Untersuchung der Zuschauermotivation neuer Formate des Reality-TV

Am Beispiel von Big Brother


Magisterarbeit, 2011

106 Seiten, Note: 1,6


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1 Einleitung

2 Aufbau und Vorgehensweise

3 Das Genre Reality-TV
3.1 Definition desTerminus Reality-TV
3.2 Historische Entwicklung des Genres
3.3 Aktuelle Bestandsaufnahme des Genres im deutschen Fernsehen
3.4 Real Life Soaps als Ausprägung des performativen Realitätsfernsehens
3.4.1 Charakteristika von Docu Soaps und Reality Soaps
3.4.2 Charakteristika der Dokumentation
3.4.3 Charakteristika derSerie
3.4.4 Real Life Soaps - ein Hybridgenre - eine Ausprägung des Reality-TV

4 Big Brother
4.1 IdeeundKonzeption
4.2 Die Bedeutung von Big Brother
4.3 Die Ethikdiskussion rund um Big Brother
4.4 Reaktionen aus Politik und Presse
4.5 Die Zuschauer - Struktur und Motivation
4.5.1 Rezeptionsstudie von Grimm
4.5.2 Rezeptionsstudie von Göttlich/Nieland
4.5.3 Rezeptionsstudie von Mikos
4.5.4 Rezeptionsstudie von Schweer/Lukaszewski
4.5.5 Rezeptionsmotive nach Schwabe
4.6 Exkurs: Der mediale Mix bei Big Brother

5 Big Brother 10 - Jeder hat ein Geheimnis
5.1 Konzeptionelle Unterschiede zur ersten Staffel
5.2 Quoten, Marktanteile und Verlängerung
5.3 DieBewohner
5.4 Inszenierungsstrategien, Dramaturgie und Montage

6 Untersuchung der Zuschauermotivation von Big Brother
6.1 Internetgestützte Befragung
6.2 F ragestellung 7
6.3 Auswertung
6.3.1 Fernsehverhalten
6.3.2 Zuschauermotivation bei Big Brother
6.3.3 Big Brother - Die 10. Staffel
6.3.4 Teilnahme bei Big Brother
6.3.5 Internetnutzung
6.3.6 Fazit

7 Zusammenfassung und Ausblick

Literaturverzeichnis

Medienverzeichnis

Anhang

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Abbildung 1: Zeitstrahl Entwicklung Reality-TV 1948 bis 01. März 2000

Abbildung 2: Zeitstrahl Entwicklung Reality-TV in Deutschland ab 2000

Abbildung 3: Big Brother-Zuschauer nach Altersgruppen (vgl. Mikos/Weidemann 2001, S. 160 Tabelle 2)

Abbildung 4: Zielgruppe Monat Januar

Abbildung 5: Zielgruppe Monat März

Abbildung 6: Gesamt Monat April

Abbildung 7: Zielgruppe Monat April

Abbildung 8: Vergleich Einschaltquoten Gesamt und Zielgruppe 11.06. - 11.07.2010

Abbildung 9: Übersicht Tätigkeitsfelder Probanden

Abbildung 10: Frage 10 - Aussagen zum Fernsehverhalten

Tabelle 1: Merkmale der Real Life Soap in den Beispielen Tag 53 und Tag 85

Tabelle 2: Rezeptionsmotive Sozialer Interaktion

Tabelle 3: Rezeptionsmotive Parasozialer Interaktion

Tabelle 4: Rezeptionsmotive Faszination des Alltäglichen

Tabelle 5: Rezeptionsmotive Authentische Momente

Tabelle 6: Rezeptionsmotive Vergleich Authentizität und Fiktionalitä

Tabelle 7: Rezeptionsmotive Zeitvertreib

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

„Big Brother is watching you“ - das wohl bekannteste Zitat aus George Orwells Roman 1984, welcher im Jahr 1948 erschien. Orwells Zukunftsvisionen der staatlichen Überwachung durch Kameras und Mikrofone sind heutzutage präsenter denn je. Besonders im Zusammenhang mit dem World Wide Web ist immer wieder die Rede vom ,gläsernen Menschen’ und der ,totalen Überwachung’ aller Vorgänge jedes einzelnen Bürgers. Im Medium Fernsehen finden Orwells Visionen seit 1999 in den Niederlanden und seit 2000 in der Bundesrepublik Deutschland durch das Format Big Brother ihre Umsetzung.

Kaum eine Sendung wurde in den Medien so stark diskutiert und feierte anschließend solche Erfolge wie Big Brother. Wo anfangs noch von Verboten und Boykotten die Rede war, steht im Frühjahr 2011 bereits die elfte Staffel in den Startlöchern. Weiterhin gilt Big Brother als ein Vorreiter in der Nutzung eines multimedialen Mixes und durch den innovativen Einsatz technischer Mittel. Erstmals gelang es einer Sendung, so sehr in Interaktion mit dem Publikum zu treten. Zudem ist mit Big Brother eine neue Form des Reality-TV geboren - die Real Life Soap.

Der Sendestart von Big Brother löste eine Welle neuer Reality-TV Formate aus. Allein innerhalb eines Jahres wurden neun Sendungen ausgestrahlt, welche versuchten an den Erfolg von Big Brother heran zu reichen. Nur wenige konnten diesem nahe kommen.

Ich selbst habe einen Großteil meiner Jugend mit diesen Sendungen verbracht und es hat mich schon immer interessiert, mit welcher Motivation die Fernsehzuschauer diese Sendungen verfolgen. Im Rahmen meines Studiums der Medien- und Kommunikationswissenschaften wurde der Bereich der Fernsehforschung zwar stets angerissen, aber nicht zu meiner Zufriedenheit bearbeitet, weshalb ich mich dazu entschieden habe, schließlich selbst in diesem Bereich zu forschen. Kenntnisse zu Befragungsmethoden konnte ich mir hierfür während des Studiums aneignen.

Lothar Mikos hat sich im Rahmen seiner Forschung an der Hochschule für Film und Fernsehen „ Konrad Wolf “ als einer der führenden Autoren zum Thema Big Brother heraus kristallisiert ebenso wie Marcel Feige. Im Bereich Reality-TV können vor allem die Werke von Claudia Wegener, Dominik Koch-Gombert und Elisabeth Klaus eine gute Einführung geben.

2 Aufbau und Vorgehensweise

Ziel der vorliegenden Arbeit Untersuchung der Zuschauermotivation neuer Formate des Reality-TV am Beispiel von „Big Brother “ ist es, herauszustellen, mit welcher Motivation Zuschauer ein Format wie Big Brother, welches bereits seit zehn Jahren Bestandteil der deutschen Fernsehlandschaft ist, ansehen.

Personengruppen werden dabei stets im Maskulinum genannt, umfassen aber alle Geschlechter.

Hierfür wird zunächst in Kapitel 3 eine terminologische Abgrenzung des Begriffes Reality- TV vorgenommen und eine dieser Arbeit zu Grunde liegende Definition vorgestellt. Nachfolgend wird sowohl die Historik als auch die aktuelle Entwicklung des Genres Reality-TV erläutert. Dies ermöglicht eine Einordnung des Formates Big Brother als performatives Realitätsfernsehen im Rahmen der Entwicklung von Unterhaltungsformaten im Fernsehen. In diesem Zusammenhang werden die Charakteristika von Docu Soap, Reality Soap, Dokumentation und Serie analysiert, da verschiedene Elemente dieser Formate bei der Sendungskonzeption von Big Brother aufgegriffen werden.

Kapitel 4 widmet sich der Beschreibung der Sendung Big Brother. Idee und Konzeption der Sendung durch John de Mol werden vorgestellt. Hierauf folgt eine Diskussion über ethische Grenzen, welche durch Politiker und Presse im Vorfeld der Ausstrahlung der ersten Staffel begonnen wurde. Ebenso werden die zentralen Themen des öffentlichen Diskurses zu Beginn der Ausstrahlung dargestellt. Der Erfolg der Sendung gründete sich aus der enormen Resonanz beim Publikum. Dessen Struktur und Motivation wird in diesem Kapitel untersucht. Hierzu werden anhand der Rezeptionsstudien von Grimm, Göttlich/Nieland, Mikos und Schweer/Lukaszewski sowie der Zusammenfassung der Rezeptionsmotive nach Schwäbe die Motive der Zuschauer bezüglich der ersten Staffeln Big Brother heraus gestellt. In einem kurzen Exkurs wird anschließend das Zusammenspiel der Sendung mit anderen Medien behandelt. Denn ein weiterer Grund für den großen Erfolg der Sendung ist die Verbindung der Ausstrahlung im Fernsehen mit den Angeboten im Internet und der Herausgabe eines Magazins zur Sendung, welches Hintergrundinformationen zu den Bewohnern und der Produktion von Big Brother enthält. Themenschwerpunkt der Arbeit soll jedoch die Motivation der Zuschauer über das Medium Fernsehen bleiben.

