Vom Gemeinsamen Gegenstand und der präsentativen Symbolisierung im Religionsunterricht: Wie kann Religion inklusiv vermittelt werden?


Examensarbeit, 2012

61 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhalt

1 Abbildungen

2 Einleitung

3 Geschichte, Bedeutung, Rezeption des Inklusionsbegriffs
3.1 FünfEntwicklungsstufen nach Sander
3.2 Vorläufer der Inklusion: Integration
3.3 Bestandaufnahme schulischer und didaktischer Modelle
3.3.1 „EineSchule für Alle“
3.3.2 Annedore Prengels „Pädagogik der Vielfalt“
3.3.3 Georg Feusers Modell der entwicklungslogischen Didaktik
3.4 Gesetze und Konventionen, die den Paradigmenwechsel einleiten
3.4.1 UN- Kinderrechtskonvention 1989
3.4.2 Salamanca - Erklärung 10.6.1994
3.4.3 Behindertenrechtskonvention (BRK) 2006
3.4.4 WHO „World Report On Disability“ 2011
3.5 Übergangsphase - Von der Integration zur Inklusion
3.6 Inklusionskonzepte
3.7 Inklusion im weiter gefassten Sinn
3.7.1 Luhmann
3.7.2 Behindertenrechtskonvention 2006
3.8 Index für Inklusion- ein Instrument zur Umsetzung
3.9 Inklusion aus theologischer und anthropologischerSichtweise
3.10 Fazit zur Inklusion

4 Inklusive Religionspädagogische Konzepte
4.1 Stefan Anderssohns Entwurf eines didaktischen Symbolkonzeptes
4.2 Stärken wahrnehmen und entfalten: ein inklusives Konzept von Franz Feiner
4.3 Das Hamburger Modell. Religionsunterricht für alle in einer Schule für alle, Inklusion statt Separation

5 Das „Tübinger Elementarisierungsmodell“- ein inklusiver „Anwärter“
5.1 Basiskomponente: Klafkis„Konzeptderkategorialen Bildung“
5.2 Die Herausbildung des Tübinger Ansatzes der Elementarisierung
5.3 Der Elementarisierungsansatz und die Inklusion

6 Fazit

Literatur

1 Abbildungen

Abb. 1 Baummodell

Abb. 2: Von der Segregation durch Integration zur Inklusion

Abb. 3: Indexprozess mit Planungskreislauf

Abb. 4: Darstellung der Themen und Strukturen

Abb. 5: Symboldidaktisches Modell am Beispiel Brot

Abb. 6: Ausschnitt aus dem 1. Teiltest

Abb. 7: Auswertung zur interpersonalen Intelligenz

Abb. 8: Auswertung der Mittelwerte der multiplen Intelligenz

Abb. 9: Stationenplan

Abb. 10: „Modell zur kategorialen Bildung“

Abb. 11: Modell „Tübinger Elementarisierungsansatz“

Abb. 12: Modell „Tübinger Elementarisierungsansatz“ mit 5. Dimension

2 Einleitung

Spätestens mit der Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention (BRK) am 26.3.2009 in Deutschland stellt sich die Frage nach der Umsetzung von In­klusion auch im religionspädagogischen Kontext. Der Paragraf 24 der BRK fordert und regelt das Recht auf Bildung für Menschen mit Behinderungen in einem „inclusive education system“[1].

„bei der Verwirklichung dieses Rechts [auf Bildung] stellen die Vertragsstaaten si­cher, dass [...] Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom un­entgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiter­führender Schulen ausgeschlossen werden;“[2]

Bisher blieben im hochdifferenzierten deutschen Schulsystem Regel- und Sonderschulen weitgehend voneinander getrennt, die Umsetzung der Inte­gration war nur soweit fortgeführt worden, dass in ausgewählten Schulen Schüler/innen beider Gruppen im Kooperationsprinzip teilweise gemeinsa­men Unterricht in bestimmten Fächern erhielten. Da künftig alle Schüler/in­nen unabhängig ihres Förderbedarfs gemeinsam beschult werden sollen, werden neue religionspädagogische Konzepte nötig, um der erweiterten He­terogenität gerecht zu werden.

