße, der aktives Mitglied des sozialdemokratischen Wahlvereins war.

Zu den Gründern gehörte der musikalisch sehr engagierte Schneidermeister Hermann Lüders, der damals in der Feldstraße 25 wohnte. Er wurde als Dirigent gewählt und noch am gleichen Abend wurde mit den Übungen begonnen.

Als Name für den Chor griff man auf den altgriechischen Dichter und Sänger A r i o n zurück, der um 60 v. d .Zeitrechnung in Methymna auf Lesbos lebte. Er soll das Festlied zu Ehren des Gottes Dionysos, den Dithyrambus zu einer literarischen Kunstform entwickelt haben. Arion wurde zur Gestalt eines typischen Sängers.

Möglicherweise hat Lüders diesen Namen ausgesucht.

Auf den politischen Charakter des Chores wurde auch in der Festbroschüre, die 1932 zum 40, Gründungstage erschien, hingewiesen. Es heißt dort:

Bis zur Gründung des sozialdemokratischen Wahlvereins im Jahre 1902 war „Arion“ der

Hort der freien Arbeiterbewegung.“

Diese Haltung setzte sich bis 1933 fort. Die Wittenberger sozialdemokratische „Volkszeitung“ schrieb am 13.6.1932 angesichts der Bedrohung der Weimarer Republik:

Frei erheben die Arbeitersänger Herz und Hand für den bedrohten Volksstaat, der ihnen erst die Grundlagen und Möglichkeiten kultureller Wirksamkeit gab.

Zur Sonne heben wir die Stirn

Die Zukunft liegt in unserm Hirn

Das Volk marschiert zum Sturm und singt

Die Internationale klingt

Das rote Lied der Freiheit.“

Die Tätigkeit in den Arbeitergesangvereinen, so auch im Arion trug nicht nur den Bedürfnissen nach Geselligkeit Rechnung, sondern war auch politisches Betätigungsfeld, das teilweise in der Partei, d.h. der SPD nicht so gefunden wurde oder gefunden werden konnte. Hermann Duncker formulierte das 1906 so:

„Wenn unsere Arbeiterinnen schon wissen: mit Streikbrechern tanzt man nicht, so wissen wir: mit Bourgeois singt man nicht!“

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1893 konnte in Wittenberge ein Banner angeschafft werden, das noch erhalten ist und sich im Wittenberger Museum befindet.

Das Arionbanner war gewissermaßen das politische Banner der sozialdemokratischen Bewegung, da ein dauerhafter sozialdemokratischer Wahlverein erst 1902 gegründet wurde.

In den Anfangsjahren spielte der Chor bei der Agitation für die Sozialdemokraten in der Stadt und darüber hinaus eine wichtige Rolle. Die Agitation der Partei vollzog sich unter dem Banner von Arion.[3]

Das führte zu Konflikten mit der Polizei. So wurden immer wieder Vereinslokale gesperrt. Für zwei Jahre musste der Vereinsname in „Einigkeit“ umbenannt werden. Oft drohte auch die Verhaftung von Mitgliedern.

In Konflikt mit den Ordnungshütern geriet man bereits kurz nach der Gründung, am 1. Mai 1892.

An diesem Tag, der 1. Mai war noch nicht gesetzlicher Feiertag, organisierte der Verein einen Maiausflug nach Cumlosen. In einem Hundegespann wurden Agitationsmaterial, ein Leierkasten u.a. befördert..

Im damaligen Lokal Schulz wurde zum Tanz aufgespielt. Die Polizei erschien, die Veranstaltung wurde verboten, der Vorstand entging der Verhaftung durch Flucht.

Auch 1893 beim Maiausflug nach Wilsnack, an dem etwa 100 Menschen teilnahmen, forderte die Polizei die Entfernung des roten Banners und drohte mit der Verhaftung des Vorstandes.

Der Verein wurde als politischer Verein eingestuft und änderte für zwei Jahre seinen Namen in „Einigkeit“.

Widerstand kommt auch von manchen Geistlichen. Ein Pfarrer verkündete von der Kanzel:

Falls die Arbeitersänger an einer Beerdigung teilnehmen kommt meine Mitwirkung nicht in Frage.

Dem Arbeitergesangverein wurde untersagt am Grabe zu singen. Die Kirche betrachtete das als „Hausfriedensbruch-[4]

Der entscheidende Schritt zur Entwicklung des Chores vollzog sich viel später, am 12. März 1909.

An diesem Tag trat der Chor dem Deutschen Arbeiter Sängerbund (DASB) bei.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Banner des Deutschen Arbeiter Sängerbundes

Dieser Bund war, wie bereits erwähnt 1908 gegründet worden und gab seit 1907 die „ Deutsche Arbeiter Sängerzeitung“ als Organ heraus.[5]

Unter der Leitung des Musikdirektors Kummer organisierte der Verein eine Vielzahl von Auftritten und Konzerten.

Erst mit dem ersten Weltkrieg musste die Vereinsarbeit eingestellt werden.

Zu den aktiven frühen Mitgliedern des Chores, die dann dessen Blütezeit in der Weimarer Republik noch miterlebten gehörten neben dem bereits erwähnten Richard Lademann

Otto Radatz eingetreten am 1.6.1896

Ernst Bachmann eingetreten am 1.6.1896

Paul Walde eingetreten am 1.8.1901

Wilhelm Ebert, eingetreten am 1.4.1902

Hermann Giebler, eingetreten am 1.1.1903

Otto Böttcher eingetreten am 1.2.1903

13 Mann waren es, die im Dezember 1918 zur ersten Nachkriegsversammlung zusammen kamen und einen neuen Vorstand wählten. Die Namen sind nicht bekannt.