Im fünften Kapitel wird die zehnte Staffel Big Brother analysiert. Dabei werden zunächst die konzeptionellen Unterschiede zur ersten Staffel heraus gestellt. Aufgrund der Verlängerung der Staffel, während diese bereits mehr als drei Monate auf Sendung war, werden die Einschaltquoten und Marktanteile untersucht, um zu erklären, ob diese im Zusammenhang mit der Verlängerung stehen. Zudem wird die Zusammensetzung der Kandidaten anhand selektiv ausgewählter Beispiele der Bewohner erläutert. Auffällig ist hierbei, dass einige Bewohner bereits vor Big Brother im Fernsehen zu sehen waren und somit den Zuschauern nicht unbekannt sein müssen. Da die Sendung redaktionell bearbeitet wird, bevor die Tageszusammenfassungen um einen Tag zeitversetzt auf RTL 2 ausgestrahlt werden, ist es notwendig, anhand zwei zufällig ausgewählter Beispieltage die Inszenierungsstrategien, die Dramaturgie der Sendung sowie die Verwendung von Mitteln der Montage aufzuzeigen.

Die im vierten Kapitel zusammengetragenen Rezeptionsstudien und -motive schaffen die Grundlage für das sechste Kapitel, in welchem die aktuelle Zuschauermotivation untersucht wird. Hierfür wurde eine internetgestützte Befragung durchgeführt, deren Methodik sowie Vor- und Nachteile erläutert werden. Anschließend werden der Aufbau des Fragebogens sowie die Fragestellung vorgestellt. Zu Beginn der Arbeit wurde der Fragebogen über die sozialen Netzwerke Facebook, SchülerCC, SchülerVZ und StudiVZ beworben. Veröffentlicht wurde die Befragung auf dem Umfrageportal Voycer.de.

Die Auswertung der Ergebnisse erfolgt chronologisch nach dem Aufbau des Fragebogens. Hier wird die zentrale Frage der Arbeit aufgegriffen: Mit welchen Motiven verfolgen die Zuschauer die Sendung Big Brother nach ihrem zehnjährigen Bestehen?

Mit Bezugnahme auf die Befragung werden die aktuellen Motive aufgezeigt und in einen Zusammenhang mit den Rezeptionsmotiven zu Beginn des neuartigen Formates gesetzt. Zudem wird der Stellenwert des Mediums Fernsehen im Vergleich zum Internet dargestellt.

Im Abschluss der Arbeit werden alle zentralen Ergebnisse zusammengefasst. Zusätzlich erfolgt ein Ausblick auf die zukünftige Entwicklung der Fernsehlandschaft, insbesondere in Bezug auf die Entwicklung des Genres Reality-TV sowie des Formats Big Brother.

3 Das Genre Reality-TV

In der Fernsehpraxis zeigt sich, dass für das Fernsehformat, welches in der vorliegenden Arbeit als Reality-TV bezeichnet wird, verschiedene Formulierungen verwendet werden. So werden auch mit den Begriffen Reality-Show, Reality-Serie, news-show und Gaffer­Sendung Inhalte des Reality-TV bezeichnet.

Daher wird in diesem Kapitel zuerst eine terminologische Abgrenzung des Begriffs Reality-TV vorgenommen. Anhand der historischen Entwicklung des Genres wird hiernach eine Überleitung auf die aktuelle Situation geschaffen. Abschließend erfolgt eine Beschreibung des „performativen Realitätsfernsehens“, zu dem die Sendung Big Brother durch Autoren wie Mikos gezählt wird. Die Produzenten selbst nennen das Format „Real- Life-Soap“, weshalb auch dieser Terminus in diesem Kapitel erläutert wird.

3.1 Definition des Terminus Reality-TV

Schon Claudia Wegener stellt in ihrem Buch Reality-TV. Fernsehen zwischen Emotion und Information fest, dass Reality-TV ein „diffuses Genre ist“ (vgl. Wegener 1994, S. 15). Jedoch besitzen alle Sendungen, die unter diesem Begriff im Fernsehen ausgestrahlt werden, eine gemeinsame Basis. Diese besteht laut Wegener darin, „da[ss] tatsächliche Ereignisse nachgestellt oder durch Videoaufnahmen von sogenannten Augenzeugen dokumentiert werden.“ (Wegener 1994, S. 15-16). Weiterhin schreibt Wegener, dass es die Darstellung von Grenzsituationen ist, die das Genre kennzeichnet. Dominik Koch-Gombert versteht Reality-TV als ein Genre, „das reale Geschehnisse dazu benutzt, [...] möglichst hohe Zuschauerzahlen zu erzielen.“ (Koch-Gombert 2005, S. 243). Wegener sieht die Aufteilung der Sendung in einzelne Fragmente als weiteres Merkmal der formalen Gestaltung. Hierdurch stellt jeder Beitrag eine abgeschlossene Erzählung dar und eine Sendung besteht somit aus vier bis fünf einzelnen Storys. Die einzelnen Geschichten werden durch eine/n Moderator/in verknüpft, welche/r den Zuschauer durch die Sendung führt (vgl. Wegener 1994, S. 16).

Sowohl Claudia Wegener als auch Dominik Koch-Gombert zitieren im Zusammenhang mit der Definition des Begriffs Reality-TV eine Untersuchung des Instituts für Medienanalyse und Gestalterkennung Essen zum Thema Reality-TV, welche dem Genre vier wesentliche Darstellungsformen zuordnet:

- Filmdokument: Es handelt sich um so genannte ,Echtaufnahmen’, die sowohl zufällig als auch geplant ungewöhnliche Geschehnisse festhalten
- Dokumentationsdrama: Im Rahmen einer TV-Produktion werden reale Ereignisse wirklichkeitsgetreu nachgestellt.
- Suchsendung: Die Technik der Fernsehanstalten wird zur Lösung von sozialen Problemen genutzt.
- Reality-Show: Dabei muss zwischen Talk-, Psychodrama- und Action-Show unterschieden werden. Es werden reale Konflikte dargestellt, die in einem gewissen Rahmen gelöst werden (vgl. Koch-Gombert 2005, S. 243).

In dem Aufsatz Die spielerische Inszenierung von Alltag und Identität in Reality-Formaten äußert sich Lothar Mikos zur Charakterisierung des Reality-TV. Hier treten „normale“ Menschen auf, die sich selbst spielen. Dies unterscheidet das Reality-TV von fiktionalen Formaten wie Fernsehfilmen und -serien. Weiterhin kommt es in den Formaten des Reality-TV zu einer spielerischen Inszenierung des Alltags (vgl. Mikos 2002, S 30). Mikos ordnet Reality-Formate als Hybridgenre ein, welche sich dadurch auszeichnen, dass sie Konventionen und Darstellungsweisen verschiedener Genres miteinander verbinden (vgl. ebd., S. 31).

Margreth Lünenborg sieht die aktuellen Formen des Reality-TV als eine Weiterentwicklung verschiedener Formen des Dokumentarischen. Dabei handelt es sich mehr um eine fernsehspezifische Weiterentwicklung als um eine kategoriale Differenz zwischen traditionellen Formen der filmischen Dokumentation und Variationen des Reality-TV (vgl. Lünenborg 2005, S. 134). Anfang der 90er Jahre wurden ausschließlich gewalt- und katastrophenzentrierte Magazine im Stil von Notruf, Retter oder Auf Leben und Tod als Reality-TV bezeichnet (vgl. ebd., S. 137).