In der vorliegenden Arbeit soll geklärt werden, ob oder inwieweit ausgewähl­te gegenwärtig vorhandene religionspädagogische Konzepte in Deutschland den Gedanken von Inklusion miteinbeziehen. Sind sie geeignet, alle Schüler/ innen einer Klasse gleichzeitig und unabhängig ihres Förderbedarfs am Un­terricht zu beteiligen?

Dabei tauchen verschiedene Schwierigkeiten auf, da erstens der Inklusions­begriff variabel gehandhabt wird, einer nicht abgeschlossenen gesellschaftli­chen Diskussion und Interpretation unterliegt. Zweitens begegnen sich in dieser Auseinandersetzung die Welten der sonderpädagogischen, allge­meindidaktischen und religionsdidaktischen Überlegungen. Drittens wird in

Deutschland nach GG §7 (3)[3]konfessioneller Religionsunterricht erteilt. Das bedeutet, dass hier die Schüler/innen gemäß Grundgesetz separiert werden, was streng genommen einer Inklusion im Wege steht. Ich werde versuchen, diesen teils widersprüchlichen Interessen und Überlegungen unter der Leitidee der entwicklungslogischen Didaktik Georg Feusers[4]eine Richtung zu geben. Um dies zu realisieren, rezipiere ich zu allen Feldern Materialien aus Primär- teils auch Sekundärliteratur, um sie anschließend auszuwerten und zu erörtern.

In meiner Arbeit werde ich zuerst den Begriff der Inklusion zu klären versu­chen; dies auch in und gerade wegen seiner widersprüchlichen Rezeption. Dabei weise ich auch auf einen verkürzten Inklusionsbegriff hin, der in der Öffentlichkeit meist nur in der bildungstheoretischen und - politischen Dis­kussion auftaucht. Mit Interesse an seiner Verlängerung oder anders gesagt, um ihm mehr Volumen zu geben unternehme ich systemtheoretisch mit Luh­mann einen Exkurs zu Inklusion und Exklusion[5]. Anschließend erläutere ich den „index for inclusion“, ein 2002 in England entstandenes und 2003 auf deutsche Verhältnisse übersetztes Instrument, das es ermöglicht, Inklusion konkret aufSchulebene umzusetzen. Der Vorteil dieser Indices besteht in ih­rer unmittelbaren praktischen Anwendbarkeit direkt vor Ort, unabhängig ad­ministrativer Vorgaben. Nach diesen Einführungen werden ausgewählte reli­gionspädagogische Konzepte, die sich explizit als inklusiv bezeichnen, aber auch ein solches, das aufgrund seiner Struktur inklusiv genutzt werden kann, vorgestellt. Im Fazit werde ich versuchen, die verschiedenen Konzep­te zu bewerten. Dies vor dem Hintergrund einer Interpretation von Inklusion, die nicht nur „Behinderte“ inkludieren will, sondern Inklusion aller Schüler/in­nen unabhängig von Geschlecht, Religion, Kultur, Schichtenzugehörigkeit oder Altersgruppe anstrebt.

3 Geschichte, Bedeutung, Rezeption des Inklusionsbegriffs

Im ersten Schritt möchte ich die, auch im Zusammenhang mit der vorliegen­den Arbeit, näherliegende Sichtweise von Inklusion, die sich im Wesentli­chen auf schulische Bildung bezieht, erläutern. (Inklusion in einer Schule für alle) Dies verbunden mit einer historischen Einordnung in Paradigmenwech­sel. Die Widersprüche, die sich schon in der Umsetzung der Integration zeig­ten, setzen sich in der Diskussion um die Realisierung der Inklusion fort. Dies scheint mir deshalb nötig, um ein besseres Verständnis für die beson­deren Schwierigkeiten des zu skizzierenden Inklusionsbegriffs, der auch ge­samtgesellschaftliche Komponenten enthält und damit über den bildungs­theoretischen und erziehungswissenschaftlichen Diskurs hinausgeht, darzu­stellen. Es wird sich zeigen, dass beide miteinander verwoben sind und der eine nicht vom anderen trennbar ist.