1920 übernahm Musikdirektor Berthold Strauß als Dirigent die Leitung des Vereins. Er legte den Grundstein für die späteren Erfolge des Arionchores. Strauß leitete ein eigenes Orchester, das Straußorchester, das in die Veranstaltungen des Chores mit einbezogen wurde.

So z.B. am 11. Oktober 1921 beim abendlichen großen Konzert im Stadtsaal in der Perlebergerstraße 10.

Aus dem Programm geht die Vielseitigkeit des Repertoires und dessen Anspruch hervor. Höhepunkt des Abends war zweifellos der Walzer für Männerchor und Orchester

An der schönen blauen Donau.

Die Texte der Lieder waren, wie auch bei späteren Konzerten auf den Rückseiten der Programme abgedruckt. Die Programme wurden übrigens in der Volksblatt Druckerei in Spandau gedruckt.

Bereits 1921 begann die Zusammenarbeit des DASB mit dem bürgerlichen Sängerbund. Gemeinsam wurden staatliche Fortbildungsschulen besucht. 1923 trat der DASB in den Reichsausschuss für Chorgesangwesen.

1924 folgte als Dirigent Edmund Halling, mit dem die eigentliche Blütezeit des Chores begann. Halling absolvierte eine sechswöchige Schulung in Berlin, wozu jeder Sänger einen Sonderbeitrag von 5 RM zusteuerte. Auch eine halbjährige Schulung am Ort fand statt, für die 780 Mark aufgebracht werden mussten.

Neben dem Chor bestand noch ein Doppelquartett, das u. a. auch bei Bestattungen auftrat, wozu es einen Vertrag mit dem Deutschen Freidenker Verband gab.

Höhenpunkt im Jahr 1924 war das Bezirkssängerfest in Wittenberge am 5.und 6. Juli. Neben einer ganzen Anzahl von Bezirksvereinen war der „Friedrich Hegar Chor“ aus Berlin mit 180 Sängern unter der Leitung des Dirigenten I. G. Rohrbach anwesend.

Auf der Mitgliederversammlung am 17. Januar 1925 konnte berichtet werden, dass der Gesangverein bereits 120 Sangesbrüder umfasste.

Im Januar wurden in den neuen Vorstand gewählt:

Küster 1. Vorsitzender

Middendorf 2. Vorsitzender

Nique Kassierer

Eichler Schriftführer

Stimmführer wurden Eggebrecht, Greut, Siehl, als Revisoren Hing, Posinke und Krone gewählt.

Für das Vereinsbanner wurden Dittmann und als Bannerbegleiter die Gebrüder Krone bestimmt.

Sangesbruder Eggebrecht führte das Archiv und Havemann die Chorkasse.

Es war allgemein üblich, dass die Vereine ein Banner besaßen, das bei Umzügen und anderen Veranstaltungen mitgeführt wurde. Dafür gab es einen Bannerführer mit Begleitung.

1925 gab sich der Chor ein neues Statut. Dazu wurde auf der Mitgliederversammlung am 25. April vier Mitglieder gewählt und zwar die Sangesbrüder

Sieth, Ballinger, Geitsch, Havemann,

die mit dem Vorstand die neuen Statuten ausarbeiten sollten.

Auf der Mitgliederversammlung am 6.6.1925 wurde der Entwurf vorgestellt. Interessant ist die Darlegung über den Zweck des Vereins.

Im § 1 heißt es.

„Der unter dem Namen Arion bestehende Männergesangverein stellt sich in den Dienst der Arbeiterbildungsbestrebungen.

Er bezweckt insbesondere

a) die Pflege und Förderung des Gesanges, Erweckung und Verbreitung des Kunstverständnisses seiner Mitglieder, sowie die Stärkung des Gefühls der Zusammengehörigkeit,
b) Die Mitwirkung bei Veranstaltungen der auf dem Boden der freien Arbeiterbewegung stehenden republikanischen, politischen und gewerkschaftlichen Vereinigungen,
c) Mitwirkung bzw. Veranstaltung von Wohltätigkeitskonzerten,
d) Veranstaltung von Platz und Gastkonzerten
e) Veranstaltungen von künstlerischen Gesangsdarbietungen in Anstalten und Heimen usw.“

[...]


[1] Siehe dazu: Festschrift des DAS zum Jubiläumsfest 11.-12. Juni 1932 40 Jahre Arion Wittenberge

[2] Hartmann Wunderer Arbeitervereine und Arbeiterparteien Kultur- und Massenorganisationen in der Arbeiterbewegung (1890-19339) Campus Verlag Frankfurt/New York 1980 S. 43

[3] 40 Jahre Gesangverein „Arion“ 1892 – 1932 In: Festschrift zum Jubiläumsfest S. 9

[4] Manuskript Aus der Geschichte des FDGB Chores „Arion“ Verfasser Middendorf

[5] Vorläufer war 1892 die Liedergemeinschaft

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Aus der Geschichte einer bedeutenden kulturellen Gemeinschaft der Stadt im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts
Autor
Jahr
2012
Seiten
26
Katalognummer
V199111
ISBN (eBook)
9783656254713
ISBN (Buch)
9783656255543
Dateigröße
1907 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
geschichte, gemeinschaft, stadt, drittel, jahrhunderts
Arbeit zitieren
Günter Rodegast (Autor:in), 2012, Aus der Geschichte einer bedeutenden kulturellen Gemeinschaft der Stadt im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/199111

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