Winterhoff-Spurk charakterisiert das Genre als

„jene TV-Sendungen, in denen negative Deviationen des Alltäglichen vornehmlich in nachgestellten oder eigens inszenierten Szenen von männlichen Einzelpersonen unter Verwendung einer dynamisch agierenden Kamera dargestellt werden.“ (zit. nach Lünenborg 2005, S. 137)

Jonas und Neuberger hingegen unterscheiden zwischen beziehungszentriertem und gewaltzentriertem Reality-TV (vgl. ebd.). Für Lücke sind sämtliche Unterformen des Reality-TV gekennzeichnet durch den Auftritt von Alltagsmenschen, Mittel der Personalisierung, Emotionalisierung, Intimisierung, Stereotypisierung und Dramatisierung (vgl. Lünenborg 2005, S. 138). Lünenborg ergänzt die bereits genannte Alltagsorientierung und die Authentizität der Charaktere noch durch „soziale Kontextuierung“, welche eine zentrale Rolle im Reality-TV spielt. (vgl. ebd., S. 139)

Eine weitere Herangehensweise an die Definition des Terminus Reality-TV findet sich im Aufsatz Fernsehreifer Alltag: Reality TV als neue, gesellschaftsgebundene Angebotsform des Fernsehens von Elisabeth Klaus. Die Verfasserin geht davon aus, dass die Art und Weise, wie die Menschen leben, nicht mehr selbstverständlich ist. Darum produziert das Reality-TV alltägliche Erfahrungen und zeigt Muster des menschlichen Miteinanders, die früher direkter beobachtet werden konnten (vgl. Klaus 2008, S. 157). Reality-TV schaffe die Möglichkeit, Neues über das Leben anderer Menschen zu erfahren und somit zumindest einen kurzen Blick auf deren Lebensentwürfe zu werfen (vgl. ebd., S. 158). In der Rezeptionsstudie von Hill konnte gezeigt werden, dass die Sendungen des Reality-TV in hohem Maße dazu anregen, über Normen und Werte des Zusammenlebens nachzudenken (vgl. ebd.). Klaus fasst weiterhin zusammen, „dass es sich beim Reality TV um eine neue Grundform der Fernsehproduktion handelt. Reality TV ist kein flüchtiges Phänomen, auch wenn es viele seiner Formate sind, sondern scheint sich als dauerhafte und langlebige Angebotsform herauszukristallisieren.“ (ebd.)

Laut Elisabeth Klaus basiert Reality-TV auf einem fiktionalen Realismus, einer Mischung aus fiktional-inszenierten und faktisch-dokumentarischen Darstellungen. Die Szenen sind in der Realität verankert und dennoch fiktional bearbeitet und umgeformt. (vgl. ebd., S. 159) Reality-TV bildet somit eine Mischform aus Information und Unterhaltung. Lothar Mikos ergänzt dieses Gegensatzpaar in seinem Aufsatz Big Brother als performatives Realitätsfernsehen - Ein Fernsehformat im Kontext der Entwicklung des

Unterhaltungsfernsehens durch Öffentlichkeit und Privatheit, Authentizität und Inszenierung, Fiktion und Realität (vgl. Mikos 2000, S. 165-166). Klaus bricht das Erfolgskonzept des Genres auf das Übertreten von Grenzen, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, herunter (vgl. Klaus 2008, S. 162). Einen zentralen Reiz der Sendung macht die Möglichkeit des Rollenwechsels von Konsument zu Produzent und von Zuschauer zu Schauspieler aus. Der Konsument wird zum Produzenten, indem er durch Telefonabstimmungen den Verlauf der Sendung beeinflussen kann. Der Zuschauer wird zum Schauspieler, wenn er sich erfolgreich für ein Format des Genres beworben hat (vgl. ebd., S. 163).

Als ein weiteres zentrales Merkmal des Reality-TV nennt Kilborn, die Wirklichkeit zu spielen und Aufführungen wirklichkeitsnah zu gestalten (vgl. Klaus 2008, S. 164).

Durch den anhaltenden Trend des Reality-TV im deutschen Fernsehen werden Magazine mittlerweile durch ,Infotainment’ dominiert. Selbst im Informationsbereich erfolgt eine dramatisierende und sensationalisierende Berichterstattung. Dabei „dienen dokumentarische (oder nachgestellte) Filmaufnahmen und die Berichterstattung über Schicksalsschläge von Menschen nicht mehr bloß der Information, sondern vor allem der Unterhaltung.“ (Lücke 2002, S. 22-23)

Nach Klaus, Koch-Gombert, Lücke und Mikos kann für diese Arbeit Reality-TV zusammenfassend folgendermaßen definiert werden:

(1) Es handelt sich um ein Fernsehformat, welches auf realen Geschehnissen basiert.
(2) Die Akteure sind ,normale’ Menschen, die sich selbst spielen, wodurch es zu einer spielerischen Inszenierung des Alltags kommt. Dabei muss zwischen beziehungs- und gewaltzentriertem Reality-TV unterschieden werden.
(3) Die Akteure werden im Rahmen des Reality-TV in einen sozialen Kontext zueinander gesetzt, wodurch Muster des menschlichen Miteinanders aufgezeigt werden können.
(4) In diesem Genre mischen sich fiktional-inszenierte und faktisch-dokumentarische Darstellungen, da die gezeigten Szenen zwar real stattfinden, jedoch durch den Produktionsschritt der Montage fiktional bearbeitet und umgeformt werden.
(5) Das Interesse des Zuschauers für das Genre Reality-TV wird vor allem dadurch geweckt, dass er durch Telefonabstimmungen den Verlauf der Sendung aktiv beeinflussen kann.

3.2 Historische Entwicklung des Genres

Tatsache ist, dass eine Vielzahl der deutschen Reality-TV-Sendungen US-amerikanische Vorbilder besitzt, Daher soll im Folgenden zunächst auf die internationale Entwicklung des Reality-TV verwiesen werden, um auf die Entwicklung in Deutschland überzuleiten. Diese Entwicklung wird in diesem Kapitel bis zum Beginn der ersten Big Brother Staffel dargestellt, welche am 01. März 2000 Sendestart hatte.

Dominik Koch-Gombert verweist bei der geschichtlichen Entwicklung des Genres auf die Doku Soap als direkten Vorgänger des Reality-TV und in diesem Zusammenhang auf Großbritannien (vgl. Koch-Gombert 2005, S. 244). Dabei bezieht er sich auf Winterhoff- Spurk, welcher bereits „in den Hörspielen (z.B. ,War of the Worlds’), den Radio Features und den Wochenschauen des Kinos als auch den Bilderbögen des 17. Jahrhunderts die Vorläufer des Reality Fernsehens“ (ebd.) sieht. Weiterhin nennt Koch-Gombert den „Tabloid Journalism“ als Vorreiter des heutigen Reality-TV. Dieser setzt sich überwiegend mit den Themengebieten Sex, Geld, Kriminalität und menschlichen Schicksalen auseinander. Besonderes Kennzeichen ist die Personalisierung der Nachrichten (vgl. ebd., S. 245).

Sowohl Lothar Mikos (2000) als auch Dominik Koch-Gombert (2005) nennen die Show Candid Camera, ein Format, das von 1948 bis 1990 im US-Fernsehen zu sehen war und der heutigen Auffassung von Wirklichkeitsfernsehen sehr nahe kommt. In der Sendung wurden ,normale’ Menschen in nachgestellten Scherzsituationen präsentiert. Daher bezog die Show, so Mikos, „ihre Spannung und ihren unterhaltenden Wert sowohl aus dem, was passiert, als auch aus dem, wie sich die beteiligten Kandidaten verhalten.“ (Mikos 2000, S. 162) Auch die Sendung Queen of a Day erweckte im Rahmen des Reality-TV in den 50er Jahren Aufmerksamkeit. Hier diskutierten fünf Frauen ihre Schicksale (vgl. Koch-Gombert 2005, S. 246).

Wegener bezieht sich in ihren Aussagen auf die USA als Ursprungsland des Reality-TV, in dem das Genre 1988 einen ,Boom’ erfuhr.

„Allein die drei großen Networks füllen dreizehn Stunden ihrer Sendezeit mit unterschiedlichen Sendungen diesen Typs, angefangen von ,Top Cops’, ,American’s most wanted’, ,Code 3’, ,Rescue 911’ oder ,A Current Affair’.“

(Wegener 1994, S. 18)

Als Ursachen für diesen Erfolg sieht Robins (vgl. ebd.) zum einen den Zuspruch von Seiten des Publikums und zum anderen die extrem niedrigen Produktionskosten. Amerikanische Fernsehjournalisten arbeiten mit Polizeidienststellen und FBI-Agenten zusammen und filmen deren Vorgehen gegen Verdächtige an Ort und Stelle (vgl. ebd., S. 19), was einen hohen Authentizitätswert schafft. Ebenso werden Laien mit einer Videokamera ausgestattet und filmen oft unter Lebensgefahr Straßenkämpfe und Naturkatastrophen (vgl. ebd.).