3.1 Fünf Entwicklungsstufen nach Sander

Sander unterscheidet, abgeleitet aus Forschungen der historischen Behin­dertenpädagogik[6], bis zu fünf aufsteigende Entwicklungsstufen der Art und Weise der Beschulung von Kindern mit Behinderungen. Danach wurden bzw. werden im System der Exklusion Kinder mit Behinderung vom Schulbe­such gänzlich ausgeschlossen. In der Stufe der Separation etabliert sich das Parallelsystem der Sonderschulen. Kinder werden in Extra- Einrichtungen beschult. Mit dem Paradigmenwechsel zur Integration wird versucht, Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Allgemeinen Schulen zu integrie­ren. Ein weiterer Paradigmenwechsel zur Inklusion erkennt die in der Inte­gration noch verhaftete Separation. So wird gesehen, dass alle, nicht nur die behinderten Kinder, jeweils besondere pädagogische Bedürfnisse haben. In einer Schule für alle wird das gewollte heterogene Spektrum an Schüler/in­nen im gemeinsamen Unterricht beschult. Dabei wird Heterogenität als Be­reicherung betrachtet. Ein in die Zukunft weisender Paradigmenwechsel, der sich erst etablieren muss, besteht in der Vielfalt als Normalfall. Der Prozess zum Erreichen der Inklusion ist abgeschlossen. Alle Schüler/innen werden in der Allgemeinen Schule beschult. Das Sonderschulsystem ist Geschichte.

3.2 Vorläufer der Inklusion: Integration

Der deutsche Bildungsrat empfiehlt 1973 einen Richtungswechsel der Son­derpädagogik zur Integration[7]. Darin empfiehlt er „...eine Konzeption der weitmöglichen gemeinsamen Unterrichtung und Erziehung Behinderter und Nichtbehinderter und die stärkere Integrierung sonderschulischer Einrichtun­gen in das gesamte Schulsystem"[8]. Weiterhin „...ein flexibles System von Fördermaßnahmen, das einer Aussonderungstendenz der allgemeinen Schule begegnet, gemeinsame soziale Lernprozesse Behinderter und Nicht­behinderter ermöglicht und den individuellen Möglichkeiten und Bedürfnis­sen behinderter Kinder und Jugendlicher entgegenkommt... ,,[9]Nach Exklusion und Segregation bildeten sich daraufhin ab Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts unter der neuen Leitlinie „Inte­gration“ verschiedenste integrative Modelle in Deutschland heraus.[10]Nach Feuser[11]differenzierten sich dabei fünf Umsetzungsformen heraus.

(1) Die Einzelintegration bezieht ausgewählte behinderte Schüler/innen lern­zielgleich in einen Regelschulunterricht mit ein.

(2) Im Modell „Spezial- Förderschule“ werden insbesondere schwerst- (geis­tig-/ mehrfach-) behinderte Schüler/innen, sogenannte Nichtintegrierbare, beschult, häufig wird durch einfache Umbenennung in Förderschule eine Integration suggeriert.

(3) In der Kooperation wird entweder ein kleiner Klassenverband „behinder­ter“ Schüler/innen komplett in einer Regelschule im eigenen Klassen­raum untergebracht; nur in bestimmten Kooperationsstunden in ausge­wählten Fächern kommt es zu gemeinsamen Unterricht mit einer zuge­ordneten Regelschulklasse. Oder die „behinderten“ Schüler/innen erhal­ten mit eigenem Lehrer ständig Unterricht im gemeinsamen Klassenver­band mit Regelschüler/innen, dies jedoch weiterhin nach den Vorgaben des sonderpädagogischen Lehrplans. Beides stellt wieder eine äußere Differenzierung und damit Separation dar, da die zwei Gruppen nur räumlich zusammengeführt wurden. Kooperation gilt als Strategie einer „Außenstelle Regelschule“ des Förderzentrums. Die hier beschriebene Kooperation, oder „Kooperationsprinzip“, im Sinne von „Ausprägungs­form der Integration“ hat nicht zu tun mit dem Begriff Kooperation, wie ihn Feuser im Zusammenhang mit Kooperation am Gemeinsamen Gegen­stand oder Kooperation der Kinder untereinander benutzt.(vgl. Kap.3.3.3)

(4) Das Modell „(Sonderpädagogische) Förderzentrum“ wird hier kurz wegen landesuneinheitlicher Namensgebungen mit Förderzentrum (FZ) be­zeichnet. Die nach der Empfehlung zur Ordnung des Sonderschulwe­sens (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom März 1972)[12]zehn Formen von Sonderschulen werden in Förderschulen/ -zentren umbe­nannt. Die Mehrzahl der Förderschüler werden weiterhin im Förderzen­trum unterrichtet. Ausgewählte Schüler/innen werden in das KOOP- Mo­dell herausgeführt. FZ stellen Förderschullehrer in Form von ambulanten Diensten bereit, die neben ihrer Arbeit in der Förderschule auch auswärti­ge Koop- Klassen unterrichten, bzw. Schüler/innen mit erhöhtem Förder­bedarf in der Regelschule fördern. Ein Vorschlag Wockens, Förderzen­tren als „multiprofessionelle mobile Dienstleistungszentren für integrati­onsunterstützende Arbeit“, also Einrichtungen „ohne Schüler/ innen“ auf­zubauen, wird abgelehnt.[13]

(5) Lediglich das nie in dieser Form realisierte Modell (Voll-) Integration re­präsentiert nach Feuser „...eine reformpädagogisch orientierte Allgemei­ne integrative Pädagogik im Sinne der gemeinsamen Erziehung und des gemeinsamen Unterrichts von nichtbehinderten Kindern und Jugendli­chen aller Arten und Schweregrade der Behinderung nach Maßgabe der Merkmale der Kooperation am gemeinsamen Gegenstand und der inne­ren Differenzierung durch entwicklungslogische Individualisierung eines gemeinsamen Curriculums bei integrierter Therapie und bedarfsweisem Einsatz persönlicher Assistenten. [...] Der Unterricht erfolgt zieldifferent auf der Basis eines gemeinsamen Curriculums fächerübergreifend in Form von (auch klassen- und jahrgangsübergreifenden) Projekten und durch gleichberechtigtes Teamteaching der Pädagogen.“[14]Nach Feuser bleiben mit Ausnahme der nie realisierten Vollintegration alle diese Umsetzungsformen mehr oder weniger dem separierenden und segre- gierenden Erziehungs-, Unterrichts- und Bildungssystem (EBU) verhaftet. Dieses enthält einen schwer zu durchbrechenden Reproduktionszirkel, der sich aus sechs Momenten (kursiv) konstituiert.

Nach der Selektion nach Leistungskriterien werden Schüler/innen einer Se­gregation in verschiedenste Schultypen, auch Sonderschulen zugeführt. Dies führt zur Atomisierung besonders der Gruppe der behinderten Schüler/innen. Diese Atomisierung wird durch die weitere Aufteilung in die zehn Typen von Sonderschule/ Förderzentren vertieft. Diese auf den defekt bezogene Sichtweise betont ihre Andersartigkeit.

In einer Homogenität von Lerngruppen wird versucht, diese einfacherzu leh­ren und zum Lernerfolg zu bringen. Äußere Differenzierung versucht dabei, der Vielfalt an Lernvoraussetzungen gerecht zu werden. Diese bedingt ver­schiedenste (Sonder-) Schultypen und hat Segregation zur Folge. Reduktio- nistisch verengte und parzellierte Bildungsangebote und Lehrpläne zemen­tieren weiterhin äußere Differenzierung mit den entsprechenden Schultypen. Feuser folgend, wird Vollintegration erst möglich, wenn alle diese Momente durchbrochen sind.