In Europa ist das Genre Reality-TV erst seit Ende der 80er Jahre im Fernsehprogramm zu finden. Dabei wird nicht nur das amerikanische Vorbild kopiert, „das europäische Reality- TV stellt sich in immer neuen Varianten dar.“ (Wegener 1994, S. 19) Es wird entschärft und den spezifisch nationalen, sozialen, kulturellen und historischen Kontexten der jeweiligen Länder angepasst (vgl. ebd.). Die amerikanische Serie Rescue 911 wird in insgesamt acht europäischen Ländern adaptiert: In England von der BBC als 999, in Frankreich vom öffentlich-rechtlichen France 2 als La Nuit Des Heros und vom privaten TF1 als Les Marches De La Gloire, in Spanien vom öffentlich-rechtlichen Sender TVE als Lines 900, ebenso in Dänemark, Finnland, den Niederlanden und seit Anfang 1993 auch im russischen Fernsehen. In Deutschland wurde das Sendeformat unter dem Namen Notruf bekannt und vom Privatsender RTL seit dem 6. Februar 1992 ausgestrahlt (vgl. ebd.). Wegener zitiert in Bezug auf die Programmstruktur deutscher Fernsehsender Krüger, der für das Jahr 1992 zu folgenden Ergebnissen gekommen ist:

„Zur Hauptsendezeit (19.00-23.00) sendete die ARD zu keiner Zeit ein Programm, das sich dem Genre Reality-TV zuordnen ließ. Beim ZDF betrug die Sendedauer von Reality-TV insgesamt 0,9%. SAT1 sendete 1992 einen Reality-TV Anteil von 0,7%. An der Spitze aller untersuchten Fernsehsender lag RTL: 5,8% des Programmangebotes während der Hauptsendezeit konnten der Sendegattung Reality- TV zugeordnet werden.“ (Wegener 1994, S. 20)

Sowohl Claudia Wegener (1994) als auch Dominik Koch-Gombert (2000) benennen die Sendung Aktenzeichen XY... ungelöst als erste Sendung des Reality-TV in Deutschland. Am 20.10.1967 wurde diese zum ersten Mal auf dem öffentlich-rechtlichen Sender ZDF ausgestrahlt. Die Intention der Sendung wird durch den Untertitel Die Polizei bittet um Mithilfe deutlich: Die Zuschauer werden aufgefordert, als Fahnder tätig zu werden und der Polizei bei der Aufklärung von Straftaten zu helfen.

Einen ersten ,Boom’ des Genres in Deutschland verzeichnet Koch-Gombert im Jahr 1992. In diesem Jahr war der Sendestart für gleich sieben Sendungen, die in das Genre des Reality-TV eingeordnet werden können. Polizeireport Deutschland gilt als eine der ersten Sendungen und wurde durch den Privatsender Tele 5 ausgestrahlt (vgl. Koch-Gombert 2005, S. 247). Hier wurden Gewaltverbrechen, Sexualdelikte und Polizeifahndungen gezeigt. Damit wollte die Sendung durch Aufklärung präventiv wirken. Das Ende des Privatsenders Tele 5 bedingte das Ende der Sendung im Januar 1993 (vgl. Wegener 1994, S. 21). Ebenfalls in diesem Jahr startete die bereits erwähnte Sendung Notruf auf dem Privatsender RTL, welche durch die Produzenten selbst als Reality-Show bezeichnet wurde (vgl. ebd.). In Notruf werden, laut einer Pressemeldung des Senders (vgl. ebd., S. 21-22), „Menschen vorgestellt, die - oft unter Einsatz ihres eigenen Lebens - das Leben anderer retten.“ Kennzeichen der Sendung ist, dass die „Original-Beteiligten“ die Ereignisse nachspielen. Nur selten wird originales Filmmaterial verwendet, anders als bei dem amerikanischen Vorbild Rescue 911. (vgl. ebd., S. 22) Koch-Gombert schließt daraus, dass die Show „versucht durch eine authentische Darstellung, eine gewisse Betroffenheit bei den Rezipienten hervorzurufen.“ (Koch-Gombert 2005, S. 247)

RTL erweiterte sein Programm noch im selben Jahr durch die Sendungen Auf Leben und Tod und Augenzeugen-Video. In der ersten der beiden Sendungen wurden Polizeigeschehnisse von Schauspielern nachgestellt und von den betroffenen Polizisten kommentiert. In der Sendung Augenzeugen-Video wurden originale Aufnahmen von Unfällen, Katastrophen und Verbrechen gezeigt, weshalb die Sendung in Kritik geriet und bereits ein Jahr später eingestellt wurde. Der Privatsender SAT1 zog noch im Jahr 1992 mit den Sendungen Retter und Bitte melde Dich im Bereich der Formate des Reality-TV nach. In Retter werden Menschen in Gefahr gezeigt, also Unfälle, Brände, Katastrophen, Schicksale und mutige Rettungseinsätze der deutschen Feuerwehr. Dabei betont SAT1, dass die Szenen nicht nachgestellt oder gar verfälscht sind. Mit der Sendung Bitte melde Dich sollten vermisste Personen durch Suchmeldungen wieder gefunden werden. Die Schicksale wurden rekonstruiert und durch Schauspieler nachgestellt. „Verwandte und Freunde appellieren vor laufender Kamera - oft unter Tränen - , da[ss] die Gesuchten sich doch bitte wieder bei ihnen melden.“ (Wegener 1994, S. 23) Die Zuschauerzahlen für das Jahr 1993 betrugen im Durchschnitt 6,04 Millionen. Die Sendung erreichte eine Einschaltquote von 14 Prozent (vgl. Koch-Gombert 2005, S. 248). Adaptionen dieser Sendeform finden sich in Spurlos auf RTL, in Vermißt und Vermißt!-Spezial vom WDR sowie Aus den Augen verloren auf SAT1.

Die Sendung K - Verbrechen im Fadenkreuz, ebenfalls auf dem Privatsender SAT1 ausgestrahlt, orientierte sich in ihrer Konzeption an Aktenzeichen XY... ungelöst. Mit Sendestart im November 1992 sollte das Format die Zuschauer darüber informieren, welche Tricks Kriminelle nutzen und wie sich deren potentielle Opfer umsichtiger verhalten können. Auch die Sendung SK 15 wurde vom Privatsender SAT1 ausgestrahlt und stellte die Arbeit von Kriminalbeamten im Reportagestil dar. Diese startete am 16. Februar 1993 (vgl. ebd., S. 253).

Marcel Feige fasst in Big Brother-TV. Wie Reality-Soaps das Fernsehen verändern. die Genregrenzen für das Reality-TV weiter und ordnet auch Reality-Talk, Reality-Soaps und Reality-Shows ein (vgl. Feige 2001). Den Auftakt der Talkshows bildete die Sendung Hans Meiser, die am 14. September 1992 erstmals ausgestrahlt wurde. Die Sendezeit wurde auf 16 Uhr am Nachmittag gelegt. Neu für die deutschen Fernsehzuschauer war die Besetzung der Talkgäste mit nichtprominenten Menschen sowie die Möglichkeit der Publikumsbeteiligung an der Diskussion. In den ersten Jahren wurde die Show noch regelmäßig live ausgestrahlt, wodurch den Zuschauern ermöglicht wurde, direkt in der Show anzurufen. Nach 1700 Sendungen wurde Hans Meiser am 17. Januar 2001 letztmalig ausgestrahlt (vgl. Reufsteck/Niggemeier 2005, S. 510-511). Zur „Hightime der Quasselbuden“ (Feige 2001, S. 43) zählt Feige noch folgende Sendungen: Ilona Christen, Oliver Geissen und Bärbel Schäfer bei RTL, Franklin, Vera am Mittag, Sonja Zietlow und Jörg Pilawa bei SAT1 sowie Arabella Kiesbauer, Andreas Türck und Sabrina Staubitz bei PRO 7. Später folgten diesen Sendungen noch Nicole - Entscheidung am Nachmittag bei Pro 7 und Peter Imhof sowie Birte Karalus, beides bei SAT1 (vgl. ebd.).

Als Hauptvertreter der Sparte der Reality-Soaps führt Feige die Sendungen Traumhochzeit, Nur die Liebe zählt und Verzeih mir an. Die Erstausstrahlung der Traumhochzeit findet am 19. Januar 1992 auf dem Privatsender RTL statt. Das Konzept der Sendung besteht darin, dass drei Paare in verschiedenen Frage-, Aktions- und Übereinstimmungsspielen konkurrieren. Danach scheidet das schlechteste Paar aus. Die verbliebenen beiden Paare treten auf einer riesigen Torte gegeneinander an. Hier müssen sie erraten, welche Antwort 100 Testpersonen auf eine Frage aus dem Bereich der Beziehung oder der Sexualität gegeben haben. Das Siegerpaar heiratet schließlich am Ende der Sendung vor laufenden Kameras. Die Sendung wurde insgesamt 92 mal ausgestrahlt und im Jahr 2000 abgesetzt (vgl. Reufsteck/Niggemeier 2005, S. 1233-1234). Das Konzept von Nur die Liebe zählt baut im Wesentlichen auf den Moderator Kai Pflaume, der die Menschen ,verkuppelt’, wieder zusammen bringt oder versöhnt, indem er einer Person ein Video ihres Verehrers/Partners vorführt. Im Studio dient er als Vermittler zwischen Paaren, die sich zerstritten haben. Die Sendung ist noch immer fest im Programm des Privatsenders SAT1 verankert (vgl. ebd., S. 874-875).