„Bleibt in integrativen Ansätzen nur eines der aufgezeigten sechs Momente erhal­ten, das dem funktionalen Kreislauf des sich selbst reproduzierenden segregieren- den Systems entspricht, zwingt es, wie das in der Praxis immer wieder beobacht­bar ist, das ganze System in die alten Pfade.“[15]

Sie alle zu durchbrechen, bedarf eines gesellschaftlichen Umdenkenspro­zesses und einer Umstrukturierung des EBU.

3.3 Bestandaufnahme schulischer und didaktischer Modelle

Um einen Überblick zu geben, skizziere ich im folgenden eine Idee von Schulentwicklung und zwei didaktische Ansätze, die sich zu dieser Zeit be­reits herausgebildet hatten und bis in die Gegenwart fortwirken. Alle drei be­stimmen auch mit ihrem Vokabular die öffentliche Diskussion bis heute.

3.3.1 „Eine Schule für Alle“

Nach Feuser geht der Slogan „Eine Schule für Alle“ auf eine Forderung der Fachgruppe Sonderschule der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) von 1984 zurück. Darin wird diese als eine Schule beschrieben, in der „jeder Schüler ohne Stigmatisierung und Aussonderung seinen individu­ellen Voraussetzungen gemäß optimal gefördert werden kann.“ Ein 1993 durch die GEW unter Autorenschaft von Füssel / Kretschmann herausgege­benes Gutachten mit dem Titel „Gemeinsamer Unterricht für behinderte und nichtbehinderte Kinder „ setzte es sich zur Aufgabe, pädagogische und juris­tische Voraussetzungen zu dessen Realisierung zu klären.[16]

3.3.2 Annedore Prengels „Pädagogik derVielfalt“

Mit der Herausgabe der „Pädagogik der Vielfalt“ nimmt Prengel eingangs grundlegende Begriffsbestimmungen vor. Mit Windelband sagt sie:

„Gleichheit ist ein Verhältnis, worin Verschiedenes zueinander steht.“[17]

Mit Lyotard, einem der Begründer der Philosophie der Differenz, beschreibt sie radikale Pluralität im Sinne absoluter Heterogenität. „Zwischen den hete­rogenen Bereichen, die wie Inseln voneinander getrennt sind, kann es nach Lyotard keine Gemeinsamkeit geben. Es geht vielmehr darum, daß sich die Philosophie zum Anwalt des Heterogenen macht, das nicht einfach da ist, sondern immerzu neu zu entdecken und zu seiner Sprache und zu seinem Recht zuzulassen ist. Dieser Prozeß ist immer unvollendet und wir müssen uns dieser Begrenztheit bewußt sein.“[18]

Mit Honneth unterscheidet sie drei Formen der Anerkennung: die emotionale Achtung (Liebe), die rechtliche Anerkennung sich selbst und anderen gegen­über (gleiche Rechte) und wechselseitige Anerkennung zwischen soziokultu- rell unterschiedlich individuierten Personen (Solidarität bzw. egalitäre Diffe­renz)[19]

Mit diesem Fundament erörtert Prengel in einer analytischen Zusammen­schau drei gegenwärtig (1993) unabhängig voneinander arbeitende pädago­gische Bewegungen, die die Verschiedenheit von Kindern und Jugendlichen auf neue Weise thematisiert haben. „Die Interkulturelle Pädagogik, als päd­agogischer Beitrag zur multikulturellen Gesellschaft, die Feministische Päd­agogik, als pädagogischer Beitrag zur Neugestaltung des Geschlechterver­hältnisses und die Integrative Pädagogik, als pädagogischer Beitrag zur Nichtaussonderung von Menschen mit Behinderungen.“[20]Daraus entwickelt sie 17 Thesen, wie sich Schulbildung mit gleichberechtigtem Zugang für Alle in einer Pädagogik derVielfalt entwickeln kann.[21]

Nach Sander (Vgl. Kap 3.6) erfuhr die Pädagogik der Vielfalt besonders nach der Salamanca- Erklärung 1994 verstärkte Rezeption.