Der Sendeinhalt von Verzeih mir wird im Fernsehlexikon folgendermaßen beschrieben: „Zerstrittene Menschen werden miteinander versöhnt: zerrüttete Liebende, entzweite Eltern und Kinder, verkrachte Freunde. Und dann heulen alle.“ (ebd., S. 1297) Ausgestrahlt wurde die Sendung von 1992 bis 1994 auf RTL und später von 1998 bis 1999 auf SAT1. Laut Lothar Mikos holen diese sogenannten „Bekenntnisshows“ (Mikos 2000, S. 164) ein Stück des Alltags und der Realität der Kandidaten in die Sendung und wirken sich auch wieder auf deren Alltag aus.

Bei den Reality-Shows ordnet Marcel Feige Sendungen wie Aktenzeichen XY... ungelöst und Notruf ein. Zudem zitiert er den TV-Kritiker Tilman Baumgärtel, der Sendungen wie Vorsicht Kamera, Spielen ohne Grenzen und Die 100.000 Mark-Show als solche einordnet (vgl. Feige 2001, S. 46). Auch Lothar Mikos reiht die Entwicklung des Reality-TV in den Kontext des Unterhaltungsfernsehens ein (vgl. Mikos 2000), dem auch die durch Baumgärtel genannten Sendungen angehören.

„Im Hinblick auf Big Brother und das performative Realitätsfernsehen interessieren insbesondere die handlungsorientierten Gameshows, die noch einmal unterteilt werden in rekordorientierte Spiele wie z.B. Wetten daß...?, sportliche Spiele, wie sie bei dem legendären Spiel ohne Grenzen zu erbringen waren, und verhaltensorientierte Spiele.“ (Mikos 2000, S. 162)

Die Sendung Die Fussbroichs. Die einzig wahre Familiengeschichte wird sowohl durch Müller (Lücke 2002), Mikos (2000) als auch durch Feige als ein wichtiger Entwicklungsschritt des heutigen Reality-TV angesehen. Ein Kamerateam begleitet eine dreiköpfige Kölner Arbeiterfamilie an etwa 20 Tagen im Jahr, vor allem bei außergewöhnlichen Aktivitäten wie Familienfeiern, dem Großeinkauf oder im Urlaub. Die Sendung besteht aus 100 Folgen, welche von 1993 bis 2003 im WDR und auf ARD ausgestrahlt wurden (vgl. Feige 2001/ Lücke 2002/ Mikos 2000). Lothar Mikos beschreibt den Reiz der Serie wie folgt: Die Personen der Familie bedienen nicht die Klischees und Stereotype von fiktionalen Serienfiguren (vgl. Mikos 2000, S. 169). Ebenfalls nennen alle drei Autoren die Serie Das wahre Leben, beruhend auf dem MTV-Vorbild The Real World als weiteren Wegbegleiter des Reality-TV. Drei Monate lang wurden sieben junge Menschen, die sich vorher nicht kannten, in einer Wohnung in Berlin-Mitte von Kamerateams etwa 10 Stunden pro Tag begleitet (vgl. Feige 2001/ Lücke 2002/ Mikos 2000). Mikos bezeichnet als Gegensatz zu den Fussbroichs, dass diese Menschen nur zusammen leben, um gefilmt zu werden, die Fussbroichs aber bereits ein eingespieltes Familienleben hatten. Wesentliches Motiv der Teilnahme war es, das eigene Leben öffentlich zu machen (vgl. Mikos 2000, S. 170).

Ein weiteres Format, in dem Alltag inszeniert wird, ist die Gerichtsshow (vgl. Lücke 2002). Als einer der Vorreiter dieser Sendungen sei hier Richterin Barbara Salesch genannt, ausgestrahlt vom Privatsender SAT1. Im Fernsehlexikon heißt es dazu, dass in dieser Show anfangs nichts nachgestellt wurde. „Die Klagenden waren echt, Barbara Salesch tatsächlich Vorsitzende Richterin am Landgericht Hamburg [...] und ihre im Fernsehen gefällten Urteile rechtskräftig.“ (Reufsteck/Niggemeier 2005, S. 988) Da nach deutschem Recht jedoch keine Strafprozesse im deutschen Fernsehen übertragen werden dürfen, konnte Barbara Salesch nur als Richterin eines privaten Schiedsgerichtes über vergleichsweise harmlose Fälle urteilen. Im Oktober 2000 wurde das Konzept der Sendung radikal erneuert: Der Sendeplatz wurde von 18.00 auf 15.00 Uhr verlegt und es wurden fiktive strafrechtliche Fälle verhandelt, welche durch Laiendarsteller gespielt wurden. Aufgrund des Erfolgs dieser Show folgten weitere wie Das Jugendgericht, Richter Alexander Hold, Das Strafgericht und Das Familiengericht, aber auch Zwei bei Kallwass, Die Jugendberaterin und Das Geständnis, welche zwar nicht im Gerichtssaal spielten, aber „durch den Verzicht auf echte Gäste viel härtere, absurdere und dramaturgisch genau planbare Geschichten erzählen konnten.“ (ebd.)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Bis zum Ende der 90er Jahre verzeichnet Dominik Koch-Gombert zusammenfassend eine leichte Zunahme an Angeboten des Reality-TV, welche sich aus einer Mischung aus Formatimporten und eigenen Entwicklungen speisen (vgl. Koch-Gombert 2005, S. 253). Die Abbildung zeigt diese Entwicklung in einer Übersicht.

3.3 Aktuelle Bestandsaufnahme des Genres im deutschen Fernsehen

Die aktuelle Bestandsaufnahme beginnt mit dem Sendestart der ersten Staffel des Fernsehformats Big Brother (nachfolgend auch BB) am 01. März 2000. Besonders auffallend bei der Entwicklung bis zu diesem Zeitpunkt ist, dass die Sendungen im Format des Reality-TV von Anfang an nur wenig im Programm der öffentlich-rechtlichen Sender zu finden waren, aber häufig im Privatfernsehen. Eine ausführliche Erläuterung zur Sendung Big Brother wird später ein eigenes Kapitel in Anspruch nehmen. Hier soll auf Nachfolgeshows und -formate eingegangen werden. In Abbildung 2 ist diese Entwicklung in einer Übersicht dargestellt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Dominik Koch-Gombert und auch Marcel Feige benennen Das Inselduell als erste Nachfolgeproduktion von BB. Die Sendung startete am 03. Juli 2000 und wurde vom Privatsender SAT1 ausgestrahlt. Ihr Konzept ist es, 13 Kandidaten auf einer Insel vor der malaysischen Küste auszusetzen. Im Folgenden nominieren die Teilnehmer sich dann solange wöchentlich, bis nur noch zwei übrig blieben. Durch Telefonabstimmung können die Zuschauer entscheiden, welcher der Kandidaten die Siegesprämie in Höhe von 250.000 D-Mark gewinnt. Eine Sendung mit identischem Konzept wurde von RTL 2 unter dem Titel Expedition Robinson im September des gleichen Jahres ausgestrahlt. Auch der Privatsender Pro 7 zog noch im selben Monat nach und startete die Sendung Der Maulwurf. Zehn Kandidaten erfüllen auf einer 20-tägigen Reise durch Südfrankreich Aufgaben wie Rafting, Climbing und Verfolgungsfahrten zu Wasser und zu Land. Bei dieser Sendung haben die Zuschauer keinen Einfluss auf den Gewinner, denn dieser wird danach ermittelt, ob er den Maulwurf, welcher die Gruppe daran hindert, Aufgaben zu bestehen, enttarnt und alle gestellten Aufgaben erfüllt. Ein weiteres sogenanntes „Adventure-Format“ entstand mit Fort Boyard. Stars auf Schatzsuche, welches aus Frankreich importiert und ebenfalls auf Pro 7 ausgestrahlt wurde1. Die Idee war hier, „dass Prominente in einer Wasserfestung im französischen Atlantik diverse Aufgaben sportlicher Natur zu erfüllen hatten, um letztendlich einen Schatz im Wert von 200.000 Mark zu finden, der wiederum für einen guten Zweck gespendet wurde.“ (Koch-Gombert 2005, S. 313)

Mit einem durchschnittlichem Marktanteil von 24,8 Prozent bei der Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen war die erste Staffel ein Erfolg, weshalb sich der Sender im Jahr 2002 für die Produktion einer zweiten Staffel entschied. Diese wurde jedoch nicht in gleichem Maße von den Zuschauern angenommen (vgl. ebd., S. 311-313).

Als eine Art Big Brother mit einem Teilnehmerkreis, der nur aus weiblichen Personen bestand startete am 26. Januar 2001 auf SAT1 das Girlscamp. Unter ständiger Kamerabeobachtung leben zehn Single-Frauen im Alter zwischen 19 und 33 Jahren acht Wochen lang in einer Luxusvilla am Meer mit Zugang zum Strand. Wöchentlich können Fernsehzuschauer und Internetuser ihre beliebteste Teilnehmerin wählen. Die drei unbeliebtesten Teilnehmerinnen stehen dann im Camp zur Wahl, eine muss das Haus verlassen. Ihre Nachfolgerin wird im Internet gewählt. In das Konzept werden auch Besuche von Männern integriert, welche vorab durch Videoclips von der jeweiligen Frau ausgewählt werden können. Die Männer versuchen, die jeweilige Frau zum vorzeitigen Auszug zu überreden, um eine gemeinsame Traumreise anzutreten - getreu dem Motto ,Geld oder Liebe’. Das Preisgeld in Höhe von 200.000 D-Mark wird an die Frau mit den meisten Anrufen und Stimmen im Internet verliehen (vgl. ebd., S. 314). Im Fernsehlexikon werden die Zuschauerzahlen als „katastrophal“ bewertet (Reufsteck/Niggemeier 2005, S. 465), weshalb die Sendung vorzeitig abgesetzt wurde. Nur drei Tage nach dem Sendestart von Girlscamp lief auf RTL das House of Love an. Hier werden sechs alleinstehende Personen für eine Woche in ein Luxus-Penthouse eingeschlossen, jeweils ein Kandidat und fünf Bewerber des anderen Geschlechts. Der Kandidat darf täglich darüber bestimmen, welcher Bewohner auszieht. In der ersten Woche der Sendung war der Kandidat ein Mann, die Bewerber Frauen. In der zweiten Woche war das Geschlechterverhältnis umgekehrt. Die Einschaltquoten waren zwar besser als die der Sendung Girlscamp, dennoch gab es keine Fortsetzung der Sendung (vgl. Koch-Gombert 2005, S. 315).

Selbst RTL 2 startete im Januar 2001 neben dem Sendestart der dritten Staffel von Big Brother eine weitere Sendung im Format des Reality-TV - II Club: Dreizehn Leute, sieben Frauen und sechs Männer, sollen in dreizehn Wochen ein ehemaliges Berliner Pumpwerk in einen Szeneclub umbauen. Die Zuschauer können wöchentlich entscheiden, welcher Kandidat die Sendung verlassen muss. Nach Einbruch der Zuschauerzahlen wurde aber auch diese Sendung schon nach einem Drittel der geplanten Episoden vorzeitig abgesetzt (vgl. ebd., S. 315-316).

Im Programm folgten verschärfte Neuauflagen von Expedition Robinson und Fort Boyard unter neuem Namen, welche jedoch mit nur mäßigem Erfolg wieder eingestellt wurden. Trotz der Misserfolge glaubten die Sender weiterhin an das Format des Reality-TV, weshalb 2002 eine mit Expedition Robinson vergleichbare Sendung namens Outback auf RTL startete. Doch auch diese Sendung konnte keinen Erfolg bei den Zuschauern verzeichnen (vgl. ebd., S. 317). Dennoch hielt Pro 7 an dieser Variante des Reality-TV fest und ging mit Mission Germany am 29. April 2002 auf Sendung. Das Konzept beinhaltet drei Kandidaten, welche durch Deutschland reisen, sich gegenseitig dabei filmen und jeden Tag eine Aufgabe erfüllen müssen, ohne dabei erkannt zu werden. Bei Gelingen erhalten sie pro Tag 5.000 Euro. Sollte ein Zuschauer sie filmen, werden sie also erkannt, bekommt der Zuschauer das Geld (vgl. Reufsteck/Niggemeier 2005, S. 802). Ein weiteres Stichwort, das Koch-Gombert in Verbindung mit Mission Germany nennt, ist Medienkonvergenz. Über die Zusammenfassungen im Fernsehen und über das Internet konnten sich die Zuschauer darüber informieren, in welcher Region sich die Kandidaten gerade in etwa aufhielten und somit an der Suche teilnehmen und auf den Gewinn spekulieren. Von den Zuschauern wurde dieses Konzept mit nur mäßigem Erfolg angenommen Schließlich kommunizierte der Sender Pro 7, dass es diese Formate im Programm von Pro 7 nicht mehr geben werde (vgl. Koch-Gombert 2005, S. 318-319).

Anfang Februar 2001 startete auf RTL 2 die Castingshow Popstars, die Feige in die Gattung der Real-Life-Docu-Soap einordnet und daher als eine Unterart des Reality-TV in dieser Arbeit Erwähnung finden soll, exemplarisch für alle weiteren Castingshows wie Deutschland sucht den Superstar, Star Search und Das Supertalent, die bis heute im deutschen Fernsehen zu finden sind. In der ersten Staffel wurde eine Girlband gesucht. Die Sendung zeigt die Entstehung einer Popgruppe vom Casting über Proben und Plattenvertrag bis hin zu Aufnahmen und Auftritten. Über die endgültige Zusammensetzung der Band entscheidet eine Jury, welche aus Sängerin und Moderatorin Simone Angel, Konzertveranstalter Mario M. Mendrzycki und dem Musikmanager Rainer Moslener bestand (vgl. Reufsteck/Niggemeier 2005, S. 937-938). Durch diese Form des Reality-TV erhält der Zuschauer einen Einblick in die Abläufe im Musikgeschäft (vgl. Feige 2001, S. 190).

In dem Artikel Spaß macht, was echt wirkt. Die Bedeutung von Reality-Formaten im Fernsehangebot aus dem Jahr 2005 schreibt Prof. Dr. Helmut Scherer, dass Reality im deutschen Fernsehen noch immer „in“ (Scherer 2005, S. 6) sei. Dabei rückt der ,Abenteuerrealismus’, der Anfang des 21. Jahrhunderts Erfolg genoss, in den Hintergrund. Stattdessen kann der Zuschauer miterleben, wie sich Personen verändern, sprichwörtlich aus einem vermeintlich hässlichen Entlein ein schöner Schwan wird. Er kann Prominente im Dschungel beobachten, die Insekten und andere Delikatessen der Region genießen dürfen, und nach wie vor gibt es Nicht-Prominente, die ihr Leben im Big Brother- Container zur Schau stellen. Scherer unterscheidet zwischen zwei Typen der aktuellen Reality-Formate: „die, die das Alltägliche zum Thema machen und die, die auf das Außergewöhnliche setzen; Heimwerker oder Privatdetektiv, Hausarbeit oder Schönheits- OP.“ (Scherer 2005, S. 6) In dem Artikel werden weiterhin die drei Fragen behandelt: „Warum bieten die Fernsehsender solche Programme an?“, „Warum schauen das die Zuschauer?“ und „Wird dieser Programmboom irgendwelche sozialen Konsequenzen haben?“ (Scherer 2005, S. 6).

Helmut Scherer geht folglich auf die Produktions- und die Rezeptionsseite sowie die Wirkungsfrage ein. Er konstatiert, dass die Formate des Realitätsfernsehen besonders attraktiv für die Nachahmung sind, da man für ihre Produktion nur ein kleines Team benötigt und auch die technischen Anforderungen gering sind - demnach handelt es sich um verhältnismäßig kostengünstige Formate. Auch die Zeitspanne von der Idee bis zum sendefähigen Produkt ist sehr kurz. Sollte die Sendung ohne Erfolg bleiben, sind relativ wenig Ressourcen eingesetzt worden und es kann in kurzer Zeit eine neue Sendung produziert werden. Weiterhin, so Scherer, bieten Reality-Formate „Möglichkeiten, einen kleinen Skandal, einen die Aufmerksamkeit fördernden Tabubruch zu inszenieren.“ (ebd.) Auf Rezipientenseite befriedigen Reality-Formate Bedürfnisse. Zum einen vergleicht sich der Zuschauer mit den agierenden Figuren und bekommt dabei das befriedigende Gefühl der Überlegenheit. Zum anderen erhält der Rezipient Orientierung, wenn er beispielsweise in der Sendung Die Super Nanny sieht, wie diese seit 2004 Eltern-Kind-Probleme löst. Laut Scherer liegt die Qualität des Formats in seiner vorgeblichen Authentizität. „Die Vorstellung, dass alles [,] was man sieht, irgendwie echt ist, dass es wirklich passiert, macht einen großen Reiz aus.“ (ebd.) Die Reality-Formate werden dem Grundbedürfnis nach Wirklichkeit in der Erzählung gerecht. Viele Formate im Fernsehen erscheinen künstlich, was zu dem Paradoxon führt, dass die Zuschauer gerade durch das Medium Fernsehen den Wirklichkeitsverlust kompensieren wollen, den sie durch das Fernsehen erst erleiden (vgl. ebd., S. 7).