3.3.3 Georg Feusers Modell der entwicklungslogischen Didaktik

Feuser beschreibt den Begriff „entwicklungslogische Didaktik“ als didakti­sches Fundamentum einer „Allgemeinen Pädagogik“, die von ihm Anfang der 1980er Jahre begründet und im „Bremer Modell“ integrativer Elementa­rerziehung, sowie in Primar- und Orientierungsstufe der Sek I durchgeführt wurde[22]. Der Begriff „entwicklungslogisch“ weist dabei auf die Orientierung des individuellen Entwicklungsstandes eines jeden Kindes hin[23]. In Kritik und Abgrenzung zum segregierenden EBU mit seinem aus sechs Momenten be­stehenden Reproduktionszirkel (siehe Kap.3.2) setzt er jedem dieser herr­schenden Momente ein Neues entgegen. (1) Dem atomisierten Menschen­bild eines, das Mensch als integrierte Einheit seiner biologischen, psychi- sehen und sozialen Systeme sieht. (2) Der Sozialform Homogenität die der Heterogenität, (3) dem didaktischen Fundament Selektion das der Koopera­tion, sowie (4) reduzierten/ parzellierten Bildungsinhalten den „gemeinsamen Gegenstand“. Weiterhin (5) der Segregierung durch äußere Differenzierung eine umfassende innere Differenzierung, und (6) dem individuellen, schul­form, bzw. -stufenbezogenen Curriculum eine entwicklungslogisch- biogra­fisch orientierte Individualisierung mithilfe eines gemeinsamen Curriculums. Feusers Entwurf der Allgemeinen Pädagogik wird in Abgrenzung zu im rein sachstrukturellen[24]verhafteten Entwürfen im Feld entwicklungslogischer Di­daktik realisiert. Er stellt dieses Feld in einem dreidimensionalen Modell dar. Die Basis - Dimension „Handlungsstrukturanalyse“ (HS) versteht Lernen als Prozess der Interiorisation. Unter Zuhilfenahme des Schemas der etappen­weisen Ausbildung der geistigen Operationen nach Galperin wird es mög­lich, für jede/ n Schüler/ in „...die Lern-Handlungen [...] in operationalisierter Weise unter Berücksichtigung der didaktisch-medialen und der lernstruktu­rellen bzw. therapeutischen Hilfen zu analysieren und im Unterricht zu unter­stützen.“[25]Dabei wird sowohl die momentane Handlungsfähigkeit als auch der Prozess der Aneignung eines Sachverhaltes für jede/ n Schüler/ in ana­lysiert.[26]

Auf dieser Grundlage wird eine die Objektseite repräsentierende Sach- strukturanalyse vorgenommen; sowie eine die Subjektseite repräsentierende Tätigkeitsstrukturanalyse (TS). Mit Verweis auf Klafkis doppelseitige Er­schließung der Wirklichkeit, die durch Vermittlung zwischen Subjekt- und Objektseite im Fundamentalen und Elementaren geschieht (siehe Kap. 5.1), aber auch auf Piaget, der Lernvorgänge als Erschließung betrachtet, die wechselseitig abläuft, erklärt Feuser die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt durch die „Tätigkeit“ vermittelt[27]. Die TS erfolgt erst nach Feststellung der Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskompetenz (dies kann auch als Zone der aktuellen Entwicklung bezeichnet werden), die in der HS festge­stellt wurde. Die TS untersucht mit Hilfe der Theorie der dominierenden Tä­tigkeit von Leontjew die Tätigkeit, die in der Entwicklung eines Subjekts mo­mentan dominierend ist, wie z.B. auf basaler Ebene die „perzeptive Tätig­keit“ oder das auf höherer Ebene stehende (schulische) Lernen. Mit Vygots- kijs Vorstellung der „Zone der nächsten Entwicklung“ wird ein zweites Mo­ment für die TS konstituierend, es soll die weiteren Entwicklungsmöglichkei­ten jedes Kindes vorhersehen und didaktisch anbahnen.