Des Weiteren beschäftigt sich Helmut Scherer mit der Frage, wie sich dieser „Programmboom“ auf die gesellschaftliche Entwicklung auswirkt. Befürchtet wird ein Werteverfall, da das Intime zunehmend öffentlich wird, aber auch Nachahmungseffekte. Scherer sieht die Wirkungen auf subtilerer Ebene. Darin, dass das Ungewöhnliche zum Normalfall wird, kommt es zu einer Banalisierung der Abweichung. Dabei sieht Scherer diese Entwicklung nicht ausschließlich negativ, da eine Gesellschaft, die sich entwickeln will, den Tabubruch brauche. Für die Zukunft behält er jedoch die Frage im Blick, „ob die Sucht nach Neuem und Außergewöhnlichem immer der Weisheit letzter Schluss ist, ob uns der Erfolg von banalen Geschichten wie Schnulleralarm oder Supermammis nicht zeigt, dass letztlich die besten Erzählungen aus dem Alltag kommen.“ (ebd.)

Elisabeth Klaus stellt 2008 fest, dass die privaten Sender RTL und SAT 1 zwischen sechs und acht Stunden ihres Programms mit Angeboten aus der Genrefamilie des Reality-TV füllen. Für den Musiksender MTV seien Reality-Formate neben der Musiksparte zum zweiten Standbein geworden (vgl. Klaus 2008, S. 158-159). Bereits 2005 zeigte sich auf den Internetseiten der Sender, dass im Programm des ZDF nicht mehr nach Information, Unterhaltung und Bildung unterschieden wird, sondern nach: „heute-Nachrichten“, „Politik & Zeitgeschehen“, „Sport“, „Ratgeber“, „Wissen & Entdecken“, „Unterhaltung & Kultur“, „Spielen & Gewinnen“ und „Wetter“ (ebd., S. 160). Ähnliches gilt auch für die ARD sowie für den Privatsender RTL, wobei hier noch Zusatzangebote wie „GZSZ & Unter Uns“ oder „Chat“ angeboten werden. SAT 1 unterschied 2005 nach „Comedy & Show“, „Filme & Serien“ und „Lifestyle & Magazine“ (ebd.).

Bei einem heutigen2 Blick auf die Onlineauftritte der Sender unterscheidet die ARD nach „Nachrichten“, „Sport“, „Börse“, „Ratgeber“, „Wissen“, „Kultur“ und „Kinder“. Beim ZDF wird das Programm in die Rubriken „Nachrichten/Aktuelles“, „Wissen“, „Film“, „Unterhaltung“, „Sport“, „Politik/ Gesellschaft“, „Ratgeber“, „Kultur“, „Krimis“ und „Serien“ aufgeteilt. RTL sortiert sein Angebot nach „Information“, „Unterhaltung“, „Ratgeber“ und „Spiele“. Bei SAT 1 findet man die Sparten „Comedy & Show“, „Filme & Serien“, „RAN“, „Nachrichten“, „Spiele“ und „Ratgeber & Magazine“. Pro 7 bietet die Sparten „Sendungen“, „TV-Programm“, „Ganze Folgen“, „Stars & Livestyle“, „Kino & DVD“, „Musik“, „Games“, „Shop“ und „Community“. Die Webseite des Privatsenders RTL 2 verfügt über ein Unterkapitel „Reality & Shows“, welches noch einmal in „Crime“, „Doku-Soaps“, „Kochen“, „Livestyle“ und „Shows“ aufgeteilt wurde. Hier findet man einen direkten Überblick über das Angebot an Reality-Formaten des Senders.

Ein Blick in das Fernsehprogramm am 13. August 2010 zeigt (TV Today 2010), dass die Sender RTL, Pro 7, RTL 2 und VOX insgesamt 29 Sendungen, die der Genrefamilie der Reality-Formate angehören, innerhalb der letzten sieben Tage ausgestrahlt haben. Die Tabelle im Anhang gibt einen Überblick über die Reality-Formate, die vom 13. bis 20. August 2010 ausgestrahlt wurden. Diese Übersicht beinhaltet ausschließlich Privatsender. Die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten hatten zu dieser Zeit keinerlei Reality-Formate im Programm. RTL strahlt an Werktagen vier Stunden und am Wochenende insgesamt eineinhalb Stunden des so genannten Realitätsfernsehens aus. Bei Pro 7 sind es täglich drei Stunden, die einen festen Programmplatz haben, und gelegentlich eine Show mit Inhalten des Reality-TV mit einer Sendelänge von durchschnittlich 60 Minuten. Auf RTL 2 finden sich momentan die meisten Reality-Sendungen. An Werktagen werden regelmäßig je drei Stunden ausgestrahlt, hinzu kommen weitere Sendungen, die noch einmal sechs bis acht Stunden des wöchentlichen Programms umfassen. Am Wochenende werden zwei Stunden Reality-TV geboten. VOX sendet täglich eine Stunde und 50 Minuten Reality-TV, sonntags kommen sechs Stunden und 20 Minuten hinzu.

Die Übersicht im Anhang verdeutlicht, dass vor allem im Privatfernsehen Reality-Formate aktueller denn je sind. Doch herrscht auch hier eine starke Fluktuation vor, denn schon einen Monat später sind einige Sendungen nicht mehr im Sendeplan. Stattdessen sind neue Sendungen zu verzeichnen. Die Themen reichen von persönlichen Schicksalsschlägen über Alltagsgeschichten bis zu besonderen Erlebnissen und Herausforderungen, bei denen die Handelnden von Kameras begleitet werden.

3.4 Real Life Soaps als Ausprägung des performativen Realitätsfernsehens

Shows und Sendungen, die den Alltag und die Realität der Kandidaten in einer Sendung zeigen und sich auch wieder auf deren Alltag auswirken, nennt die Sozialwissenschaftlerin Angela Keppler „performatives Realitätsfernsehen“. Hier wird ein Kult um die Darbietung des privaten Lebens gebildet, welcher die neue Qualität dieser Sendungen ausmacht. Merkmal des „performativen Realitätsfernsehen“ ist zum einen, dass die Kandidaten in eine Situation gebracht werden, die zur Ausstrahlung im Medium inszeniert wird. Hier müssen die Kandidaten mit anderen gemeinsam handeln. Zum anderen beharrt das Fernsehen aber darauf, dass eine Differenz zwischen der televisionären Wirklichkeit und dem Alltag der Menschen besteht (vgl. Mikos/Weidemann 2001, S. 37).

In der „Real Life Soap“ geht es um die Darstellung des realen Lebens mit dramaturgischen Mitteln, die denen einer Soap ähnlich sind. Laut Stephanie Lücke handelt es sich bei den Real Life Soaps um die jüngsten Ausprägungen des Reality-TV im deutschen Fernsehen (vgl. Lücke 2002, S. 112).

Um eine Einordnung des Genre der „Real Life Soap“ als Ausprägung des performativen Realitätsfernsehens vornehmen zu können, werden im Folgenden die formalen Bestandteile des sogenannten Hybridgenres dargestellt. Dabei wird in diesem Kapitel zum einen auf die Definitionen der Sender zu diesem Genre eingegangen. Weiterhin werden Elemente aus der Dokumentation, der Serie und des Reality-TV analysiert, welche sich laut Lücke in dem Genre wiederfinden (vgl. ebd., S. 94).