Die Sachstrukturanalyse enthält, ausgehend von der durch die HS erarbeite­te „momentanen Handlungskompetenz“, eine „Projekt-, Vorhaben-, Inhalts-, Gegenstands-, Sachzusammenhangsbezogene historisch-logische und wis- senschaftsbereichsbezogene Gliederung der Inhaltsseite des Unterrichts im Sinne der "didaktischen Analyse” “[28]Klafkis (siehe Kap. 5.1).

Nach abgeschlossener Analyse und Planung im didaktischen Feld kann Un­terricht durchgeführt werden Dies erfolgt in Kooperation der Schüler/ innen untereinander und am gemeinsamen Gegenstand. Dieser „... ist - wie viel­fach missverstanden - nicht das materiell Faßbare, das letztlich in der Hand des Schülers zum Lerngegenstand wird, sondern der zentrale Prozeß, der hinter den Dingen und beobachtbaren Erscheinungen steht und diese her­vorbringt.“[29]Die im didaktischen Feld zu entwickelnde didaktische Struktur wird an Feusers Baummodell in Abb.1. deutlich.[30]

Der Stamm repräsentiert die äußere thematische Struktur, gespeist von den Wurzeln der Fach- und Humanwissenschaften. Diese eingespeisten Er­kenntnisse tauchen in den Ästen entsprechend der subjektiven Erkenntnis­möglichkeit von Welt auf unterschiedlichsten Entwicklungsniveaus auf. Die Äste stellen die Vielfalt der Handlungsmöglichkeiten dar, in denen sich ein Unterrichtsprojekt ausdrücken kann. Die Entwicklungsniveaus zeigen sich ab Astansatz vom „sinnlich konkreten“ abgestuft bis hin zu den Astspitzen „zu einer abstrakt logisch symbolisierten internen Rekonstruktion, z.B. in Form von Sprache, Schrift, Formeln und Theorien.“ Das Stamminnere stellt den Gemeinsamen Gegenstand dar, der immer einen Prozess meint: Auf-

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Baummodell. Quelle: Feuser 1995: 179.

grund gleicher Bedürfnislage, z.B. einen Garten haben zu wollen, wird ein Gartenprojekt entwickelt, innerhalb dessen sich einzelne Schüler/ innen je nach Motiv und Entwicklungsniveau im Vorhaben unterschiedliche Hand­lungsfelder erschließen können, sie darin also zieldifferent arbeiten können. Um die aus dem Projekt entstehenden Anforderungen umzusetzen, werden auch andere Fächer, z.B. Mathematik, zum Ausmessen des Grundstücks, mit einbezogen.[31]

Der Kern des „gemeinsamen Gegenstands“ leitet sich nach Feuser zum einen aus der doppelseitigen Erschließung von Welt und Mensch im Funda­mentalen und Elementaren her. Eine tätigkeitstheoretische Komponente hebt den sinnstiftenden und Bedeutung herstellenden Aspekt von aneignen­der Tätigkeit heraus.[32]

„Dabei gebietet es sich [...] auf die Kinder einzugehen bzw. diese zu fragen, um die genaue Bedürfnislage der Kinder kennen zu lernen [...] Dabei ergibt sich oft­mals ein uneinheitliches Bild, aber genau darin besteht die Aufgabe der Lehrerin bzw. des Lehrers: Ein Unterrichtsprojekt aufzusetzen, das auf die Bedürfnisse vie­ler Kinder eingeht und das einen Gemeinsamen Gegenstand enthält, welchem sich die Kinder annähern können. Dabei muss nur im Bedürfnis Übereinklang herr­schen, die Motive der Kinder, die dieses Bedürfnis in ihnen erwecken, können durchaus unterschiedlicher Natur sein.“[33]

3.4 Gesetze und Konventionen, die den Paradigmenwechsel einleiten

Ein neues Paradigma, das der Inklusion, wird mit der Erklärung von Sala­manca 1994 („...included in the educational arragements...“) und der UN­Behindertenrechtskonvention von 2006 („... inclusive education system...“) eingeleitet. Beide reihen sich in andere Beschlüsse ein, die ich auszugswei­se wiedergebe.

3.4.1 UN- Kinderrechtskonvention 1989

Schon die UN- Kinderrechtskonvention von 1989, die am 5. April 1992 für Deutschland in Kraft trat, erkennt in Art.23 (3) „Förderung behinderter Kin­der“, die besonderen Bedürfnisse behinderter Kinder an, und fordert, „..Un­terstützung soweit irgend möglich [...] so zu gestalten, dass sichergestellt ist, dass Erziehung, Ausbildung, [...] Vorbereitung auf das Berufsleben [...] dem behinderten Kind tatsächlich in einer Weise zugänglich sind, die der mög­lichst vollständigen sozialen Integration und individuellen Entfaltung des Kin­des einschließlich seiner kulturellen und geistigen Entwicklung förderlich ist.“[34]Bemerkenswert ist hierzum einen die explizite Benennung auch behin­derter Kinder im eigenes angelegten Art. 23, zum anderen, dass im engli­schen Original[35]als Begriff noch „integration“ benutzt wird, welcher in der deutschsprachigen Übersetzung identisch mit „Integration“ übersetzt wird. Bereits wenige Jahre später ändert sich dies.

[...]


[1] BRK Art. 24 Bildung (1)

[2] Ebd. (2) a

[3] „Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekennt­nisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichts­rechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt.“ Vgl. Parlamentarischer Rat (1949) GG Art. 3

[4] Feuser 2011: 86-100.

[5] Luhmann 1995: 237-264.

[6] Sander 2011: S.15 f.

[7] Ebd. 13.

[8] Deutscher Bildungsrat 1973: 23.

[9] Ebd. 24.

[10] Frühauf 2010: 16 f.

[11] Feuser 1995: 194 f.

[12] Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen in der Bundes­republik Deutschland.1994: 19 f.

[13] Feuser 1995: 66.

[14] Ebd.:195,196.

[15] Feuser2011: 90.

[16] Feuser 1995:189,190.

[17] Prengel 2006: 29.

[18] Ebd. 50.

[19] Ebd. 60.

[20] Ebd. 11.

[21] Ebd. 185.

[22] Feuser2011: 86.

[23] Köpfer 2008: 8.

[24] Feuser 1989: 25.

[25] Ders. 1995: 178.

[26] Köpfer 2008: 24.

[27] Feuser 1995: 178.

[28] Ders. 1989: 27.

[29] Ders.1995: 181.

[30] Ebd. 179 f.

[31] Köpfer 2008: 60.

[32] Feuser2011: 95.

[33] Köpfer 2008: 59.

[34] Kinderrechtskonvention Art.23(3)

[35] Convention on the Rights of the Child Art.23(3)

Ende der Leseprobe aus 61 Seiten

Details

Titel
Vom Gemeinsamen Gegenstand und der präsentativen Symbolisierung im Religionsunterricht: Wie kann Religion inklusiv vermittelt werden?
Hochschule
Universität Bremen  (Institut für Religionswissenschaft und Religionspädagogik)
Veranstaltung
Biblische Geschichte - Religionskunde
Note
1,5
Autor
Jahr
2012
Seiten
61
Katalognummer
V198736
ISBN (eBook)
9783656251644
ISBN (Buch)
9783656252818
Dateigröße
1175 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gemeinsamer Gegenstand, Behindertenrechtskonvention, Deutschland, Inklusion, Religionsdidaktik, Elementarisierung, kategoriale Bildung, Susanne Langer, Wolfgang Klafki, Georg Feuser, Heterogenität, konfessioneller Religionsunterricht, präsentative, Symbolisierung, Religionspädagogik, Symbolerziehung
Arbeit zitieren
Volker Pantlen (Autor:in), 2012, Vom Gemeinsamen Gegenstand und der präsentativen Symbolisierung im Religionsunterricht: Wie kann Religion inklusiv vermittelt werden?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/198736

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