3.4.1 Charakteristika von Docu Soaps und Reality Soaps

Stephanie Lücke fasst in ihrer Arbeit Real Life Soaps. Ein neues Genre des Reality TV die Charakteristika von Docu Soaps, welche sie anhand von Pressemeldungen der Sender zu deren jeweiligen Sendungen ausmachen konnte, wie folgt zusammen:

„Docu Soaps werden von den Fernsehsendern formal als eine Mischform zwischen der Dokumentation (speziell der Reportage) und der Serie angesehen, inhaltlich stehen die alltäglichen Freuden und Probleme normaler Menschen im Vordergrund, diese sollen echt, authentisch und ohne Inszenierung wiedergegeben werden.“ (Lücke 2002, S. 99)

Zudem schlägt Eggert (vgl. Lücke 2002) eine Typenbildung der Docu Soaps nach Ort, Personen und Themen vor. Demzufolge existieren Docu Soaps, deren Themen und Personen sich um einen spezifischen Ort drehen und somit über diesen zusammengehalten werden. Weiterhin definiert Eggert Docu Soaps, deren Themen und Orte über bestimmte Personen transportiert werden und dadurch zusammengefügt werden. Zusätzlich trennt sie nach Themen, also Docu Soaps, deren Personen und Orte so gegensätzlich sind, dass sie nur über ein gemeinsames Thema zusammengefasst werden können (vgl. ebd., S. 100).

Im Gegensatz zu den Docu Soaps äußerten sich die Fernsehsender nicht zu dem Format der Reality Soap. Allerdings versucht sich Lothar Mikos hier an einer Definition. Er beschreibt die Reality Soap als „ein um die Inszenierung von Authentizität bemühtes, auf die Alltagswelt von Zuschauern und Kandidaten Bezug nehmendes Format [...]“ (Mikos/Weidemann 2001, S. 28) Laut Stephanie Lücke installieren Reality Soaps schon im Vorfeld der Dreharbeiten ein künstlich arrangiertes soziales Setting, in das sie die Akteure hineinsetzen, wie den Container bei Big Brother oder die unbewohnte Insel des Inselduells. Von daher würde die gefilmte Handlung ohne Regisseure nicht entstehen (vgl. Lücke 2002).

3.4.2 Charakteristika der Dokumentation

Laut dem Handbuch der Massenkommunikation und Medienforschung beruht der Dokumentarfilm auf der Realität und kommt ohne Berufsschauspieler und ohne Spielhandlung aus. In erster Linie bezweckt er, in relativ ungezwungener, erfreulicher und müheloser Weise zu informieren und zu belehren (vgl. Silbermann 1982, S. 69). Stephanie Lücke kritisiert an dieser Definition, sie gehe davon aus, dass der Dokumentarfilm keine Spielhandlung aufweise, was für viele Dokumentarfilme nicht haltbar sei, da diese nach Erzählprinzipien aufgebaut und für die Kamera inszeniert seien (vgl. Lücke 2002, S. 102).

Knut Hickethier sieht im Dokumentarfilm und in der Dokumentation

„Formen durchgestalteter Auseinandersetzung mit einem Thema, einem Sachverhalt, einem außerfilmischen Geschehen [...], die sich im Fernsehen zumeist durch eine zeitliche Distanz zum Geschehen oder durch eine übergreifende Argumentation auszeichnet.“ (Hickethier 2007, S. 186)

Der Begriff der Dokumentation ist weiter gefasst und wird vorrangig im Fernsehen verwendet. Neben berichtenden und dokumentierenden Formen bezieht die Dokumentation auch Formen des Interviews und der Studiodiskussion, ebenso wie Visualisierungen durch Grafiken, Schautafeln und Studiodemonstrationen, mit ein. Hinzu kommt häufig das Auftreten eines Korrespondenten oder Autors, der die Zuschauer direkt anspricht (vgl. ebd., S. 187).

Mit der Intention, Dokumentationen in Großbritannien in eine unterhaltsame, serielle Form zu bringen, entsteht die Docu Soap, welche nach Bleicher (vgl. Lücke 2002) dem Fernsehdokumentarismus zuzuordnen ist (vgl. ebd., S. 104). Der Dokumentarfilm porträtiert meist eine Person intensiv, wohingegen in der Docu Soap die Darsteller dazu dienen, eine Identifikation zu schaffen und beim Zuschauer Emotionen zu erzeugen. Die Docu Soap folgt der Strategie, „Alltagsnähe und emotional ansprechende Themen mit dokumentarischen Arbeitsweisen zu verbinden und zu einer neuen, ,unterhaltsameren’ Form des Dokumentarismus zu führen.“ (ebd.)

Die Reality Soap weist ebenfalls Merkmale des Dokumentarfilms auf. Auch hier werden in den meisten Fällen Nicht-Prominente als Akteure dargestellt. Sowohl die Reality Soap als auch der Dokumentarfilm ist bestrebt, „diese Menschen möglichst natürlich und authentisch in ihrem Umfeld agieren zu lassen.“ (ebd.) Ebenso verwendet die Reality Soap Off-Kommentare, um bestimmte Szenen zu erläutern.

3.4.3 Charakteristika der Serie

Real Life Soaps beziehen ein Großteil ihrer dramaturgischen Gestaltung aus dem fiktionalen Genre der Serie, bei dem das auffälligste Kennzeichen die serielle Struktur ist. Sowohl Docu als auch Reality Soaps adaptieren dies und bestehen aus mehreren Folgen. Eine Variante der Serie ist die „Soap Opera“, welche anfangs durch ausländische Exporte wie Dallas und Denver und später durch eigene Produktionen wie Lindenstraße, Gute Zeiten, Schlechte Zeiten, Marienhof, Unter Uns oder Verbotene Liebe in das deutsche Fernsehen eingeführt wurden (vgl. Lücke 2002, S. 107).

„Soaps sind auf Endlosigkeit konzipiert, sie haben keinen Anfang, keine Mitte, kein Ende. Konflikte werden nur oberflächlich und kurzfristig gelöst, die Lösungen tragen den Keim neuer Konflikte in sich. Die erzählten Geschichten sind zukunftsoffen und so konzipiert, dass neu hinzukommende Zuschauerinnen und Zuschauer sich schnell hineinfinden und emotional einbezogen werden. Am Ende jeder Folge (und meist auch vor Werbepausen) sind psychologische Cliffhanger gesetzt. Mehrere Handlungsstränge sind miteinander verwoben. [...] Dialoge dominieren gegenüber der Handlung, Handlungsstränge werden mit neu hinzukommenden Figuren eröffnet oder laufen mit ausscheidenden Figuren aus.“ (ebd., S. 107-108)

Von diesen Merkmalen der Soap Opera finden sich einige in der Real Life Soap wieder. Auch in der Real Life Soap werden mehrere Handlungsstränge eröffnet, wechseln einander ab und enden meist nicht innerhalb einer Folge. Am Ende einer Folge der Real Life Soap werden Cliffhanger eingesetzt, um auf die kommenden Ereignisse hinzuweisen (vgl. ebd., S. 109). Bei der aktuellen Big Brother Staffel werden diese schon vor der Unterbrechung durch den Werbeblock verwendet, um auf den Höhepunkt der jeweiligen Tageszusammenfassung zu verweisen.

Die Akteure fiktionaler Soaps sowie die der Docu und Reality Soaps bilden kleine Gemeinschaften. In der Reality Soap ist dies durch den gemeinsamen Aufenthalt an einem räumlich begrenzten Ort erzwungen. Die Dialoge der Reality Soap beschäftigen sich häufig mit Themen, die dem Alltag und ,human interest’-Bereichen wie Klatsch, Beziehungen und Freizeit zugeordnet werden können.

[...]


1 Zwischen dem 11. Januar und 8. März 2011 wurden neun neue Folgen mit neuem Moderationsteam der Sendung auf Kabel Eins ausgestrahlt. (vgl. Kabel Eins 2011)

2 Die Ansicht der Websites erfolgte am 08. Juli 2010.

Ende der Leseprobe aus 106 Seiten

Details

Titel
Untersuchung der Zuschauermotivation neuer Formate des Reality-TV
Untertitel
Am Beispiel von Big Brother
Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg  (Department für Medien- und Kommunikationswissenschaften)
Note
1,6
Autor
Jahr
2011
Seiten
106
Katalognummer
V199027
ISBN (eBook)
9783656607915
ISBN (Buch)
9783656607878
Dateigröße
1709 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Reality-TV, Zuschauermotivation, Big Brother, Untersuchung, Real Life Soap, Docu Soap, Reality Soap, Dokumentation, Serie, Ethikdiskussion, Zuschauerstruktur, medialer Mix, Fernsehverhalten, Internetnutzung, Big Brother 10, Inszenierungsstrategien, Montage, Dramaturgie
Arbeit zitieren
Lucy Czech (Autor:in), 2011, Untersuchung der Zuschauermotivation neuer Formate des Reality-TV, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/199027

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